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Es war noch immer die alte Kirche auf dem weiten, hallenden Platz gegenüber der Schule, über deren ausgetretene Stufen auch ihre Kinderfüße einst auf und nieder getrippelt waren. Daneben der stille, graue Pfarrhof, über dessen Mauern so versonnen die Bäume des alten Gartens rauschten. Ein Stück Wien, wie man es weit, weit in der Vorstadt draußen noch heute trifft, in der uralten und doch so behäbigen Vorstadt, durch deren stille Gassen schon Beethoven und Schubert gewandert und sich noch heute darin zurechtfinden könnten – den »Himmelspfortgrund«, wie die ältesten Bürger sie noch heute gerne nennen, mit dem Namen, in dem die Erinnerung an ein uraltes Kloster zugleich mit einer der schönsten Legenden weiterlebt.
Es war am späten Nachmittag, zwischen vier und fünf Uhr, als Annemarie nach langer Zeit zum ersten Male wieder in das stille Gotteshaus trat. Sie wußte, daß es die Stunde war, in der der alte Pfarrer an jedem Samstag die Beichte hörte, so pünktlich und gewissenhaft Jahr um Jahr, als die alte Turmuhr über ihm die Stunde schlug. Und Tränen traten ihr in die Augen, als sie, mitten aus dem flirrenden Geleucht des Hochsommertages in den kühlen Dämmerfrieden der Kirche tretend, schon von weitem das greise Haupt ihres einstigen Lehrers im Beichtstuhl sah – die Hände andächtig auf dem Brevier gefaltet, in dem er las, demütig und pflichtbereit dem Augenblick entgegenharrend, da eine Seele nach Gott schrie in ihrer Not ...
Reuevoll und bis auf den Grund hatte Annemarie ihr Gewissen erforscht, bevor sie das Haus verlassen. Nun warf sie sich zu einer kurzen Anrufung des Höchsten noch einmal vor einem Altar nieder, bevor sie das Letzte und Höchste tat, was der Glaube ihrer Kirche von ihr forderte.
Dann sank – nein, brach sie förmlich vor dem Beichtstuhl ins Knie.
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Der Priester mußte schon bei den ersten Worten des Confiteor ihre Stimme erkannt haben. Denn eine flüchtige Bewegung zuckte durch seine Gestalt und schien das der Vorschrift der Kirche gemäß halbabgekehrte Haupt noch tiefer herabzudrücken.
Er wußte wohl von der langen Seelsorge her, daß alle, die lange, lange nicht mehr gekommen waren, um dann eines Tages wie vom Sturm Gottes herangepeitscht so vor ihm niederzusinken, unendlich mehr hier abzuladen hatten als jene, die im Gleichmaß gottseliger Übungen dahinlebten; Stunde um Stunde ängstlich bedacht, auch nicht einen Schritt vom Wege zu weichen. Und sein Evangelium lehrte ihn, daß es gerade diese waren, über deren Rückkehr der gute Hirte frohlockte. Vielleicht hatte er sie schon von dem Augenblick verloren gegeben, da er ihre Hand in die des Mannes gelegt, der jedem positiven Glauben so fremd und feindselig gegenüberstand. Oder wußte er schon von dem, was sie erlitten hatte und nun anstrebte?
Annemarie fühlte förmlich, daß ihre eigene Erschütterung sich auch dem Beichtiger mitgeteilt hatte, und zum ersten Male nach langer Zeit empfand sie wieder die jedem gläubigen Herzen so unsäglich tröstliche, ja fast wunderbare Gewißheit, daß der Mensch, zu dem sie da sprach, in diesem Augenblick ganz und restlos nur für sie da war und für ihren Kummer. »An Gottes Statt« sein Geschöpf zu hören.
Schon das war ein Glück; ein so großes Glück nach all dem Schrecklichen, was ihr widerfahren, und dem noch Schrecklicheren, was sie bisher als eigene Schuld stumm und ratlos mit sich herumgetragen, daß ihre gleichsam erlöste Qual sich plötzlich in einem Strom von Tränen entlud, die heiß und brennend über ihr blasses Antlitz rannen und ihrem Herzen doch so unendlich wohltaten wie nichts, was die Menschen und sie selbst bisher zu ihrem Trost versucht hatten.
»Ich weiß nicht, ob es Euer Hochwürden schon bekannt ist, daß ich meinen Mann verlassen mußte?« hauchte sie nun in das Ohr des Priesters hinein. Und von einer fast kindischen Angst ergriffen, daß der ehrwürdige Greis auch nur einen Augenblick über ihre Gründe im unklaren sein könne, stammelte sie hastig: »Nicht – nicht weil ich der schuldige Teil bin, bitte.«
»Ich weiß schon einiges, amtlich,« nickte der Priester beruhigend. »Und hätte mir das auch nur schwer denken können von Ihnen. Sie waren ja immer ein so gutes und reines Kind. Und müssen diesen Mann wohl sehr – sehr geliebt haben, um vergessen zu können, daß er ein ausgesprochener Gottesleugner war! Aber bitte« – und sein Haupt neigte sich wieder ihren Lippen entgegen. »Entlasten Sie nur weiter Ihr Herz, der Heiland hat für jeden einen Trost, der in Reue und Selbsterkenntnis sich ganz zu ihm zurückfindet!«
›Jetzt – jetzt!‹ dachte Annemarie. Doch es war nicht mehr die Angst vor dem Bekenntnis, nur das Bangen vor dem Urteil Gottes über ihre Tat, das sie nun hören würde. Der oberste Richter aller Menschenwerke, auch derer, die sich vor dem Antlitz der Welt verbergen konnten, oder gerade noch entschuldbar waren – er selbst würde nun zu ihr sprechen, durch seines Priesters Mund. Er selbst!
Und sie erschauerte ...
Da tönte die Orgel, die den Nachmittagsgottesdienst begleitet, plötzlich laut in ihr Verstummen hinein. Das tiefe Schweigen um sie schien mit einemmal eine einzige Stimme zu werden, die auch wie ein großes Bekennen, eine gleichsam himmelstürmende Reue war, eine einzige Abbitte vor dem Reinsten und Heiligsten –
Daß auch sie das Wort fand.
»Dessenungeachtet muß ich mich vor Gott und Euer Hochwürden einer viel größeren Sünde anklagen, als es jene ist, die mir das Recht gab, meinen Gatten zu verlassen,« bekannte Annemarie mit langsam fester werdender Stimme. Mit einem Male nur mehr darauf bedacht, auch nicht das geringste zu vergessen, was ihr die Seele belastete; mit keinem Wort die eigene Schuld zu beschönigen, sich ganz und voll in tiefster Demut und Reue Gott zu Füßen zu werfen – –
Bis sie nichts mehr zu sagen hatte ...
Der Priester saß noch immer mit abgewandtem Antlitz da, wie es die Kirche gebot, regungslos, die Hände vor der Brust gefaltet. Und in das tiefe Schweigen, das einen Augenblick zwischen ihm und ihr hing, klang nun doppelt laut das Gebet der Gemeinde hinein, das unterdes den Gesang abgelöst hatte.
Das Vaterunser!
»Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben –«
Da nickte auch der Priester – leise, bewegt:
»Achten Sie wohl auf das, was Gott selbst in diesem Augenblick mit der Stimme der Gläubigen in Ihre Reue hineinruft: ›Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.‹ Was Sie ihm da soeben gestanden haben, aus tiefster Reue heraus und mit dem ernstlichen Vorsatz, es nach Kräften zu sühnen, – das ist eine jener Handlungen, die wir anderen Menschen vollkommen verstehen und entschuldigen. Ihr Herz war zerrissen von der Angst um den Verlust des Gatten – da vergißt sich einen Augenblick auch die Mutterpflicht. Das würde jeder Mensch begreifen und entschuldigen. Sogar der Paragraph des weltlichen Gerichtes, unter den Ihre Schuld fällt – ›die Versäumnis der pflichtgemäßen Obhut‹ – würde in Ihrem Falle hinfällig, weil Sie wie sinnesverwirrt waren von der Übermacht der Zweifel und Eifersucht, die alles andere für Ihr Besinnen zurückdrängten. ›Dämmerzustände‹ nennt die forensische Seelenkunde eine solche Verfassung und würde auch Ihren Fall darunter subsumieren. Sie für mehr als entsühnt erachten durch den Verlust, der als Folge dieses Versäumnisses doppelt wuchtig Ihre Seele treffen muß. Das wäre die Welt und ihr Urteil, vor dem Sie bestehen könnten. Wir gläubigen Christen aber wissen, daß Gott anders urteilt. Daß für unser Pflichtgefühl nie und nimmer eine solche ›Dämmerung‹ hereinbrechen darf. Daß wir bei allem Leid und jeder Sorge nie vergessen dürfen, daß wir fortwährend im Angesichte Gottes stehen – mit aller Verantwortung mehr an sein Gericht gebunden als an jenes der Menschen. Und vor seinem Gericht hat Ihr Versäumnis nun allerdings ein anderes Antlitz, darum weise ich auch Ihre Sühne nur an dieses Gericht. Und er selbst hat es zuvor mitten in Ihr Bekenntnis hineingesprochen: ›Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ...‹«
Er faltete die Hände noch inniger, schloß die Augen, lehnte sich zurück ...
Wie schön dieses Greisenantlitz war in seinem tiefen, unbewegten Gottesfrieden! Sie dachte es ganz unwillkürlich. Aber wenn sie ihn recht verstanden hatte –?!
»Ich kann nicht mehr zurück, Hochwürden!« stammelte sie unter einem neuen Strom von Tränen »Ich kann nicht!«
Der Priester lächelte – leise, fein. So fein, als hätte er nicht nur diesen Widerstand vorausgesehen, sondern auch die Ohnmacht, in der er einmal zusammenbrechen würde. Und er schüttelte leicht das Haupt:
»Das hab' ich Ihnen auch nicht zugemutet! Wenn ich Ihnen aber die Lossprechung geben soll und Sie vollkommen entsühnt entlassen, dann müssen Sie Ihrem Gemahl nicht nur vor Gott verzeihen, sondern ihm auch in Demut und Reue ihre eigene Schuld gestehen, wie Sie ihn seiner Schuld wegen vor das Gericht der Welt fordern. Das Kind war auch sein. Auch er hat es verloren durch Ihre Schuld. Und wenn er jener Unseligen auch versprochen hat, es um ihrer Liebe willen hinzugeben, wie sie sagten, so hat auch er nur in der Verblendung der Leidenschaft so gehandelt. Darum dürfen Sie ihn nicht für etwas bestrafen lassen, wofür Sie selbst keine Sühne geleistet haben oder leisten wollen. Verstehen Sie mich?«
»Mein Gott – ja!« hauchte Annemarie gebrochen. »Aber wie – wo – wann soll ich ihm das sagen? Oder vielleicht in – in einem Brief?«
»Hätt' ich Ihr Schuldbekenntnis brieflich angekommen?« klang es streng zurück. »Haben Sie ihm brieflich seine Schuld vorgehalten? Sie wollen ihn vor die Richter stellen! Vor Gottes Thron aber gilt für alle das gleiche Gesetz.«
»Ich habe – habe in den nächsten Tagen den ersten Versöhnungsversuch,« stammelte Annemarie. »Vielleicht dort –?«
Wieder lächelte der Priester – leise, wissend:
»Gott selbst wird Ihnen den Weg zeigen ... Und vielleicht will er noch mehr damit!«
Annemarie sah ihn an –
»Daß Sie selbst der Stein seien, der mit seiner erdbelasteten Schwere gegen den anderen schlägt, damit ihm in letzter Stunde noch vielleicht ein letzter, göttlicher Funke entspringe!«
›Wie wohl mir ist!‹ dachte Annemarie, als sie auf die Straße hinaustrat. ›Wie leicht!‹
Und daß sie wieder den Menschen ins Antlitz schauen durfte! All den Müttern, die ihr entgegenkamen, die geputzten Kleinen an zärtlich-führender Hand ...
Nur –
Ob es Gott wirklich so gewollt hatte, als er in derselben Stunde, die ihr des Gatten Schuld enthüllt, sie selbst mit einer kaum geringeren an ihn gebunden hatte – noch einmal? Daß nun auch sie wie mit gefalteten Händen vor ihn hintreten mußte: »Vergib!«
Wer Gottes Wege zu Ende sehen könnte!
Und da war noch ein recht schwerer – der zu Onkel Paul ...
›Zu spät komm' ich auch noch,‹ besann sich Annemarie mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr in ihrem Armband. Und der alte Herr hatte die Pünktlichkeit aller Juristen. Nahm in seiner Weise auch jedes Versäumnis übel.
Sie beflügelte ihren Schritt, um zu einem Wagen zu gelangen – –
*
»Na, da bist du ja endlich,« sagte Onkel Paul, mit einem prüfenden Blick über ihr Antlitz. Er hatte soeben ein »Präludium« Bachs gespielt, den er seiner »Präzision« wegen allen anderen Komponisten vorzog. Bis in den Vorsaal hinaus waren die feierlich ernsten Klänge zu Annemarie gedrungen. Und auch auf dem Antlitz des alten Herrn schien noch etwas von ihrer Weihe zu liegen. Nun erhob er sich vom Flügel, führte sie an einen Stuhl vor seinem breit ausladenden Schreibtisch:
»Setz' dich, mein Kind! Die Sache hat nämlich unterdes eine –«, er stockte, sah sie aufs neue prüfend an – »eine recht fatale Eile bekommen.«
»Wieso?« fragte Annemarie.
Er beugte das Haupt auf ein Aktenbündel, das vor ihm lag, faltete etwas umständlich einen Brief des Advokaten auseinander, dem eine andere Beilage entfiel, auf der Annemarie die Schriftzüge ihres Gatten erkannte.
Onkel Paul rückte an seiner Brille, sah wieder empor:
»Dein Mann mußte nämlich ansuchen, daß der – hm ... der erste Versöhnungstermin eine Notbefristung erfahre –«
»Mußte?« fragte Annemarie betroffen.
Und nun sah Onkel Paul sie voll an, fast durchdringend:
»Weil er nämlich schon Dienstag auf den Kriegsschauplatz muß.«
Annemarie griff wie schwindelnd um sich.
»Er ist – einberufen?«
»Du weißt ja, daß er gedient hat.«
»So – rasch!« entfuhr es ihren Lippen.
Onkel Paul zog, noch immer den Blick auf ihr Antlitz geheftet, langsam die Schultern empor. »Daran werden wir uns künftig noch mehr gewöhnen müssen. Und wer weiß, ob dieses ganze Verfahren angesichts dieser Eile noch einen Sinn hat? Jetzt–,« seine Stimme sank – »wo Tod und Leben nur mehr eine Welle sein werden! Aber du bist bleich geworden, Annemarie?«
»Entsetz–lich!« klang es ihm tonlos entgegen. »Und nun – nun auch noch das! Es ist ein bißchen viel, Onkel. Und wenn ich es ihm ersparen könnte ... ich meine, wenn es sich doch irgendwie hinausschieben ließe?«
Onkel Paul lachte. Kurz, trocken. Das typische Lachen seines Berufes. »Ein Termin? Man sieht, daß du noch keinen Prozeß geführt hast, Annemarie! Im Gegenteil, der eine Versöhnungsversuch wird nun wohl für alle drei gelten. Das liegt nicht nur in der Eile des Ausnahmezustandes, die nun alles beflügeln wird, sondern auch in der« – er sah sie wieder an, gleichsam wartend – »in der Tragik dieses Augenblickes, möcht ich sagen. Denn wenn du selbst angesichts dieser Situation unversöhnlich bleibst, wo dir in den nächsten Tagen vielleicht schon die nächstbeste Kugel den ganzen Prozeß ersparen und die volle Freiheit geben kann? ... Na, dann muß es dir doch wirklich ernst sein mit der Absicht, loszukommen.«
»Und – er?« hauchte Annemarie mehr als sie sprach. Und ihr Blick verriet, daß ihre ganze Seele nur mehr diese eine Frage war ...
»Ja so!« hüstelte der alte Jurist mit einem versteckten Seitenblick. Und während er das silberne Papiermesser zur Seite warf, mit dem er bisher scheinbar angelegentlich gespielt, und aufs neue nach dem Brief Wilhelms griff, sprach er: »Du willst, wenn ich dich recht verstehe, über die Gemütsverfassung des Beklagten orientiert sein? Nun –,« Onkel Paul hüstelte aufs neue ... »nach allem, was sein Vertreter dem deinen mitteilt und ich selbst zufällig heute von dem Verteidiger des Ehebandes erfahren habe, hegt er die feste Überzeugung, daß du dich erbitten lassen wirst, und besteht für sein Teil auf diesem Versuch. Obwohl du dich bisher geweigert hast, seine Briefe anzunehmen, und auch diese letzte Zusammenkunft – vorausgesetzt, daß du deine Klage aufrechthältst, eine, hm – eine recht empfindliche Demütigung für den berühmten Mann werden dürfte!«
Die Hände qualvoll ineinander verkrampft, den Blick noch immer ins Leere gerichtet, saß Annemarie regungslos da.
»Ich wollte dich also auf jeden Fall vorbereiten,« sprach Onkel Paul. »Und die betreffende Vorladung dürfte ja auch schon auf dich warten, wenn du heute heimkommst.«
Annemarie schwieg noch immer. Nur ihre blassen Finger begannen leise zu zucken. Die noch vom Weinen geröteten Lider senkten sich immer schwerer und müder über die brennenden Augen ...
»Diese Versöhnungsversuche pflegen nämlich zuweilen in einer Rührung unterzugehen, die durchaus nicht echt ist,« sprach der alte Jurist gleichsam sondierend weiter. »Und meist sogar nichts anderes als eine Überrumpelung des schwächern Teiles. Wobei dem Beklagten in Eurem Fall auch noch das Faktum der Einberufung zustatten kommt. Weshalb ich dir raten möchte, wenigstens nach dieser Seite so viel wie möglich mit dir selbst ins reine zu kommen. Denn so ernst, ja tragisch auch für jeden, der jetzt da hineinmuß, schon die nächsten Tage werden können ... wenn dein Herz dir sagt, daß du ihn schon jetzt ganz und für immer verloren hast, dann darf die selbst sichere Möglichkeit seines Todes dich absolut nicht in deinem Vorsatz beirren. Denn was man nicht mehr besitzt, kann man auch nicht mehr verlieren.«
Er machte eine Bewegung, um wieder nach dem Papiermesser zu greifen, das dem alten Junggesellen in den vielen einsamen Stunden der Arbeit und des Nachsinnens wohl ein unentbehrliches Spielzeug geworden war. Doch ein neuer Blick in Annemaries Antlitz lenkte ihn ab.
»Du bist aber so bleich, mein Kind, so bleich,« rief er besorgt. »Oder ist es nur die Hitze? Ich werde dir ein Glas Wasser bringen lassen oder sonst eine Erfrischung –«
»Nicht, nicht,« bat Annemarie. »Nur jetzt kein fremdes Gesicht, ich bitte dich! Und –«, sie erhob sich – »glaube ja nicht, daß es die Möglichkeit seines Todes ist, die mich jetzt so ergreift oder – oder dann schwach werden ließe. Dazu hab' ich mir in all diesen Tagen zu oft gesagt, daß selbst sein Tod für mich und ihn besser gewesen wäre als ein Leben mit diesen Erinnerungen. Ich frage mich nur, wie es kommt, daß ihm – gerade ihm jetzt so gar nichts mehr an der Freiheit zu liegen scheint, die er nun haben könnte? Es – es muß also wohl zu Ende sein mit ihm und – und der anderen?«
Und ihre Augen, groß und erwartungsvoll geöffnet, flüchteten wie die eines Kindes zu dem Mann, der so oft schon in den Abgrund des Lebens hinabgesehen hatte, an dem sie selbst zum ersten Male stand.
»Und was würdest du dir davon erhoffen?« fragte Onkel Paul stirnrunzelnd.
Sie atmete tief und schwer auf. »Für mich ist wohl alles zu Ende, Onkel. Aber er! Wenn er vielleicht noch zurückfinden könnte –«
Der alte Jurist hatte nun doch sein Papiermesser erwischt. Und während er mit der flachen Klinge langsam und taktmäßig auf seinen breiten Daumennagel schlug, sprach er trocken: »Ich glaube dir schon einmal gesagt zu haben, daß ich die Mehrzahl meines Geschlechtes für Kanaillen halte. Und den wenigsten die sittliche Kraft zutraue, einmal auf dieser Bahn, wieder in die rechten Gleise zurückzufinden. Unsere Zeit hat zu viele Schlagworte nach dieser Seite ausgegeben, zu viele sittliche Werte zerstört. Wer einmal in der festen Überzeugung lebt, daß mit diesem Dasein alles zu Ende ist und er nicht nur keinen freien Willen hat, sondern auch keinen anderen Richter als sich selbst in diesen Angelegenheiten, dem wird es schwerlich gelingen, das frei gewordene Tier in sich wieder an die Kette zu legen. Dazu kommt die Suggestion des ich-süchtigsten Zeitalters. Wer glaubt heute keine Persönlichkeit zu sein? Nicht das Recht zu haben, diese Persönlichkeit ganz auszuleben? Und wenn dein Mann dir das nicht in irgendeinem Privatissimum schon gesagt hat, war er ohnedies noch rücksichtsvoll. Du siehst mich an? – Nun ...,« und der alte Herr lächelte – »ein Präjudiz soll ja damit noch nicht geschaffen sein. Aber glaub' nur ja nicht, daß ich dies alles bloß aus meiner eherechtlichen Praxis heraus deduziert habe. Ich selbst« – eine feine Röte stieg in die blassen Schläfen Onkel Pauls – »ich selbst habe mich ja auch einmal zu dieser – dieser, hm ... dieser ›Umwertung aller Werte‹ verleiten lassen ... danach zu leben versucht. – Bis es mir denn doch eines Tages klar wurde, daß ich dabei schön langsam in eine Gesellschaft geriete, die selbst meinem ›Bauchredner‹ zu schlecht wäre. Na, lassen wir's –,« und er warf sein Papiermesser auf den Schreibtisch zurück – »Aber wenn es jetzt bei mir da so einsam ist und so – so tödlich und herzbeklemmend still zuweilen –« Er verstummte, erhob sich und trat ans Fenster ...
Im Innersten erschüttert eilte Annemarie dem alten Sonderling nach. Und während sie seine Hand ergriff, sprach sie leise:
»Ich danke dir, Onkel Paul! Das – war jetzt groß von dir! Und wenn ich es vielleicht doch einmal bereuen sollte, trotz alledem anders gehandelt zu haben – müßt' ich immer zugleich voll Rührung und Dankbarkeit auch dieser Stunde gedenken. Denn mehr kann man nicht tun, als du getan hast, um mich zu – zu warnen. Nur –«, und zum ersten Male trat ein ganz leises Lächeln auch in ihre Züge – »nur hast du gerade damit das Gegenteil von dem erreicht, was du wolltest –«
Das scharf profilierte Antlitz des alten Herrn, das, schon von der Dämmerung umwoben, blaß und kantig im letzten Licht stand, fuhr wie fragend herum.
»Ja, Onkel Paul,« lächelte Annemarie still und unbeirrt weiter. »Denn nun sag' ich mir: Und wenn er einmal zu dem gleichen Ende käme? Vielleicht jetzt schon nah daran ist? Da soll er nicht auch so allein stehen mit – mit seiner Reue, Onkel Paul. Und wissen, daß auch ich etwas zu bereuen habe.« Es war zuerst ganz still, ganz still um die beiden. Dann begannen ein paar Fältchen in dem alten Antlitz zu zucken – erst um die Lippen, nun um die Augen – immer stärker und verräterischer –
Mit einem leisen Kuß beugte Annemarie sich über seine Hand. Schon schritt sie der Tür zu.
»Annemarie!« scholl es laut hinter ihr her.
»Onkel?«
»Tu also, was du mußt!« nickte er ernst. »Ihr Frauen seid der bessere Teil. Ich hab' es immer gewußt ...«
Dann kam noch eine ganz leise, eine unsäglich rührende Bewegung seiner Hand, die sagte, was ein Mann nicht mehr bekennen konnte.
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»Ich werde ihm also vergeben,« sprach sich Annemarie wie in einem Traum vor, als sie wieder auf der Straße stand. »Ihm, der dem Tod entgegengeht! Ihm vergeben, damit er mir vergebe und Gott uns beiden ...«
Wie natürlich ihr das mit einemmal erschien, wie selbstverständlich und doch auch zugleich göttlich-erhaben.
›O heiliger Christusfriede!‹ dachte sie, wie von einem Unsagbaren angeschauert.
Und da draußen lief eine Welt, die nichts mehr wissen wollte von ihm! –
Und wieder schien ihr, als wehe eine himmlische Balsamkühle über sie hin. Es war wohl nur der Abend, der mit seinem frischen Atem nun auch den schwülen Großstadtbrodem zu durchsetzen begann.
Sonst? Und sie starrte wie erwachend um sich: wie einfach und doch zugleich schreckhaft war dieses Leben mit einem Male wieder geworden! So auf die letzten Maße zurückgekommen in allem und für jeden. Diese Maschine, nein, dieses Kunstwerk, an dem Generationen gebaut und verbessert und herumgetüftelt hatten. Ein Werk, so kompliziert und doch so tadellos funktionierend, daß es keinem auch nur einen Augenblick eingefallen wäre, daran zu denken, ob sein Haus morgen noch aufrechtstehen, sein Geld noch den vollen Wert haben und das Korn, das draußen soeben unter der Sichel fiel, auslangen werde, einem ganzen Volke auch wirklich das Brot zu sichern?
»Schräubchen um Schräubchen war nun das Meisterstück auseinandergefallen, und jeden Tag versagte ein anderer Hebel. Gerade noch, daß die letzten Nieten zusammenhielten.
Und die großen, heiligen Einfachheiten, die in Gottes Hand ruhten, da waren sie wieder, nackt und bloß, wie am Anfang der Tage: das Leben, das Schicksal und der Tod! Die weite Welt aber plötzlich so klein geworden, daß jede neue Kriegserklärung der Angst und der Freiheit ein Stück Land mehr gleichsam unter den Füßen wegzog. Und die ganze Erde nur noch der bebende Schauplatz eines unerhörten Weltgerichtes schien.
Wohl denen, die jetzt reinen Herzens sind! dachte Annemarie. Oder sich wieder zu ihrem Gott zurückfanden, wie sie. Mit kindlich gefalteten Händen vor dem großen Geschehen standen, in Andacht und schlichter Demut empfingen und hinnahmen, was kein Wissen jemals ganz ergründen, keine Voraussicht berechnen und ausklügeln, kein Wille bezwingen konnte: das Leben, das Schicksal und den Tod! Die aber in diesem Glauben nach dem Schwert griffen und die Fahnen vorantrugen – sie waren des Volkes wahre Führer! All die Hunderttausende, die in den weiten Gemarkungen Österreichs und Deutschlands dem Ruf der beiden Kaiser folgten, die zuerst in Demut und Andacht die Hände gefaltet und zu Gott erhoben hatten. Sie, die über die rücksichtslose Selbstsucht einer dünkelhaften Zeit wieder das göttliche Banner der Ehrfurcht und Liebe hinwegtrugen. Einer für alle und alle für dieses große, einzige Heiligtum, das alles in sich barg, was sie liebten: die Heimat!
Und – er? Der auch nur mehr zwei Tage Zeit hatte, sich zu besinnen? Vielleicht in einem ahnenden Erschauern vor dem Tod, der nun für alle bereit stand, nach ihr die Hände streckte – zum letzten Male vielleicht? »Vergib!«
Zwei Tage noch ...
Sollte sie ihn wirklich so lange warten lassen?
Wie hatte der Priester zu ihr gesagt?
»Seien Sie selbst nun der Stein, der durch seine erdbelastete Schwere gegen den anderen schlägt, damit ihm, in letzter Stunde noch vielleicht, ein letzter, göttlicher Funke entspringt ... Gott selbst wird Ihnen den Weg zeigen.«
Er hatte ihn ihr gezeigt! Führte sie nun selbst weiter: mit ihren Gedanken, ihrem Willen, ihrer plötzlich in einem einzigen Verstehen und Mitleid aufflammenden Liebe.
Und was sie nicht für möglich gehalten, bevor sie gehört, daß die große Zeit nun auch den, der sie betrogen, für eine große Tat und vielleicht für den Tod fordere – es stand nun plötzlich so klar und bestimmt vor ihr, daß sie nichts anderes mehr sah und fühlte:
Zu ihm – jetzt gleich! Ihm zu vergeben, ihm zu gestehen – mit ihm zu sein in dieser Not!
Gottes Weg war der ihre geworden.
*
Es war fast dunkel, als der Wagen, den Annemarie genommen, um in den stillen Vorort hinauszufahren, die letzten Straßen der Stadt durchflog. Schon flammten da und dort in magischem Glanz die Schauläden auf. Die Blumenverkäuferinnen hielten wie sonst ihre duftenden Lasten feil. Die Reihe der Wagen und Autos schien kein Ende zu nehmen. Auf den Bürgersteigen zogen wie sonst die Menschen heim – schöne Mädchen, geputzte Frauen. Aber kein Lächeln war mehr auf ihren Lippen, schreckhaft groß alle Augen geöffnet und alle von diesem einen, schaudernden Blick ins Ungewisse: Wem wird uns der nächste Tag von der Seite reißen? Wann fährt der Blitz auch in unseren Frieden? Mütter, Töchter, Bräute waren es, Wiens Frauen, seine Anmut selbst. Aber sie lächelten nicht mehr. Auch nicht eine!
Es war das Wien von gestern und doch schon ein ganz anderes Wien ...
Vor den Kaffeehäusern saßen die Menschen wie sonst. Aber jeder stumm und gleichsam erstarrt über irgendeine Zeitung gebeugt. Und da klang es ja auch schon wieder aus irgendeiner Straße hervor:
»Extra – Ausgabe–ee!«
Und die Leute stürzten förmlich dem Rufer entgegen, fielen über ihn her, hielten die flatternden Blätter in den Lichtschein der nächsten Laterne oder Lampe, riefen den anderen zu, was aufs neue die Welt erschütterte. Lasen es selbst noch einmal – verstummten.
In einer solchen Straße und in dem plötzlichen Atemanhalten dieser Erwartung war es, daß Annemarie eine von der Wucht all dieses Geschehens förmlich erdrückte Stimme wie vernichtet sagen hörte:
»Das ist nun schon die zehnte Kriegserklärung ... an einem Tag!«
Als hätte die heimlich erschauernde Seele der Menschheit es selbst vor sich hingesprochen – erschauernd vor all dem Blut, vor all dem Leid, das nun über die Kreatur kam ...
Plötzlich ein lautes, vielhufiges Getrappel. Der Boden erdröhnt – Autos und Wagen biegen rechts und links ab – erschrockene Kinder laufen laut kreischend über die Straße –
Requirierte Pferde!
Koppelweise führen sie die reitenden Soldaten mit sich. Schöne, große, wohlgenährte Tiere, die mit erschrockenen Augen wild fragend um sich schauen; mit einem letzten Blick noch einmal nach dem Stall suchen, in dem es ihnen bis heute wohl gewesen. Sie können nicht sprechen – sich nicht wehren, das Schicksal, das die ganze Welt in einen Wirbel hineingezogen, hatte plötzlich auch in den stummen Frieden der Tiere hineingegriffen – reißt sie mit sich, dem Menschen nach, dem sie dienen, dem Tod entgegen, der sie mit ihm erwartet – irgendeinem fürchterlichen Geschehen, von dem ihre sanften, frommen Augen noch keine Ahnung haben.
Da ist eines, das sich auch jetzt nicht dem fremden Willen unterwerfen, der noch unbekannten Hand fügen will. Es wirft laut wiehernd den Kopf herum und trägt den Husaren, der es reitet, unter das Tor zurück, in dem noch sein Herr steht – ein rüstiger Metzger, dem die Rührung sonst gerade nicht das Herz weich macht. Nun aber wischt er sich mit dem Handrücken rasch die Augen trocken:
»Geh' nur wieder, Hansl, geh' ...«
Und sein Blick ist so verstört wie der des Tieres.
Selbst der Husar ist weich geworden, tätschelt den Hals des Pferdes, klopft seine Flanke:
»Na, – vorwärts, Kamerad!«
Zu Kampf und Tod vereint, der Mensch und das Tier! Dasselbe Schicksal für beide.
Wie schlicht und groß das Leben mit einemmal für alle geworden ist, denkt die schwarzgekleidete Frau in dem Wagen und faltet unwillkürlich die Hände ...
*
Am Ende des alten Gartens ließ Annemarie halten. Nur wenige Schritte von der Stelle, an der sie den Gatten belauscht hatte. Der Kutscher bekam den Befehl, sie zu erwarten. Langsam und in wehmütiger Andacht nahm sie den Weg, über den das Schicksal für drei Menschen einhergekommen war.
Noch gestern wär' es ihr unmöglich erschienen, jemals in ihrem Leben wieder diese Straße zu gehen; auch nur mit ihrem Kleid den Boden zu streifen, der ihr Glück erblühen und so jäh versinken gesehen ... noch einmal vorüberzukommen an dem verlorenen Paradies, aus dem eine zitternde Kinderstimme so bang und vorwurfsvoll nach ihr weinte ...
Nun geschah es doch.
Und es war Gottes Weg, den sie da ging: seine Kraft, die sie stärkte, daß sie ihn gehen konnte. Sein Gericht, das sie führte.
Die Zweige der uralten Bäume nickten leis auf sie nieder. In den Büschen wispelte die Nacht. Der scheue Duft der Violen, die auf dem großen Beet vor der Terrasse blühten, stahl sich mit dem Abendwind an sie heran und kämpfte ihr aufs neue das Herz zusammen. Daß Annemarie wieder die Augen ihres Kindchens zu sehen meinte, die auch so violenblau gewesen. Und jenen letzten, furchtbar ernsten, gleichsam wissenden Blick:
›Gott hat mich in eure Arme gelegt – und ihr ließet mich fallen!‹
Meine Schuld – meine eigene Schuld!
Wie ein Schwert fuhr das wieder durch ihre Seele, zwang sie, das Haupt zu neigen, in Demut und Reue, daß sie bis ins Innerste fühlte: ›Ich komm' nicht nur zu vergeben; auch abzubitten komm' ich. Und schuldbelastet, wie er.‹
Ob er daheim war? Und wie es nun wohl aussah in dem stillen Haus, das einmal ihr Daheim gewesen? In dem sie einen Mann über alles geliebt, einem Kinde das Leben geschenkt und es wieder verloren hatte?
So leicht hatte sie sich's in der ersten, jäh aufflammenden Empörung gedacht, dies alles zu verlassen, zu vergessen, es eines Tages vielleicht von sich zu weisen, als wär' es niemals gewesen.
Nun stand es wieder vor ihr. Diese eine, einzige Wirklichkeit! Groß, unabweisbar, unverrückbar. Nicht mehr und nicht weniger als ihr eigenes Leben ...
Annemarie wußte, daß Bubis Mädchen gleich nach ihr das Haus verlassen hatte. Die Treue hatte es ihr selbst geschrieben. Ohne einen näheren Grund anzugeben. Vielleicht aus der bloßen Empfindung heraus, daß ihres Bleibens nicht länger in einem Hause sei, dessen Herrin vom Grab des Kindes weg den Gatten verlassen.
Sonst wußte Annemarie nichts mehr von dem Haus, in das sie nun trat, und das doch einmal auch das ihre gewesen war. Nicht einmal, wer ihr die Türe öffnen würde, wußte sie nun ...
*
Das Gartenpförtchen war nur angelehnt, als Annemarie läuten wollte. Vielleicht hatte die neue Magd für einen Augenblick das Haus verlassen – oder er selbst war noch im Garten.
Leis und wie angeschauert stieß Annemarie das Türchen auf und trat ein.
Alles still ...
Nur der Springquell, der in dem kleinen Birkenrondell seinen schimmernden Strahl steigen ließ, plätscherte hörbar durch das tiefe Schweigen. Der Rasen mußte frisch geschnitten worden sein. Denn der süßlich-herbe Duft gemähten Grases schien die Luft noch schwüler zu machen. Die Schwalben, die ihr Nest unter dem Windfang hatten, piepsten wie träumend in die Nacht hinein.
Kein Laut sonst. Und alle Fenster dunkel.
Langsam und beklommen stieg Annemarie die teppichbelegten Stufen empor – stand in der Halle.
Durch die geöffnete Tür quoll ihr der Atem der Blumen entgegen, die sie selbst in den Kistchen auf der Terrasse gezogen: weiße Lilien und glorienfarbige Hängenelken und die großen, buntleuchtenden Edelwicken. Das mochte nun alles ein einziges Blühen sein! Über die knospenden Ranken war ihr Kindchen in die Arme des Todes gefallen ...
Sie mußte eine Weile stehenbleiben, um nur wieder weiter zu können. So weh tat ihr das Herz; schien alles wieder wie eine einzige Gewalt gleichsam fühlbar auf sie einzudringen, sie zurückzustoßen:
Weck' nicht die Furien, die auf dieser Schwelle schlafen – kehr' um!
Sie hörte es förmlich.
Aber es war Gottes Weg. Sie mußte ihn gehen.
Der Mond, der draußen alles mit seinem blauen Licht überglastete, starrte ihr wie fragend in das blasse Gesicht. Nun brauchte sie kein Licht mehr.
Dort war die Tür zu seiner Stube!
Und war er nicht daheim, dann wollte sie sich an seinen Schreibtisch setzen wie einst und auf ihn warten wie so oft.
Ach, daß sie ihm nichts anderes zu sagen hatte!
*
Die Stube lag ganz im blauen Licht des Mondes, und mitten in diesem Licht saß er selbst – wie ein Schatten: lang, schwarz, regungslos.
Nicht einmal das Haupt hob er, als Annemarie eintrat. So versonnen saß er da. Oder er glaubte, daß es die Magd sei.
Wie das Pochen eines ängstlichen Herzens hämmerte das Getick einer Uhr durch das tiefe Schweigen ...
Da rief sie ihn an:
»Wilhelm!«
Er fuhr empor, sank aber sofort wieder auf seinen Stuhl zurück, mit beiden Händen die Lehnen umklammernd, dann strich er wie träumend über die Stirne hin – fassungslos, den eigenen Augen mißtrauend.
»Wilhelm?« sprach Annemarie noch einmal.
Nun merkte er doch, daß es Wahrheit sei.
Ein jäher Ruck ging durch seine Gestalt, riß ihn empor. Dann lief ein Zittern über seine Glieder – fragte wie ein letzter Zweifel noch aus seiner Stimme heraus:
»Annemarie ...! Bist du es wirklich?«
Und auch in ihr horchte es auf: gespannt, ängstlich. Wie ein letzter Glaube, der fürchtet, noch einmal betrogen zu werden.
Doch er log nicht. Diesmal wenigstens nicht. Sie, fühlte es. Sein ganzes Herz zitterte aus seiner Frage, jubelte wie fassungslos in seiner Stimme auf:
»Du!«
Und sein Fuß hatte nicht die Kraft, ihr entgegenzugehen; auch nicht einen Schritt.
So tat sie es selbst.
»Ja, Wilhelm, ich bin es.«
»Und warum – kommst du – Annemarie?«
Langsam, Wort für Wort fiel es in das Schweigen hinein. Als bange er, daß schon ihr nächstes Wort wieder alles zerstören würde, was sein zages Hoffen an ihr Erscheinen band.
›Wie in einem Traum ist mir,‹ fühlte Annemarie. ›Als wär' ich gar nie fortgewesen oder eben erst heimgekommen. Und doch weiß ich, daß ein Abgrund zwischen mir und ihm liegt – so wenige Schritte uns auch trennen. So helfe mir Gott, daß ich darüber hinweg komm'. Und stark und wahr bleibe bis zuletzt!‹
Hastig schlug sie den dichten, schwarzen Schleier zurück, atmete tief auf, streckte ihm, wie in einem letzten Zögern, langsam die Hand entgegen:
»Man hat mir gesagt, daß du noch immer auf mein Verzeihen hoffst, Wilhelm. Dein Glaube soll dich nicht betrogen haben. Ich will meinen Schwur halten, bis zuletzt.«
Er machte eine Bewegung, ihre Hand zu ergreifen, hielt aber, gleichsam überwältigt, noch einmal an sich.
»So viel willst du mir ersparen, Annemarie? Kommst selbst, es mir zu sagen? Annemarie!«
Und nun griff er mit beiden Händen nach ihrer Rechten; hielt sie fest – krampfhaft fest. Vom Haupt bis zu den Füßen eine einzige Erschütterung.
»Wie soll ich dir das jemals danken, Annemarie?«
Seine Stimme versagte.
»Aber setz' dich doch!« bat er, mit einer unbeholfen-verlegenen Bewegung den schönen Barockstuhl heranrückend, in dem sie ihm so oft hier gegenübergesessen. »Da hinein setz' dich, noch einmal. Wenn ich – wenn ich glauben soll, daß du wirklich verzeihen kannst.«
Sie ließ sich nieder, faltete die Hände im Schoße – sah an ihm vorüber in die Nacht hinaus. ›Alles wie einst!‹ fuhr es durch ihre Seele. ›Nur das süße Stimmchen wird nie mehr laut werden da drüben. Nie mehr –‹
Und wie von einem Frost geschüttelt, zog sie die Schleier um sich.
»Hat man dir – dir gesagt, daß ich einberufen bin?« fragte er leis und gleichsam wartend in ihr Schweigen hinein.
Annemarie nickte und sah ihn an – voll, ganz, zum ersten Male:
»Ja, Wilhelm! Aber glaube nicht, daß ich nur deshalb gekommen bin oder – oder gekommen wäre!« sagte sie ruhig.
Und als sein Blick fast schmerzlich in den ihren hineinfragte, sprach sie fest:
»Weil ich gekommen bin, dir nicht bloß zu vergeben, sondern auch dich selbst um Vergebung zu bitten!«
Er lehnte sich zurück, sah sie an. Und etwas in ihm schien zu erstarren.
»Annemarie?!«
Sie glaubte seine Gedanken zu erraten und schüttelte leise das Haupt. »Du tätest mir unrecht, Wilhelm! Aber selbst eine Untreue wäre noch nichts gegen das, was ich dir abzubitten habe –«
»Du – mir?« Und er beugte sich vor, spähte besorgt und erregt in ihr Antlitz, wie zweifelnd, ob sie auch noch wisse, was sie da sage.
Grabesstill war es einen Augenblick um die beiden. Und der Mond legte einen blassen Strahl zwischen sie, der so geheimnisvoll zitterte wie das Unnennbare, das nun in ihren Seelen nach Worten rang ...
»Den Tod unseres Kindes!« sprach Annemarie erschauernd.
Er lehnte sich zurück – starrte sie an. Und sie sah, er begriff es nicht.
»Du – Annemarie?«
Sie nahm alle Kraft zusammen.
»Doch, Wilhelm, doch! Als ich, von meiner Eifersucht getrieben, hinter dir und der – der anderen her war, da ist es geschehen! Das Kleinchen war allein, ganz allein unterdes. Als ich zurückkam, hatte es sich im Wägelchen aufgerichtet. Dann sah es mich kommen – beugte sich über die Brüstung der Terrasse, mir entgegen ... So ist es dem Tod in die Arme gefallen!«
Seine Augen waren groß und weit geworden. Sein Antlitz totenblaß. Nun kam wieder Bewegung in seine Züge, wie über ein einziges, erschütterndes Begreifen:
»Annemarie – du Ärmste! Was mußt du gelitten haben, in dieser einen Nacht!«
Sie konnte nicht sprechen. Aber ihre Tränen erzählten es aufs neue. Diese heißen, großen Reuetränen, in die der Mond hineinleuchtete, daß sie wie Perlen waren, die von den Fingern Gottes glitten ...
»Und mich – mich willst du deshalb um Verzeihung bitten?« murmelte er, beide Hände vors Antlitz legend. »Ach! Es ist ja doch nur wieder meine Schuld!«
Sie schüttelte heftig das Haupt. »Nein, Wilhelm, nein! Das weiß ich nun genau.«
»Auch das Gewissen kann uns täuschen, Annemarie,« sprach er nach einer Meile tonlos. »Schau,« – und er griff aufs neue nach ihrer Hand, streichelte wie tröstend darüber hin – »nun sitz' ich da und glaube vielleicht, daß ich wieder ein anderer bin. Aber« – und seine Stimme stockte – »wär' ich es auch, wenn man mich nicht selbst betrogen hätte?«
Annemarie begriff, daß er Mela meinte. Doch sie schwieg.
»Und wie – wie ist dir das gekommen?« fragte er nach einer Weile, gleichsam tastend. »Diese Kraft, nicht nur zu vergeben, sondern auch –?«
»Von selbst kommt uns diese Kraft wohl nie, Wilhelm.«
Er legte das Antlitz in die Hand, starrte vor sich nieder.
»Die gibt nur Gott, Wilhelm!« sprach sie laut und innig.
Er fuhr empor, sah sie an und Annemarie glaubte zu bemerken, daß sich das alte Lächeln kühlen Hochmutes um seine Lippen legen wollte.
»Nur Gott, Wilhelm!« wiederholte sie fest und mit einer Stimme, in der ihre ganze Seele zu vibrieren schien. »Und wenn er mich nicht zu dir geschickt hätte –«
Er starrte sie noch immer an ...
»Dann hätte auch ich in der Lüge weitergelebt wie du. Und mit mir und den anderen weiter Komödie gespielt, in dem Glauben, auch dazu ein Recht zu haben. Nur er gibt uns die Kraft, in Demut alles zu bekennen und die Reue, die sich an die Rechenschaft vor ihm gebunden fühlt – einmal, dort oben ...«
Ihre Stimme brach. Aber in den großen, schönen Augen, die voll und weitgeöffnet in die Nacht hinausstarrten, stand das Bild des Mondes wie eine Antwort des Himmels.
Wilhelm hatte sich langsam erhoben.
»Du bist also wieder – so weit, Annemarie?«
»Sonst hätt' ich wohl nicht weiterleben können, Wilhelm.«
»Ja,« nickte er, gleichsam bestätigend vor sich hin. »Darin war er immer groß, dein Gott! Vergiß aber ja nicht, daß es immer nur die Schwachen sind, die er so niederwirft. Um ihnen dann die eigene Ohnmacht als ein Gefühl der Stärke vorzutäuschen –«
»Auch wenn diese Ohnmacht die einzige Lebensmöglichkeit ist, Wilhelm?« rief Annemarie, wie beschwörend. »Täusche dich nicht weiter! Wenigstens nicht in der Stunde, in der sich auch vor dir der Tod aufrichtet.«
Er war ans Fenster getreten und sah mit verschränkten Armen in die Nacht hinein. »Der Tod, nun ja ...,« wehte es durch die Stille zu ihr herüber. »Aber ein Mann bricht davor nicht zusammen, Annemarie.«
»Und was weißt du von ihm?« fragte sie laut zurück.
Er zog die Schultern empor, ließ sie wieder sinken.
Sie erhob sich, trat ganz nahe an ihn heran: »So habe wenigstens vor ihm Ehrfurcht, Wilhelm. Die Ehrfurcht, die du weder für unsere Liebe gehabt, noch für das junge Leben, das Gott in unsere Hände gelegt. Die Ehrfurcht, die jeder haben muß, wenn er eines Tages vor sich selbst bestehen soll!«
Er ergriff ihre Hand, hielt sie fest:
»Was soll ich dir darauf erwidern, Annemarie? Ein Mann wirft so leicht nicht von sich, wofür er ein ganzes Leben lang eingestanden ist. Aber« – und in seine Stimme kam ein leises Beben ... »etwas geb' ich dir zu: Wir sind vielleicht allzu – allzu siegesgewiß in dieses Leben hineingestürmt und haben vergessen, daß es doch für jeden vor einem – Abgrund endet. Wenn du mit diesem Bekenntnis zufrieden bist –,« er atmete tief auf – »so weit war ich schon, bevor du kamst!«
»Dann will ich Gott dafür danken, alle Stunden und bis er dich wieder in meine Arme legt!« schluchzte sie auf. »Und jetzt – leb' wohl!«
»Du – läßt mich allein?« stammelte er zurückfahrend. »Jetzt?!«
Die Hände wie zum Gebet gefaltet, blickte Annemarie ihn an. »Ja, Wilhelm! Weil ich fühle, daß Gott es so will. Und wir beide einsam bleiben müssen, gerade jetzt! Um die ganze Größe dieser Zeit zu erfassen und würdig zu werden für ein neues Leben. Glaube nicht, daß ich deshalb aufhören werde, dein zu bleiben! Aber noch steht ein – Toter zwischen uns –« Ihre Stimme brach. Fremd und wie erstaunt, diese Worte in den Raum hineinsprechen zu müssen, in dem einst ihr ganzes Glück daheim gewesen, sah Annemarie um sich ...
»Gib mir wenigstens deine Hand – deine liebe Hand!« bat er mit einem dumpfen Aufschluchzen.
Und sie gab sie ihm noch einmal, wie damals, am Altare.