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XXI. Kapitel

Allerlei Komplott-Gerüchte / Mary Vetsera wird gesucht / Offizielle Kundgebungen / Vertuschungsversuche / Schlußfolgerungen / Brief an die Gräfin Larisch


Das in der Nähe Wiens gelegene Meyerling war Rudolfs Jagdschloß. Es diente indessen auch anderen Zwecken. Er war dort mit seinen Freunden aus der Künstler- und Gelehrtenwelt zusammen, und es war ihm der Ort für Zech- und andere Freudengesellen. Böse Zungen nannten diese schöne und abgelegene Klause seinen »parc-aux-cerfs« und Gerüchte gingen um von mancherlei romantischen Abenteuern, die sich dort ereigneten. Mochten auch die Gerüchte übertreiben, so war doch sicherlich Rauch und Feuer genug zu bemerken, um Stoff dafür zu bieten.

Auch Stephanie war von dem romantisch gelegenen Jagdschloß entzückt. »Was für ein reizender Ort, um da zu leben!« hatte sie bei ihrem ersten Besuch dort ausgerufen. »Ja, und um da zu sterben«, hatte Rudolf erwidert, in krankhafter Stimmung, aber ohne seinen Worten eine Vorbedeutung beizumessen. Sie waren um diese Zeit noch in den Flitterwochen und die Entfremdung zwischen ihnen hatte noch nicht begonnen. Aber sie kam schnell und ging ihren Weg stetig und ohne Unterbrechung. Rudolf beklagte sich, daß das Liebesfeuer niemals aus Stephanies Augen loderte; aber es scheint nicht, daß er sich lange und ernstlich darum bemühte, es anzufachen. »Aus ihren Augen spricht nichts, als Mißtrauen«, äußerte Rudolf einstmals zu einem Freund. Und die Zeit kam, wo Stephanie ebensowenig von Liebe zu ihm beseelt war, wie er zu ihr. Wo er, aber von größerem Pflichtgefühl durchdrungen, nicht mehr argwöhnte, sondern wußte.

Und Rudolf wußte, daß Stephanie nimmer in Unkenntnis befangen war, daß sie ihn nicht nur beobachtete, sondern ihm auch hinter den Fersen her war, das lehrte ihn die Erfahrung eines Tages. Er war in einem Mietwagen zu Mary Vetsera gefahren. Ohne von ihm bemerkt zu werden, fuhr Stephanie in einem Hofwagen hinter ihm drein, und als er in das Haus der Vetseras eingetreten war, stieg sie zur Heimkehr in den von ihm benützten Wagen, während sie dem Kutscher des kaiserlichen Gefährtes befahl, hier auf den Kronprinzen zu warten. Nach diesem Begebnis konnte sich Rudolf nimmer schmeicheln, daß Stephanie von seinen Seitensprüngen nichts wisse, aber er scheint sich nicht viel daraus gemacht zu haben und sein Verhalten blieb nach wie vor das gleiche.

Es hieß damals, daß er sich von Stephanie scheiden lassen wollte, um Mary Vetsera zu heiraten. Und es gab Leute, welche wissen wollten, daß er die Hand nach dem ungarischen Thron ausstreckte, in dem Glauben, daß die Ungarn ihm zuliebe Mary Vetsera als Königin anzuerkennen bereit wären. Aber unsere einzige Autorität, die aus erster Hand etwas wissen könnte, Gräfin Larisch, weist alles persönliche Wissen darum von sich ab. »Nein,« sagte sie, »ich habe keine Kenntnis aus erster Hand von der Sache, ich wiederhole nur, was ich von Erzherzog Johann Salvator hörte, was Julius Andrassy andeutete, was sich in den Kreisen herumsprach, die in der Lage waren, etwas zu wissen. Die Existenz eines Komplotts, um den Thron von Ungarn zu erringen, war der einzig mögliche Schluß aus alledem.«

Das ist ein sehr indirekter Beweis, und im strengen Sinn des Wortes ist es überhaupt keiner. Aber wir werden noch darauf zurückkommen, wenn Erzherzog Johann Salvator den Schauplatz betritt. Höchst wahrscheinlich war damals doch verschiedentlich die Rede davon und Mary Vetsera hatte sicherlich davon gehört. Es liegt also nichts Absurdes in der Theorie, daß Mary Vetsera nach Meyerling kam mit der gewissen Zuversicht, daß sie es nur verlassen würde, um in Buda als Königin zur Krönung zu erscheinen. Ebensowenig ist es unwahrscheinlich – wie aus den im vorigen Kapitel besprochenen Gründen hervorgeht –, daß ihre Hoffnungen und ihre Neigung davon zu schwatzen, es für Rudolf dringend notwendig machten, mit ihr über die Angelegenheit zu sprechen und ein Schloß vor ihre Zunge zu legen.

Genug, Mary Vetsera kam nach Meyerling und Gräfin Larisch, welche sie in die Hofburg gebracht und dort verloren hatte, mußte ihre Angehörigen von ihrem Verschwinden benachrichtigen und zusehen, wie sie ihnen behilflich sein konnte, Mary wieder aufzufinden. Sie beschreibt einen Familienrat, bei welchem die Baronin Vetsera, ganz in Gemäßheit ihrer Rolle als »Madame Cardinal«, sich vollständig gleichgültig gegenüber dem Abenteuer ihrer Tochter zeigte, während ihr Bruder Alexander Baltazzi wütend war und darauf bestand, daß Gräfin Larisch ihn zu dem Chef der Geheimpolizei begleite. Sie willigte ein; und sie beschreibt auch diese Unterredung: eine höchst merkwürdige Unterredung, in deren Verlauf Alexander Baltazzi entrüstet fragte, ob die Habsburger das Recht hätten, »sich wie gemeine Strauchdiebe aufzuführen«, worauf der Chef der Geheimpolizei entgegnete, daß es nicht zu seinen amtlichen Befugnissen gehöre, sich in des Kronprinzen Liebesgeschichten einzumengen.

Und weiter:

»Vielleicht wissen Sie nicht«, sagte ich, »daß die junge Dame zur Aristokratie gehört?«

»Wie, sie ist kein Bürgermädchen? Aber das ist ja eine ganz andere Sache!« rief der Beamte. »Dann werde ich mal sehen, was ich tun kann.«

Und er gab jetzt die gewünschte Auskunft. »Seine kaiserliche Hoheit ist in Alland« Alland ist ganz in der Nähe von Meyerling., meldete er. Aber die Nachricht kam zu spät. Noch ehe irgendein Schritt unternommen werden konnte, brachte der Telegraph die aufregende Kunde nach Wien: der Kronprinz wäre in Meyerling plötzlich einem Schlaganfall erlegen.

So lautete die erste offizielle Kundgebung; doch sah man alsbald ein, daß diese Version nicht aufrecht zu erhalten sei. Sie wurde einfach nicht geglaubt. Das Volk hätte ihr vielleicht Glauben geschenkt, oder zum mindesten hätte sie sich den Zweifeln gegenüber zu behaupten vermocht, wenn sie Unterstützung durch ein ärztliches Zeugnis gefunden hätte. Aber ein solches Zeugnis war nicht beizubringen. Die Ärzte weigerten sich, ein solches Zeugnis auszustellen und zu unterschreiben. Dann sollten sie wenigstens ärztlich bekunden, daß der Tod infolge Herzschwäche eingetreten sei, da man darin ja letzten Endes die Ursache allen Sterbens erblicken könne. Aber auch dieses weigerten sie sich zu tun, und es mußte ein gewaltsamer Tod zugegeben werden, was denn auch in einer zweiten Fassung des amtlichen Berichtes geschah, welcher besagte, daß Kronprinz Rudolf Selbstmord durch Erschießen begangen habe.

Aber auch damit war die öffentliche Meinung noch nicht zufriedengestellt. Man verlangte die ärztlichen Zeugnisse, und als sie in den Zeitungen erschienen, wurden sie strenger Kritik unterzogen. Es waren da zwei solcher Gutachten, und sie waren einander widersprechend. Nach dem einen Gutachten war die Kugel hinter dem Ohr eingedrungen und hatte den vorderen Teil der Schädeldecke durchbohrt, nach dem anderen Bericht war sie in der linken Schläfe eingedrungen und bei der rechten Schläfe wieder ausgetreten. Die Kritik wies darauf hin, daß sich Rudolf unmöglich selber in die linke Schläfe geschossen haben könne, da er kein Linkshänder war, und daß er sich ebensowenig von hinten habe die Kugel geben können.

Der Schluß lag klar zutage. Wenn Rudolf erschossen war und sich nicht selbst erschossen hatte, so mußte er von jemand anders erschossen worden sein. Das heißt, es handelte sich entweder um einen Unglücksfall oder um einen Mord. Aber bei einem Unglücksfall hätte keine Notwendigkeit vorgelegen, die Tatsache mit Geheimnis zu umhüllen oder behördliche Lügen darüber zu verbreiten. So behielt die Hypothese die Oberhand, daß da ein Mord stattgefunden hatte. Aber wer sollte den Kronprinzen ermordet haben, und aus welchem Grunde konnte dies geschehen sein? Die Theorien, welche am weitesten Verbreitung und Glauben fanden, sind die folgenden:

1. Rudolf wäre bei einem Zechgelage in angerauschtem Zustande von einem seiner Zechkumpane infolge eines Streites getötet worden.

2. Rudolf hätte die Tochter eines Wildhüters mit Liebesanträgen verfolgt, wäre von dem Vater des Mädchens in flagrante delicto ertappt und ohne weiteres erschossen worden. Zu spät hätte sich herausgestellt, wer der Liebhaber war. Um Skandal zu vermeiden, wäre dann der Leichnam des Kronprinzen nach seinem Schlafgemach gebracht worden, und man hätte die Sache so arrangiert, daß es nach einem Selbstmord aussah.

3. Ein Baltazzi hätte von Marys Aufenthalt in Meyerling Kenntnis bekommen und als Ehrenrächer der Familie den Doppelmord begangen.

Keine dieser drei Theorien vermag den Tatsachen standzuhalten, welche seitdem ans Licht gekommen sind. Die ersten beiden können ohne weiteres ad acta gelegt werden, da sie gar nichts enthalten, was Mary Vetseras Tod in der Sache verständlich macht. Die dritte Theorie ist unvereinbar mit nicht in Zweifel zu ziehenden Angaben der Gräfin Larisch.

Daß sie in ihrem Buch die Enthüllung des Rätsels von Meyerling gibt, ist ein übertriebener Anspruch; und ihr Bericht hat einige schwache Stellen, auf die hinzuweisen wichtig ist: Sie war nicht in Meyerling zur Zeit, als die Tragödie sich abspielte, auch war sie nicht zugegen, als die Leichen entdeckt wurden. Alles was sie darüber sagt, hat sie aus zweiter Hand, sie entnimmt es den Berichten des Grafen Georg Stockau und des Hofarztes Dr. Wiederhofer. Aber zwei Dinge, von denen das große Publikum nichts wußte, waren ihr bekannt. Sie wußte:

1. daß die Baltazzis vergeblich versucht hatten, Mary Vetseras Aufenthalt zu erkunden,

2. daß sie nichts von der Tragödie erfahren hatten, bis Alexander Baltazzi und dessen Schwager, Graf Georg Stockau, nach Meyerling beordert wurden, wohin sie in verschlossenem Wagen und unter Begleitung eines Geheimpolizisten fuhren, um Mary Vetseras Leichnam behufs geheimer Bestattung in der Zisterzienser-Abtei Heiligenkreuz dort abzuholen.

»Und«, sagte der Polizist, »Sie sollen den Leichnam so zwischen sich halten, daß es den Anschein erweckt, als lebe die Baronin noch.«

Der Zweck dieses Auftrags war deutlich genug. Die Sache sollte vertuscht und die Wahrheit verheimlicht werden. Mary Vetseras Name sollte nicht in Verbindung mit der Meyerlingaffäre genannt werden. Für die Außenwelt sollte es so eingefädelt werden – und alle Verwandten beteiligten sich an der Irreführung –, daß sie irgendwo auswärts eines natürlichen Todes gestorben sei. Aber dieses Ziel wurde nicht erreicht. Es sickerte durch – wie solches zu geschehen pflegt –, daß Mary Vetsera und der Kronprinz gemeinsam den Tod gefunden hätten. Das nächste, was zu tun war, bestand also darin, die Theorie auf Mord aus der Welt zu schaffen und Beweise herbeizubringen, die den Selbstmord als glaubhaft erscheinen lassen konnten. Und hier ist es nun von großer Wichtigkeit festzustellen, daß Zeugnis gegen Zeugnis steht.

Wie wir gesehen haben, geht aus den ärztlichen Zeugnissen hervor, daß sich Rudolf nicht selbst erschossen hat, sondern daß er erschossen wurde. Aber die sich aufzwingende Schlußfolgerung ist niemals einem Untersuchungsgericht anheimgegeben worden, dagegen wurden unverweilt in der Presse Briefe veröffentlicht, worin sowohl Rudolf als Mary Vetsera ihre Absicht kundzugeben schienen, gemeinsam in den Tod zu gehen. Der erste war ein Brief Rudolfs an den Herzog von Braganza:

»Lieber Freund!

Ich muß sterben. Ehrenhalber kann ich nicht anders. Lebe wohl. Gottes Segen sei mit Dir!«

Rudolf.«

Der andere war ein Brief Marys an ihre Mutter gerichtet:

»Liebe Mutter!

Ich gehe mit Rudolf in den Tod. Wir lieben einander zu sehr. Ich bitte Dich um Verzeihung. Lebe wohl!

Deine unglückliche Mary.«

Niemand hat diese Briefe – oder ähnliche, die in Umlauf gesetzt wurden – für etwas anderes gehalten als plumpe Machenschaften. Aber Gräfin Larisch liefert hier wiederum einen neuen Beitrag zur Erforschung. Drei Wochen nach Mary Vetseras Tod erhielt sie, wie sie schreibt, folgenden Brief, der auf dem Nachttisch in Meyerling gefunden und von der Polizei beschlagnahmt worden war:

Liebe Marie!

Vergib mir all das Leid, das ich über Dich gebracht habe. Ich danke Dir herzlich für alles, was Du an mir getan hast. Wenn das Leben schwer für Dich werden sollte, und ich fürchte, das wird es werden, nach dem, was wir getan haben, so folge uns. Es ist das beste, was Du tun kannst.

Deine Mary.«

Es ist jammerschade, daß Gräfin Larisch diesen Brief nicht in Faksimile veröffentlicht hat, denn solches ist die einzig richtige Art, in welcher solche Dokumente zu Beweis gebracht werden sollen. Wäre dies geschehen, dann hätte die Kritik, bei dem Versuch, den Hergang der Geschichte zu rekonstruieren, dieses Zettelchen Manuskript als einzige authentische Aussage behandeln können. Da dies nicht geschehen ist, so könnte ihr von mancher Seite dieses Recht abgesprochen werden; und so kann diesem Brief nur der gebührende Platz unter anderen Beweisstücken eingeräumt werden. Vielleicht kommt das Endresultat dennoch auf das gleiche heraus. Aber wir werden sehen.

*


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