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Sooft Annemarie später an ihren Hochzeitstag dachte, hatte sie dieselbe merkwürdige Vorstellung einer wie in silbernen Nebeln zerflatternden Zeit.
Er hatte so früh als möglich begonnen, dieser Tag. Wenigstens für sie. Zuerst war die Haarkünstlerin gekommen und hatte ihr die seidenen Flechten in tiefe Scheitel zurechtgelegt. Die Frau verstand ihre Sache. Sie hatte mit einem Blick über Annemaries Antlitz erkannt, welche Linie die madonnenhaft strengen Züge ihres Antlitzes am weichsten und bräutlichsten kleiden würde. Annemarie hatte sich anfangs gewehrt. Aber als die Gute mit dem Eifer der Sachkundigen den Myrtenkranz auf die noch hochgesteckten Flechten legte, erschrak Annemarie selbst über die herbe Hoheit ihrer Züge, das königlich Abweisende der ernsten, unverhüllten Stirne.
»Da hätte ja der Herr Gemahl gar keine Courage!« zwinkerte ihr die Alte im Spiegel zu. Selbst Frau Krüger mußte lächeln. Annemarie fühlte, wie sie errötete.
»Und wir haben so herrliches Material!« schwatzte die Kämmende weiter. »Wann kommt unsereinem heutzutage noch eine Dame unter, die einen solchen Eigenwuchs hat? Die Herren aber –« Sie lächelte. »Man muß doch zeigen, was man hat!«
Draußen hing ein schwüler Hochsommertag, auch wie in silbernen Nebeln. Und mit dem Frühatem der Nelken, die im Garten blühten, mischte sich in der Brautstube der schwelende Geruch der erwärmten Haareisen und wohlriechenden Essenzen, mit denen die goldbraunen Haarwellen Annemaries behandelt wurden.
Kein Windhauch regte draußen die Bäume. Selbst die Luft schien wie in einer einzigen Erwartung den Atem anzuhalten.
»Wer weiß, wie viele heute noch zum Altar schreiten, auf der ganzen Welt,« dachte Annemarie, »und doch ist es für jede der eine, einzige Tag.«
Auch er lag wie in einem weißen, silbernen Dämmer.
Und die Alte schwatzte weiter. Aber nur Frau Krüger hielt ihr stand; warf zuweilen wohl auch selbst ein Wort hin oder eine Frage, mit der müden und gleichsam überlegenen Neugierde der Frau, für die das Leben keine Geheimnisse mehr hat.
O ja, sie hatte schon Hunderte und Hunderte frisiert, die geschwätzige Alte, und manche der jungen Frauen auch noch nachher bedient, oder sonstwie im Auge behalten. Aber, natürlich ... der Tag kam wohl nie mehr im Leben!
»Und ich dachte immer, erst von ihm ab müßte es schöner werden und immer schöner,« bebte Annemaries Stimme in das Geschwätz der beiden Frauen hinein.
Frau Krüger schwieg. Die Alte verstummte und lächelte mit großen, nachsichtigen Augen in den Spiegel.
Was verhehlte man ihr?
Oder gehörten auch dieses Lächeln und dieses Verstummen zu dem weißen Dämmerglanz des Tages?
Die Braut versank wieder in sich. Und nur die Blüten des alten Akazienbaumes dufteten in ihr Träumen ...
Erst als die tiefgewellten Haare in zwei goldenen Bauschen über Schläfen und Ohren hingen, kam Annemarie wieder zu sich und starrte wie mit fremden Augen die geheimnisvoll lockende Schöne an, die ihr aus dem Spiegel entgegensah.
War das noch sie?
Sie griff sich an das Haupt, tastete wie nachfühlend das eigene Antlitz ab, den rosigen Brand der Wangen, die unter dem schweren Seidengespinst der goldbraunen Scheitel immer tiefer zu erglühen begannen.
Nun war sie ja –! Was hatte man aus ihr gemacht –?
»Wie eine Odaliske seh' ich aus,« fuhr es ihr durch den Sinn, wollte es sich auf die Lippen drängen. Aber etwas in ihr verstummte plötzlich.
Noch niemals hatte sie sich so schön gesehen. Was würde der Geliebte erst sagen!
Und sie hatte nichts gewußt von all diesen Reizen bis heute. Nur die madonnenstrenge Linie ihres Antlitzes immer gekannt und festgehalten.
Aber dieses Antlitz –
Ein Locken war es, ein sehnsüchtiges Erschauern, eine einzige Schwäche und ohnmächtige Ergebung.
Die Braut – das Weib.
Vergeblich jedes Besinnen über das, was sie noch gestern gewollt, noch gestern gewesen und all die Jahre vorher.
Wie in einem silbernen Nebel entschwand sie sich selbst.
*
War es wirklich schon so spät, daß die Mutter drängen mußte, als man ihr endlich die weiche, rieselnde Seide über den erschauernden Leib gleiten ließ? Den Kranz in das Gold der Haare drückte – den Schleier festnadelte – die weißen Handschuhe zurechtlegte?
Ihr schien, sie sehe und höre nicht mehr. Habe nur den einen Wunsch: immer, immer im festlichen Kleid dieser Stunde vor dem Geliebten zu stehen, in all den Schleiern, die um sie wogten, wie ein einziger silberner Nebel.
Als Frau Krüger endlich in den eigenen Staat schlüpfen konnte, pochten die Söhne schon ungeduldig an die Brautkammer. Der Bräutigam war schon da, und unten fuhren die ersten Gäste vor. Schwere seidene Roben rauschten durch den Garten. Diamanten und Saphire leuchteten im Sonnenglast. Der ganze Tantenstaat der Familie war entboten.
Wie ein kicherndes Taubennest fuhren zuletzt die Brautjungfern an. Alle gleich gekleidet, in das blasse, verbrauchende Rosa der ersten Apfelblüten.
Die Sonne mußte im Mittag stehen. Schon begannen draußen die Glocken zu läuten.
Da riß man vor der Braut die Türe auf, daß sie hinausschreite im schwülen Duft ihrer verhüllten Schönheit, mitten hinein in den silbernen Glanz dieses Tages.
Dann kamen die Tränen der Mutter. Die Umarmungen der Basen; das halb bewundernde, halb vom Neid erstickte Geflüster der Freundinnen. Aber Annemarie sah nur zwei Augen – und die leuchteten wie zwei Sonnen, gingen in einem einzigen Triumph über sie hin.
»Mein bist du, mein!«
Er machte sie selig, dieser Blick, und doch auch wieder leis' erschauern, daß ihr war, als müsse sie sich noch tiefer in ihre Schleier hüllen, die Lider senken, um nicht an dem Brand dieser Augen zu vergehen.
Und da geschah es, daß sie zum ersten Male wieder an Konrad denken mußte. Nie, nie hatte sie einen solchen Blick in seinen Augen wahrgenommen! Und er hatte sie doch auch geliebt – lang, inbrünstig, mit der ganzen Glut seines jungen Herzens.
Der Geliebte freilich war um vieles älter, der reife Mann. Die Werbezeit war vorüber. Wer weiß, wie Konrad sich im Besitz gehabt hätte?
Als es aber Zeit wurde aufzubrechen und der Bräutigam mit einem raschen Schritt auf sie zutrat und wieder mit diesem Blick, streckte sie fast abwehrend die Hände von sich.
»Sie fürchtet sich, daß du ihr etwas zerknüllst beim Berühren,« kicherte eine der altjüngferlichen Tanten.
Er lachte, und in seiner Stimme war ein ganz eigener Jubel, als er entgegnete:
» Aber! Ich werde sie doch nicht berühren!«
Über die Wangen der jungen Damen lief eine flüchtige Röte. Annemaries Brüder und Jugendgefährten lächelten sich verstohlen zu. Nur ihr jüngster Bruder biß sich in die Lippe, stand in finsterem Trotz da. Er hatte von Anfang an Annemaries Bräutigam nicht gemocht und sah nun fast gehässig zu ihm hinüber. Die Schwester war von Kindheit an seine Vertraute gewesen und, obwohl die Jüngste unter den Vieren, immer voll mütterlicher Güte für ihn. Konrad aber war noch heute sein bester Freund, mit dem er alles gemein hatte, selbst die Liebe zur Philosophie.
Nun war es auch mit seinem Traum zu Ende. Dem deutschen Jungentraum, fern vom Geräusch und Gezappel der Mutter, zwischen der Schwester und dem Freund seiner Schwärmerei für die Schönheit der Platonischen Dialoge zu leben.
Endlich reichten die Herren ihren Damen die Arme. Hinter den Türen grüßten und weinten die Dienstboten. Aus einem versperrten Gemach scholl das rasende Gekläff von Annemaries Lieblingshündchen, dem die treue Seele von dem stummen Scheideblick der jungen Herrin noch bang und schwer war.
Der Teppich, der über die Treppen und durch den Garten führte, war über und über mit weißen Akazienblüten bestreut. Sie hingen auch in den Stirnbändern und zwischen den Halftern der zwei tadellosen Schimmel, die sich unruhig im Geschirr herumwarfen und wie verstehend dem bräutlichen Zug entgegenwieherten.
*
Den Schmuck der Kirche hatte der erste Gärtner der Stadt besorgt. Es war im Auftrag des Bräutigams geschehen und sollte eine Überraschung für Annemarie sein.
Hundert und aber hundert weißer Rosen schmückten Altäre und Kandelaber. Mächtige Palmen- und Lorbeergruppen umschatteten den Eingang. Bis tief in die Straßen hinein standen die Leute. Der Ordner hatte Mühe, für den Brautzug Platz zu schaffen ... Draußen hing die Sonne noch immer wie zwischen silbernen Nebeln. Und als die Braut in ihrem schimmernden Staat in die Kirche schwebte, schien es fast, als wäre eine der weißen Sommerwolken da draußen hereingeglitten, um hier zwischen Weihrauchatem und Rosenduft weiterzuleuchten.
Es war immer dasselbe, was Annemarie um sich und hinter sich hörte: »Wie schön! Wie schön!«
Und dies alles war sie heute! Diese Blumen, dieser Glanz, dieses geheimnisvoll festliche Geriesel von Seide und Schleiern und Spitzen, der feierlich beleuchtete Altar, der sie erwartete – die Braut!
»Aber sieh doch, Annemarie, sieh!«
Die Mutter hatte es noch einmal versucht, sich im letzten Augenblick an sie heranzudrängen, um ihr wenigstens ein Wort des Beifalls für den Schmuck der Kirche zu entlocken. Sie war mit dem Bräutigam im Einverständnis gewesen, und nun schien ihr, als ob Annemarie weder sehe noch höre.
Aber Annemarie lächelte bloß. Wenn sie auch nicht um sich spähte, sie hatte doch alles gesehen, alles! Fühlte es mit einem Male bis ins Tiefste ihrer Seele hinein. Beglückt, erschüttert, halb ohnmächtig, noch einmal: die ganze zärtliche Liebe des Mannes, dem sie sich geben wollte, und der sie über einen einzigen Teppich von weißen Rosen bis hieher getragen.
Nie, nie wollte sie es ihm vergessen!
Als er ihr den Arm reichte, um sie an den Altar zu führen, griff sie fast zitternd nach seiner Hand und hielt sie eine selige Weile fest. Und Hand in Hand traten sie vor den Priester.
Der Greis, der dem Brautpaar im Schmuck seiner goldleuchtenden Stola entgegenlächelte, war einst Annemaries Lehrer gewesen, zugleich der Priester, vor dem sie allmonatlich einmal ihr Sündenbekenntnis abgelegt: die weißen Beichten einer reinen, zwischen sonniger Daseinsluft und glücklicher Unwissenheit hinblühenden Kindesseele. Die von der Kirche geforderte Brautbeichte aber hatte sie zu einem anderen getragen. Ihr selbst schien, als ob es zu viel wäre, was zwischen ihrem letzten Bekenntnis lag und den heißen Gewittern der Sinne, in die sie die Leidenschaft so plötzlich hineingewirbelt hatte. Es war eine ganz geheime, fast rätselhafte Scheu in ihr gewesen. Auch lag ein ganzes Jahr zwischen der letzten Beichte des Mädchens und jener der Braut. Und mit einer Art dumpfer Scham empfand sie, daß ihr unterdes zu viele Blüten von der Seele gestreift worden seien. All die weißen, leuchtenden Blüten, die nur im Paradies der Kindheit blühen können. Nicht zuletzt der Glaube, den ihr der Geliebte so langsam und sicher aus dem Herzen gelächelt hatte ...
Und doch wußte sie mit einem Male, daß es nicht das allein war, was sie von dem geistlichen Führer ihrer Kindheit und Jugend ferne gehalten. Vielmehr eine einzige Erinnerung, der sie sich in diesem Augenblick fast mit der Deutlichkeit einer Schuld bewußt wurde. Die Erinnerung an das liebliche Geheimnis, das sich in legendenhafter Schönheit zwischen ihr und jenem bleichen Christusbild angesponnen, und das ihre Seele ein ganzes Jahr lang wie in bräutlichen Schauern hingenommen hatte. Kein Mensch mußte darum von allen, die damals und heute um sie waren. Selbst dem Geliebten hatte sie davon geschwiegen. Aber da vor ihr, auf den Stufen des Altars stand der Einzige, dem sich Annemarie im Überschwang ihres Herzens einmal anvertraut. Der Einzige, der um das mystische Verlöbnis ihrer Seele wußte; von dem geheimnisvollen Ton, mit dem sie der Gekreuzigte immer wieder in seine Nähe gerufen. Von den paradiesischen Träumen, in denen er zu ihrer Seele gesprochen: »Willst du bei mir sein, will ich bei dir sein!« Und von dem Reich, das er ihr gezeigt mit den Worten: »Mein Garten ist groß. Engel betreten ihn. Sein Name ist Eden.«
Er hatte nie etwas dazu gesagt, der alte Priester. Nur immer gelächelt und geschwiegen. In seinen Augen aber war es jedesmal wie ein ehrfürchtiges Warten gewesen, wenn Annemarie damals mit dem Confiteor auf den Lippen vor ihm niedersank.
Das war nun alles vorüber. Und so selig sie auch war, so unausdenkbar es ihr auch erschien, jemals ohne den Geliebten glücklich werden zu können – sie fühlte doch, daß sie mit einem gebrochenen Gelöbnis auf den Lippen da stand und aus einem Lande zur Erde herabgestiegen war, in das sie nie zurückfinden würde. Und so mächtig war diese Empfindung, daß Annemarie die Hand des Geliebten plötzlich in einem jähen Schreck fahren ließ und in einem einzigen Brand unter ihrem Schleier errötete, ob der weißhaarige Priester da oben auch noch immer schwieg und lächelte.
»Er wird mich schon damals für überspannt gehalten haben, darum hat er nie etwas dazu gesagt!« dachte Annemarie wie in einer vorüberhuschenden Beruhigung. Dann atmete sie auf. Der feierliche Akt hatte begonnen. Und als ihr »Ja« in das kirchentiefe Schweigen hineinfiel, im Echo der grauen Wölbungen wieder zurückkam, seltsam und wie von einer anderen Stimme wiederholt, da erst fühlte sie, daß sie nun für immer zurückgefunden hatte, ob ein paradiesischer Traum sie auch einmal in die Lande der Engel geführt.
*
»Werde so glücklich, Annemarie, wie wir Menschen es nur immer werden können!« Sie kam gerade aus der Umarmung der letzten Brautjungfer, als Konrad mit diesen Worten ihre Hand ergriff, sie eine Weile festhielt und sich dann rasch abkehrte.
»Ich danke dir – o wie ich dir danke!« stammelte Annemarie zwischen ihren Schleiern hervor. Noch ganz verwirrt von all den Umarmungen der Ihren, von all der Rührung, die sich an ihrem Hals ausweinte – im Innersten gepackt von den Schauern eines neuen Lebens.
Gern hätte sie noch etwas hinzugefügt. Irgendein Wort, das seinen Verzicht lindem sollte, ihm eine trostreiche Mitgabe werden. Doch er war schon wieder zurückgetreten, und dort ging er hin, langsam, aber ungebeugt, ein ganzer Mann.
»Werde so glücklich Annemarie, wie wir Menschen es nur immer werden können ...«
Es war ein Wunsch, der alles herabflehte auf sie, alles ausschöpfte und ihr doch heimlich wehe tat. Wie ein ganz leises, ganz fernes Drohen in den trunkenen Überschwang ihrer Seele hineinklang.
»Werde so glücklich, wie wir Menschen es nur immer werden können –«
Doch war diese Angst nicht auch stets über ihr gestanden, seit sie ihr Glück gefunden und genommen?
Er hatte aus seiner noch gläubigen Seele gesprochen, was Annemarie als ein leiser Zweifel inmitten ihres Glückes schon früh beschlichen hatte. Ja, das blieb wohl ... Diese stumme, scheue, ehrfürchtige Angst vor dem Schicksal. Ob man seinen Glauben bewahrt oder seinen Gott verloren hatte.
Tief und wie gedemütigt senkte Annemarie das Haupt unter der weißen Krone ihres Glückes.
»Das also war er!« lächelte der junge Gatte, als er Annemarie in den Wagen hob.
»Wie hat er dir gefallen?« fragte sie leise zurück.
Die Menschen standen noch immer um das festliche Paar. Erst als der Schlag des Wagens zufiel und die feurigen Pferde anzogen, wich die Menge zurück, waren sie frei und für sich allein.
»Wie soll ich mich nur ausdrücken, um nicht heute deinen Unwillen zu erregen?« fragte Annemaries Gatte vorsichtig.
Sie lächelte. »Ist es möglich, daß du dich vor mir fürchtest?«
Er streifte mit einem seltsamen Blick ihre Schleier. Dann sah er mitten in den Glanz der Straßen hinein.
»Du hast eine allzu ängstliche Mutter gehabt, Annemarie. Bist von allem ferne gehalten worden. Nun mußt du lernen, Welt und Menschen mit eigenen Augen zu sehen. Die Wirklichkeit vom Traum unterscheiden, das Mögliche vom Unmöglichen. Das kann immer nur allmählich geschehen. Aber weil du mich schon fragst: Er scheint Stil zu haben, dein blonder Troubadour! Nur – in unser Jahrhundert paßt er nicht mehr hinein. Kennst du vielleicht zufällig seinen Lieblingsphilosophen?«
»Kant!« kam es zurück. Leise, wie wartend.
Er hatte ihre Hand ergriffen und auf seinen Schoß gelegt. Nun lächelte er:
»Den allenfalls kann er sich noch retten für – für seine Weltanschauung.«
»Und die großen Griechen,« fuhr Annemarie lauter fort. »Platon und Aristoteles.«
»Soweit sie ein großer Systematiker für seine Kirche zurechtgemacht hat,« lächelte der junge Gatte herablassend. »Sonst ... Ich glaub', er täte besser, Mönch zu werden. Mit solchen Vellëitäten.«
»Denken alle Naturforscher so wie du?« fragte Annemarie zaghaft.
»Gegenwärtig alle. Es liegt in der Methode. Aber –« Und er lächelte, während sein Blick plötzlich wie eine einzige Flamme an ihr niederging: »Welch ein törichtes Gespräch für eine solche Fahrt!«
Damit kehrte er sich ganz ihr zu, ihre Hand noch immer in der seinen.
Annemarie schwieg. Es waren noch zu viele Schauer in ihr ... das fromme Schweigen der Kirche. Der lächelnde Blick des Priesters, für den ihre Seele einmal ein offenes Buch gewesen war. Zuletzt das Wiedersehen mit Konrad – sein Glückwunsch, der sie an so Vieles zugleich erinnerte. War dies alles nur Traum? Dann würde es ihr wahrhaftig nicht leicht werden, sich so rasch in die Wirklichkeit zurückzufinden, die sie aus den Augen des jungen Gatten umwarb. So sehr sie ihn auch liebte. Wie es ihr jetzt ums Herz war, machten sie selbst die Blicke der Menschen erröten, die so angelegentlich nach ihrem weißen Staat sahen; so eigen dabei lächelten. Nun wußte doch jeder, der ihnen begegnete, daß sie heimfuhren! Und sie zog noch tiefer den Schleier herab ...
»Dazu noch dieses Mahl jetzt,« sprach ihr Gatte weiter. »Inmitten all dieser Tanten und Basen! Aber es war deiner Mutter nicht auszureden. In einem Hotel war' das alles rascher gegangen.«
»Da hätten uns so und so viele fremde Augen auch noch angesehen.«
»Stört dich das so?« fragte er. Es sollte wohl nur eine Neckerei sein. Aber der Blick, mit dem er sie dabei ansah, hatte – ja, sie mußte es sich gestehen – hatte fast etwas Entschleierndes. Als hätte die Zudringlichkeit der Straße, die ihr so lästig war, plötzlich ein Recht auf sie bekommen, das ihr wehtat und sie beleidigte.
»Es war so ein schöner Traum,« bebte es leise zwischen ihren Lippen hervor.
»Na ja,« warf er gleichsam vor sich hin. »Aber nun ist er Wirklichkeit geworden. Und das ist das Schönste an ihm.«
Damit sprang er ab, um ihr aus dem Wagen zu helfen.
Man hielt vor dem Haus, in dem Annemarie heute nur mehr ein Gast sein sollte, und in dem sie doch so lange Jahre ihre Heimat gehabt –
Fremd und fast erschrocken sah sie um sich ...
*
Frau Krüger hatte eine Magd, die fast zwanzig Jahre bei ihr diente. Ihrer Umsicht war es zu danken, daß trotz der Fahrigkeit der Hausfrau und dem oft ungefügen Eifer der Mietlinge doch alles aufs beste bestellt und geraten war bei dem festlichen Mahle.
Der alte Akazienbaum, der noch gestern selbst wie eine Braut im Glast des Vollmondes geleuchtet, hatte all seine Blüten für den Schmuck der Tafel hergegeben. Ihre Mitte krönten die mit zartem Grün und hochzeitlichen Bändern und Schleiern gezierten Lilien Konrads.
Frau Krüger hatte sich als letzte tief aufatmend und erschöpft an ihren Platz gesetzt. Der Weinkrampf, der sie in der Kirche überwältigt hatte, war einer fast peinlichen Stumpfheit gewichen. Es war ein Glück, daß rechts und links einige geschwätzige Basen zugleich auf sie einsprachen, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie selbst saß mit tief geneigtem Haupte da und murmelte ab und zu tonlos: »Es ist doch immer das gleiche!« Zuweilen fuhr sie auf und sah fast erschrocken zu der Braut hinüber. Aber Annemaries Blicke glitten an ihr vorbei und, wenn sie sie trafen, wie durch sie hindurch. Und dann nickte Frau Krüger jedesmal verstohlen vor sich hin:
»Ja, ja! Es kann einen wohl nachdenklich machen!«
Finster und blaß saß Annemaries jüngster Bruder am Ende der Tafel. Am ihn schwatzten die Brautjungfern mit ihren Kavalieren, kam die Jugend zu Recht mit Scherz und Lachen und dem heimlichen Geplänkel ihrer flüchtigen Siege. Doch Edwin schien niemanden zu sehen als den Bräutigam. Immer wieder hoben sich die blassen Lider, starrten die funkelnden Knabenaugen nach dem Mann, der ihm so wenig gefiel und ihm doch die Schwester entführen durfte für immer.
Seine Suppe blieb unausgelöffelt in dem goldumrandeten Teller. Um so eifriger griff er nach der Madeiraflasche, die der Diener ihm zur Seite stehen gelassen. Er, der sonst kaum ein Glas leichten Bieres trank und vertrug, stürzte den schweren Wein wie Wasser hinunter.
Einmal und förmlich wie emporgezogen von den zornigen Adleraugen des Knaben hatte der Bräutigam nach ihm geschaut. Da hatten ihre Blicke sich wie zwei Dolche gekreuzt.
»Dummer Junge!« lächelte der Gelehrte in sich hinein. Aber freilich, er war der Freund des Verschmähten und hatte während all der Zeit Gott weiß welche Vergleiche zwischen ihm und jenem angestellt. Am besten war es, einstweilen über ihn hinwegzuschauen, wie bisher.
Ein Gang folgte dem anderen. Die jungen Gatten, die wie ein Königspaar in der Mitte der Tafel saßen, bemühten sich bis zuletzt, so unbefangen wie möglich dreinzuschauen.
Annemarien fiel es merkwürdig leicht. Sie starrte noch immer wie in einen silbernen Nebel hinein. Zuweilen geschah es wohl auch, daß ein paar heimliche Tränen ganz plötzlich ihren Blick umdunkelten. Wenn sie in all die lieben Winkel hineinsah, in denen sie als Kind gespielt und gesessen, und durch die offenen Fenster hinaus in das grüne Geschaukel der Zweige. Wie ein Märchen schien ihr, was sie bis nun erlebt, und geradezu wunderbar, daß nun wirklich alles anders werden sollte für sie und jeder Tag vom Morgen bis zum Abend seine eigene Einteilung haben, wie es ihr gefiel. Das bald lärmende, bald larmoyante Wesen der Mutter war ihr zuweilen eine Qual gewesen. Wie eine Schmach für das ganze Geschlecht war es ihr erschienen, daß die Mutter, so lange von dem Vater bedrückt und entwürdigt, durch keine freie Tat, ja nicht einmal mit einem Gedanken oder Wunsch mehr zu ihrem eigenen Selbst zurückfand. So ganz hatte der Mann sie besessen, den sie einmal geliebt ...
Auch über Annemarie kam es wie ein leiser Schwindel, wenn sie bedachte, wie wehrlos die Liebe sie jetzt schon zuweilen gemacht. Aber lag nicht gerade in diesem Gefühl das höchste Glück? In diesem heimlichen Erbeben und Erschauern, wenn der Geliebte nur mit der Hand an ihr vorüberstrich, wie jetzt? Diesem Erglühen des ganzen Blutes, das ihr wie eine heiße Welle ins Antlitz stürzte, sooft er eines jener verhüllten Worte an sie richtete, die für alle andern ganz gleichgültig klingen und doch wie eine wonnige Geheimsprache zwischen zwei Liebenden hin und her gehen können?
Wenn sie aber an den ganz von weißen Spitzen und rosigen Brokatvorhängen verhüllten Raum dachte, in dem ihr Weibgeschick sich erfüllen sollte – an das schöne Heim, das sie im Dämmer des Abends erwarten würde, da weit draußen am Ende der großen Stadt, wo ferne Berge schon in die Fenster hereinsahen und der heiße Duft der Sommerblumen wie eine Wolke in allen Stuben hing – dann verstand sie sich selbst nicht ... wie sie da sitzen und mit feuchten Augen noch ihrer Kindheit nachsinnen mochte oder irgendeine Angst in ihrem Herzen hegen?
Bis sie sich zuletzt mit dem Gedanken tröstete, es sei all dies Bangen wahrscheinlich nichts als – die Ohnmacht, so viel Glück auf einmal zu ertragen.
Um sie aber saßen die anderen und lachten und schwatzten oder nickten ihr bedeutungsvoll zu. »Vergiß es nicht – es ist ein Schicksalstag, ein großer, feierlicher!« Daß es ihr doch immer wieder ganz eigen über die Seele rann; sie überkam wie ein großes, unnennbares Einsamsein. Wenn diese Vielen, die sie von Kindheit auf kannte, nur erst nicht mehr um sie sein würden und sie ganz allein dastehen mit einem Mann, der alle Rechte über sie hatte, den sie über alles liebte und doch um so viel weniger kannte als alle, die bis heute um sie gewesen ...
Und gerade da fiel ihr Blick auf den Bruder – den jüngsten Bruder, der so finster und so schweigsam am Ende der langen Tafel saß und die zornigen Blicke wie giftige Pfeile zwischen den gesenkten Lidern nach dem schickte, den sie liebte.
War es nur Eifersucht? Oder was haßte er sonst so an ihm?
Seit sie denken konnte, war dieser jüngste Bruder ihre Sorge gewesen. Dieses stille, blasse, immer versonnene Kind, in dem vielleicht ein Dichter träumte, vielleicht ein großer Forscher, jedenfalls ein anderer Mensch. Wie zu einer Schwester hatte sie oft mit ihm reden können. Denn sein Herz war voll Ehrfurcht für alles, was die Welt an Großem und Schönem hatte, dabei zärtlich und verträumt, wie die Seele eines Weibes. So war er langsam der blonde, hochaufgeschossene Junge geworden, dem nur bei den Büchern wohl war; bis er sich über Bibel und Geschichte allmählich in die großen Abstraktionen des Menschengeistes hineingefunden hatte – mit seltener Frühreife seitdem in einer Welt lebte, die mit den gemeinen Dingen des körperlichen Daseins so wenig wie möglich zu tun hatte.
So mußte er Konrads Freund und Vertrauter werden und zuletzt ganz in den Gedanken des älteren Gefährten aufgehen. Aber seine Liebe war der Schwester geblieben.
»Er ist doch nur ein Kind,« dachte Annemarie gerührt. »Das sich nicht vorstellen kann, wie etwas, das es immer so ganz als sein Eigen betrachtet, nun plötzlich einem anderen zugehören soll.«
Und doch war ihr mit einem Male, als beginne die Trauer des Bruders heimlich und in irgendeiner unerklärlichen Weise auch auf sie hinüberzuwirken, daß es einen ganzen Augenblick wie ein beklommenes Ahnen über ihrer Seele lag ...
*
Als der Sekt in den feingeschliffenen Glaskelchen perlte, begannen die Trinksprüche. Gutgemeinte, billige Redensarten, mit etwas Salbung versetzt, bald mit einigem Witz. Manch einer wohl auch darauf angelegt, in die Wangen der Braut ein flüchtiges Rot zu jagen. Und dann war auch das vorüber. Man ließ sich nur mehr den köstlichen Wein munden oder schlürfte das Eis, das immer wieder die Runde um die Tafel machte – und schwatzte sich dabei den letzten Zwang vom Herzen. Nun war auch die Braut vergessen –
Annemarie bemerkte zuerst, daß ihr Gatte sich entfernt hatte. Gleich darauf trat die Mutter hinter ihren Stuhl und teilte ihr leise mit, daß draußen der Wagen halte, der sie nun in ihr eigenes Heim bringen sollte.
»Ich werde mit dir hinausgehen«, sagte Frau Krüger, »und unterdes frischen Champagner herumreichen lassen. So wird es weiter nicht auffallen.«
Annemarie erhob sich und folgte der Mutter ruhig und wie in einer häuslichen Angelegenheit. Draußen warf sie sich noch einmal in ihre Arme. Dann glitt sie wie im Traum über die teppichbelegten Stufen, durch den noch in hellem Sonnenglast prangenden Garten. Am Schlag des Wagens stand schon ihr Gatte und half ihr hinein. Dann fiel die Türe zu. Es war diesmal ein geschlossener Wagen.
»Ist es hier schwül!« stammelte Annemarie unwillkürlich.
»Wenn du befiehlst, lass' ich das Dach zurückschlagen,« erwiderte der junge Gatte. »Aber weil du auf der Fahrt von der Kirche über die vielen fremden Blicke geklagt hast –«
»Laß nur,« bat sie. »Gewiß ist es so besser!«
Schweigend fuhren sie dahin.
Er hatte sich zurückgelehnt, ihre Hand in der seinen, und Annemarie fühlte, wie seine Blicke immer wieder über sie hinirrten, der Druck seiner Rechten immer heißer und fester wurde.
»Nun soll es nur um Gottes willen unserem tauben Faktotum nicht auch noch einfallen, uns mit einem reichbesetzten Tisch zu erwarten,« sprach er mit einer Art komischer Verzweiflung in das Schweigen hinein.
Annemarie lächelte. »Wenn Mama keine Aufträge gegeben hat –«
»Du weißt, daß ich deine Mutter schätze,« sprach der junge Gatte mit einer gewissen Nachlässigkeit. »Aber es soll mich wundern, wenn sich all diese mütterliche Fürsorge nicht zuletzt noch in einen guten Kaffee ergießt.«
Annemarie schwieg.
»Vielleicht wär' es doch besser gewesen, wenn wir sofort eine kleine Reise angetreten hätten. Trotz der großen Hitze.«
»Das haben wir so gründlich durchgesprochen und so oft jedes Für und Wider erwogen –«
»Ja,« nickte er. »Und dann, es ist wahr – wenn wir morgen erwachen, sind wir daheim!«
»Und das wird unsäglich schön sein,« lächelte Annemarie versonnen, »dieser alte, verträumte Garten, rings um das Haus!«
»Und alles so still ringsum,« kam es gepreßt zurück, »dort wird dich wirklich niemand sehen als ich!«
Und wieder flammten seine Blicke über sie hin. Dann hob er ihre Hand an die Lippen. Wie sein Kuß brannte!
Annemarie errötete. »Mit unserem Hausgeist werd' ich mich anfangs wohl nur mühsam verständigen können,« sprach sie wie ablenkend. »Sie ist schon mehr als schwerhörig, und da sie so lange deine Junggesellenwirtschaft geleitet, wird sie für die Befehle einer Frau erst recht taub sein. Und vielleicht sogar mit einem gewissen Vergnügen.«
»Da tätest du der guten Alten unrecht,« lachte Annemaries Gatte auf. »Die war immer willig, weiß Gott. Und wenn deine Mutter endlich das rechte Stubenkätzchen gefunden, kannst du ja deine Befehle auf Umwegen geben.«
»Dazu wird man wohl nicht die Frau seines Mannes,« kam es etwas spitz zurück.
»Aber Mie!« schmeichelte er.
»Doch, Will!« beharrte Annemarie, während der Gatte seine Zähne wie zu einem scherzhaften Biß in ihre Handfläche grub. »Ich weiß, daß solche Leute sehr ehrlich, sehr vertrauenswürdig und in mancher Beziehung oft nicht genug zu schätzen sind. Aber die gute Alte hat nun einmal etwas allzu lange bei dir das Regiment geführt. Und das macht eigenwillig.«
»Aber Mie, ich liefere sie dir ja aus, mit Haut und Haaren!«
»Ihre Krallen wird sie wohl für sich selber behalten,« meinte Annemarie nachdenklich. »Und mich auf Schritt und Tritt belauern.«
»Das gewiß!« neckte er mit einem eifersüchtigen Blick.
Annemarie schüttelte das Haupt. »Ich meine das nicht so. Aber sie hat dir im Laufe der Jahre all deine Gewohnheiten abgeguckt. Darunter vielleicht Liebhabereien, von denen ich noch keine Ahnung habe. Um das ist sie mir voraus!«
Er hatte sie ruhig weiterreden lassen und gleichsam belustigt zugehört, noch immer ihre Hand in der seinen. Da glaubte sie plötzlich zu fühlen, daß seine Finger einen leisen Ruck machten, als wär' es ihm mit einem Male peinlich, ihr gerade bei diesen Erörterungen so körperlich nahe zu sein.
Es war vielleicht nicht die richtige Stunde für ein solches Gespräch. Warum aber wich er ihr plötzlich auch mit den Augen aus und starrte so angelegentlich in den Abend hinein?
»Er soll wissen, daß ich nur als Herrin dort ankommen will!« dachte Annemarie und setzte sich hoch.
*
Die Bienen hingen noch in den blühenden Linden, als der Wagen vor dem zierlichen Hause hielt, und ihr tiefes Gesumme wehte der jungen Frau wie ein ferner Glockenton entgegen.
Wilhelms alte Dienerin stand mit einem Strauß heiß duftender Lilien vor der Türe. Sie hatte ihr Antlitz in die freundlichsten Falten gelegt und strich während der Begrüßung voll Eifer über die weiße Schürze. Fest und ehrbar waren die schwarzseidenen Haubenbänder unter dem eckigen Kinn zusammengeknüpft.
Und da war ja auch wieder Annemaries Bologneserhündchen! Sie hatte keinen Begriff, wie es hierhergekommen war. Es sollte wohl eine Überraschung mehr sein. Denn sie selbst hatte während des ganzen Tages keine Zeit gefunden, sich um den kleinen Liebling zu sorgen.
»Bijutti!« jubelte sie ganz entzückt auf, als der Kleine mit aufjauchzendem Gekläff über die Treppe auf sie zustürzte und mit den großen, besorgten Kugelaugen immer wieder zu ihr emporsah.
»Siehst du, nun haben wir uns wieder!«
»Ja,« lächelte der Gatte: »Nur in deinem Bett wird kein Platz mehr für ihn sein.«
Annemarie errötete und ließ den Kleinen wieder vorsichtig zur Erde gleiten.
»So werd ich ihm sein Pölsterchen vor die Türe legen.«
»Meinetwegen,« klang es übermütig zurück. »Um das, was er besser hört als Renate, muß er schweigen.«
Es war gut, daß sie in die grüngoldige Dämmerung des Flurs traten, so heiß brannten Annemaries Wangen unter den Worten des Geliebten auf.
Wenn sie bis heute im Jubel ihres Glückes, unter dem Sturm seiner Küsse zuweilen ein gehauchtes: »Ich bin dein« vor sich hingestammelt, war es doch bloß eben nur ein Wort gewesen gegen das jede andere Empfindung nun gleichsam verschlingende Gefühl der Gewißheit seines Rechtes in dieser Stunde.
Und wieder schien sich etwas ganz leise, ganz heimlich in ihr aufzulehnen. Aber es kam nicht mehr zu Wort. Hier war hinfort ihr Heim, in den Armen des Gatten ihr Glück und ihre Zuflucht. Mit nassen Augen und scheuem Blick starrte sie auf die Schwelle des Flurs, bevor sie hinüberschritt in das Reich, in dem die Liebe das Weib wie eine Sklavin fesselt.
Die Fenster der Stuben, die sie zuerst durchschritten, standen weit offen und sahen mitten in den Garten hinein und über ein Beet voll dunkler Violen, die wie violetter Sammet im letzten Schein des Abends aufleuchteten. Das grüne Gerank des wilden Weines spann sich bis zu den Fenstern herein. Dazwischen zog sich ein dichtes Gewirr blühender Waldreben. Sie dufteten heiß und seltsam, als atme ein ferner Birkengrund herüber.
Leis, wie verträumt plätscherte aus der Tiefe des Gartens ein Wässerchen. Annemarie hatte als Braut zuweilen das heiße Antlitz in dem moosigen Becken des kleinen Springquells gekühlt. Nun rief ihr ein Geplauder die Erinnerung an die lieblichen Stunden wach, da sie in Begleitung der Mutter während der Einrichtung des jungen Heims hier zuerst voll stillen Glückes aus- und eingegangen. Das seidige Grün des Mai war damals noch über diesen Wipfeln gehangen. Alles war sonniger und freier und heller gewesen, wie ihr schien. Nun lag die Schwüle des Sommers und der heiße Duft seiner Blumen über dem alten Garten und dem stillen Haus, und die Zweige hingen wie grüne Sammetvorhänge überall an den Fenstern nieder. Kaum fühlbar und wie beklommen atmete die Luft.
Auch Annemaries Herz begann leise zu pochen ...
Die Blumen, die Annemarie während dieser Tage als Angebinde erhalten, waren in die Vasen der Stuben verteilt, ihre Hochzeitsgeschenke, kostbare Teppiche, Spitzen und Silberzeug in gefälligen Lagen und Gruppen geordnet.
Und da – wahrhaftig! Annemarie sah es zuerst und kicherte leise auf – da stand auch der gedeckte Kaffeetisch! Nein, Mama hatte nichts vergessen.
»Ich hab' es ja gewußt!« lachte der junge Gatte ... »Aber ich denke – davon haben wir heute genug! Du bist doch derselben Meinung?«
Annemarie sagte weder ja noch nein. Sie errötete und starrte zum Fenster hinaus.
»Tragen Sie diese Kannen wieder hinab,« wandte sich Wilhelm mit erhöhter Stimme an die alte Dienerin.
»Hinab, ja!«
»Der Tisch kann gleich für morgen früh gedeckt bleiben.«
Die runzeligen Lider der Alten fielen halb verschämt, halb verständnisvoll über die dunklen Augen. Mit einem tiefen Knix und in einer Art komischer Hast eilte sie über die Treppe in ihre Küche hinunter.
Einen Augenblick blieb es still. So still, daß das tiefe Gesumme der Bienen und Hummeln nun bis in die Stube hineinklang.
Annemaries Gatte schritt leis auf eine Türe zu, die bisher verschlossen geblieben war. Mit einer einzigen Bewegung schlug er beide Flügel zurück.
Weiße Spitzenkissen leuchteten aus dem Dunkel. Rosa Brokatvorhänge. Weiche, seidene Haidschnuckenfelle. In einer Ecke hielt die kristallhelle Fläche eines silbernen Toilettenspiegels den purpurnen Glanz des Abends fest. Aus allen Vasen und Kelchen aber blühten hochgestielte, dunkle Zentifolien, tiefrot, fast schwarz wie jene, die Annemarie gestern in den Händen gehalten – um dieselbe Stunde.
Wie eine heiße Welle schlug ihr Duft aus dem Brautgemach ...
Sie hatte alles gesehen, alles – und starrte doch noch immer scheinbar in den Garten hinaus, den Kranz im Haar, den weißen Schleier um den noch jungfräulichen Leib.
»Wie schön dieser Abend ist!« hauchte sie mit langsam stockendem Atem.
Es sollte unbefangen klingen und riß ihr doch alles von den Lippen, was in ihr zagte und jubelte.
»Ja,« sprach der junge Gatte, mit einem raschen Schritt an Annemarie herantretend. »Und das Schönste an ihm ist, daß er ganz mir gehört.«
Und während er die Braut mit der einen Hand an sich zog, ließ die andere rasch die seidenen Sonnenblender nieder.
*
Es war in derselben Nacht, daß Annemarie plötzlich und wie angerufen aus einem wirren Traum emporfuhr. In ihren Ohren sang das Blut. Ihre Pulse pochten noch immer im hämmernden Takt der ersten Liebesstunde. Eine seltsame Beklemmung preßte ihr das Herz zusammen. Als wäre die weite Stube plötzlich enger geworden und hätte keine Luft mehr für ihren stockenden Atem.
Ihr erster Blick fiel auf den Gatten. Schien ihr doch, als hätte er eben ihren Namen genannt und sie wäre darüber erwacht. Doch er schlummerte tief und fest, auf den Lippen ein Lächeln, das sie heimlich erröten machte.
Rasch kippte sie das Licht wieder ab, sah mit großen Augen um sich – fremd und fast verwundert.
Draußen stand die blaue Mondnacht über den Wipfeln ... Wie eingewebt lag der Schatten des Fensterkreuzes in der blaßgelben Seide der Blender. Und wie Annemarie so aufhorchend dasaß, schien ihr, als käme ein leises Singen von draußen, weich, geheimnisvoll, unsäglich verlockend.
»Mondzauber!« dachte sie. Da war es fast eine Sünde, hinter geschlossenen Fenstern wachzuliegen.
Sie erhob sich, tappte mit den Fußspitzen nach den blauseidenen Pätschelchen in dem weißen Haidschnuckenfell, stahl sich sachte, ganz sachte vom Lager, immer weiter in die Stube hinein, dann in das nächste Zimmer, wo der Tisch noch gedeckt stand und die Blumen ihren betäubenden Atem in die schwüle Luft hauchten.
»Hier werd' ich öffnen!« dachte Annemarie. »Drinnen könnt' ihn das Mondlicht wecken ...«
Woher ihr mit einem Male die Sehnsucht kam, ganz allein zu sein, wie im weißen Frieden ihrer Mädchenkammer?
Sie gab sich keine Rechenschaft darüber, meinte wohl auch, daß sie das alles nur darum so verstohlen tue, um den Gatten nicht zu wecken. Und doch hatte sie ganz deutlich das Gefühl, es zittere auch in ihrer Seele etwas von dem geheimnisvollen Glanz der Gestirne da draußen und zöge sie ihnen nach in Fernen, die weit jenseits der Welt lagen, in der ihr Gatte lebte und träumte.
Mit vorsichtiger Hand öffnete sie die Fenster, zog die Blender auf, stieß die äußeren Flügel in das leis aufrauschende Gerank der wilden Reben zurück.
Da lag der Garten vor ihr wie ein Traum, und über ihm stand die Nacht – die Nacht, die ihr das Selbst genommen und nicht nur ihren Leib, sondern auch ihre Seele in eines Mannes Hand gegeben ...
Welch eine große, schicksalsvolle, geheimnistiefe Nacht das war!
Sie faltete die Hände wie zu einem Gebet. Ihr selbst unbewußt kam mit einem Male wieder etwas von der Frömmigkeit ihrer Kindes- und Mädchenjahre über sie – Die Feierlichkeit des Glaubens ihrer Kirche, dem die Ehe ein Sakrament ist. »Ein Geheimnis in Christo.«
Und war es nicht so? In der Umarmung, die aus der Jungfrau das Weib machte, lag zugleich das Geheimnis der Zeugung. Einen Teil seiner eigenen Schöpferkraft hatte Gott an die Kreaturen weitergegeben mit der Liebe und ihrer Lust. Und wer es so nahm, dem war sie heilig für immer. Der durfte nicht enttäuschen, noch jemals enttäuscht werden, sollte nicht alles in ihm zusammenbrechen, alles, alles, was den Leib vor Schmach bewahrt und die Seele vor Verzweiflung.
Wenn die Weltanschauung ihres Gatten auch eine ganz andere war – daran hatte er bis heute noch mit keinem Wort vor ihr zu rühren gewagt.
War ihm auch ihr Glaube nicht heilig – sie selbst war es ihm. Und so würde, so mußte es bleiben.
Und eine Regung flüchtiger Zärtlichkeit kam über sie, wie sie dastand, in den rieselnden Spitzen des spinnwebdünnen Nachtgewandes noch den Geruch des Nestes, in dem sie eines Mannes Weib geworden.
Der ganze Rausch, die tiefinnerste Seligkeit der kaum entwichenen Stunden schlug wieder in ihr empor ... Ja, sie war glücklich, unsäglich glücklich.
Auch das innige Gefühl der Geborgenheit kam nun zum erstenmal über sie – der fromme, tiefe Frieden des jungen Heims. Daß ihr war, als sang' er ihr selbst sein Lied, mit dem leisen Geraun der taunassen Zweige da draußen, dem rhythmischen Fall des Springquells, der so melodisch in die Stille hinein sprach, dem leise Gepieps der jungen Schwalben über dem First. Und die Nacht saß zwischen ihren Sternen und drehte an dem goldenen Faden ihres Glücks.
›Was man nicht alles zusammenträumt, wenn man in so eine blaue Mondnacht hinaussieht,‹ dachte Annemarie mit einem leisen Lächeln. Und hatte dabei das Gefühl, nun überhaupt nicht mehr einschlafen zu können. Auch eine Regung ehrlichen Hungers empfand sie plötzlich.
Sie entsann sich, daß die Früchte und der Kuchen und das kleine Backwerk noch auf dem Tisch stehen mußten, wie die vorsorgliche Mutter es angeordnet. Mit dem Schelmenlächeln eines Kindes trippelte sie zurück, fingerte in der silbernen Dämmerung der Stube zwischen den Früchten und Konfitüren herum – schlürfte mit heißen Lippen den Saft einer Nektarine und begann zuletzt wie ein Mäuschen darauflos zu knabbern.
»Wahrhaftig wie ein Mäuschen,« dachte sie, »das sich's wohl sein läßt in der tiefen Stille der Nacht und sich dabei ordentlich pfiffig vorkommt.«
Und sie kicherte leise auf und naschte selig weiter und ließ die Blicke dabei vergnügt durch den schönen Raum gleiten, der im blauen Zwielicht der Mondnacht noch einmal so vornehm und behaglich aussah: mit den tiefgrün ausspalierten Paneelen, dem samtenen Geleucht der Mahagonimöbel, den wenigen, aber kostbaren Bildern, die in schweren Goldrahmen von der Ledertapete herleuchteten ...
Doch plötzlich kam es wie ein leises Unbehagen über Annemarie ... Es ging von den zwei dunklen Augen eines Mannes aus, dessen Bild über dem niederen Büfett hing und gerade ins Mondlicht hineinsah und durch das Mondlicht zu Annemarie herüber. Große, weitgeöffnete Augen, denen ein herrisch-selbstbewußter Blick zu eigen war und zugleich eine versteckte Gier, die gleichsam lauernd hinter dem samtenen Dunkel der Pupille brannte. Zwei Mannesaugen, die einer Frau, die allein und halbentblößt dasaß wie Annemarie, wohl einen heimlichen Schauer in der Seele wecken konnten – in der Seele, die ein Mann soeben wachgeküßt ...
Ihres Vaters Bild!
Nun erst erkannte sie es und besann sich wie aus einem tiefen Traum heraus auf das, was hinter ihr lag: die unfrohe Kindheit zwischen den Eltern, die einander so ungleich waren ... all die langen, traurigen Jahre, da sie die Mutter immer still weinen gesehen – den Vater mit dröhnenden Schritten und übereinandergepreßten Lippen durch die verängstigten Stuben gehen, um zuletzt oft für ganze Tage zu verschwinden.
Wenn ihre Mutter auch bis heute geschwiegen, in der schönen Regung, eines toten Vaters Andenken für die Ehrfurcht der Kinder lebendig zu halten – Annemarie hatte sich doch manches gedacht und viel durchschaut. Daß auch ihre junge Weiblichkeit seltsam wissend geworden war an dem versteckten Zwist und scheu gehüteten Unglück dieser Ehe.
Der Vater, ja ... Wie er dort hersah, war er auch gewesen: der schöne, selbstbewußte, rücksichtslose Mann! Immer irgendeinem Genuß nach, der nur für ihn da war – der Fährte einer schönen Frau, mit der ganzen heimlichen Gier und Lust des Jägers.
Annemaries Mutter hatte Freundinnen gehabt, mit denen der Gatte sie jahrelang betrogen. Die im Hause aus- und eingegangen waren und ganz arglos getan hatten. Bis irgendein Zufall, ein anonymer Dienstbotenbrief, oder schadenfroher Klatsch die Untreue an den Tag brachte. Dann gab es Sturm und Tränen, niemals aber eine ehrliche Reue. Sowie die Lüge nicht mehr vorhielt, wurde der Vater brutal und zynisch.
Das harte Lachen der gierigen Augen, die so heischend aus dem Bild dort zu ihr herübersahen, es hatte auch in seiner Stimme gewohnt. Wie oft hatte Annemarie es gehört! Wie oft war es kalt und grausam selbst unter dem Geschluchze der Mutter laut geworden.
O ja, sie hatte wohl gewußt, warum sie diese Frage gestern an die Mutter gerichtet. In jungfräulicher Seele noch einmal vor einem Glück zurückbebend, das dem Weibe alles nahm, um zuletzt mit einer Erinnerung zu bezahlen die schlimmer war als ein heimlich fressendes Gift. Ihre Mutter war ja auch einmal eine junge, strahlende Braut gewesen! Und hatte ihr gestern doch keine andere Antwort gewußt als dieses arme, verlegene und verlogene Lächeln.
Aber nicht nur die Mutter, auch die meisten Frauen, die sie kannte, standen mit einem Male so vor ihr. Enthüllt und arm bis auf das entselbstete Schweigen ihrer Seele. Und manche hatten nicht einmal so lange dazu gebraucht wie Frau Krüger. Selbst unter Annemaries älteren Freundinnen gab es einige, die schon trüb und resigniert in enttäuschter Ehe dahinlebten. Sie wußte es. Hatte es ihnen mit dem Blick aus dem armen Antlitz abgelesen, der an dem Unglück der eigenen Mutter wissend geworden war.
Und die noch froh und leicht dahingingen, das Haupt noch stolz trugen ... Je nun, von denen waren eben wieder andere Geschichten zu erzählen, die Annemarie nicht weniger gut kannte.
Die eine hatte ihren Mann bloß seines Reichtums wegen genommen und hielt, wie man sich erzählte, nur darauf, daß der jährliche Aufwand für ihre Toiletten und ihren Schmuck immer doppelt so groß sein mußte wie der für ihres Mannes Mätressen. Alles andere übersah sie, lächelnd und gerne, denn er selbst war ihr ein Ekel ...
Eine andere hatte die erste Untreue sofort mit derselben Münze gelohnt und seitdem so viel Geschmack an der Sache gewonnen, daß Annemarie sich schon ernstlich gefragt hatte, ob es nicht am besten wäre, der lachenden Sünderin in Hinkunft für immer ihr Haus zu verschließen.
Sie war nicht schön. Eigentlich fast häßlich. Aber irgend etwas machte alle Männer in ihrer Nähe fahrig. War es ein geheimes Fluidum, das rein geschlechtlich hinüberwirkte, wie die Wellen eines elektrischen Stromes? Ihr Lachen, das satte Bronze ihrer Haut, die fast jünglinghaften Formen des marderschlanken Leibes? Eine Frau kam da nie auf das letzte. Aber Annemarie entsann sich, daß auch ihr Bräutigam immer seltsam geworden war in Melas Nähe.
So oder so kam es wohl für die meisten. Durfte man da wirklich für sich an ein wandelloses Glück glauben ... an diese Treue bis an das Grab, von der ihr Beichtvater gestern bei der Trauung so schön gesprochen?
Im Antlitz ihres Gatten war alles still geblieben bei dieser Rede. Nur einmal hatte er dem Priester leise zugelächelt – wie ein Weltmann dem anderen. Annemarie hatte es wohl bemerkt. Und der alte Priester war unter diesem Lächeln leise errötet.
Hatte sie sich getäuscht, oder gab es wirklich ein Wissen, das von Mann zu Mann ging, wie es heißt, und selbst vor dem Altar nicht haltmachte? Oder hatte sie selbst wieder mehr gesehen, als tatsächlich vorgegangen war?
Wie töricht, so dazusitzen, nach der höchsten Stunde, die das Schicksal dem Weibe vorbehalten, und sich die Seele wieder wund und weh zu sinnen. Aber – nun war es geschehen. Und ihres eigenen Vaters Blick hatte Annemarie so weit gebracht ...
Ein leises Frösteln lief über ihren Leib. Sie erhob sich, warf wie angeekelt eine Makrone von sich, die sie vor einigen Minuten aus dem silbernen Körbchen herausgelangt. Vielleicht waren es schon die nahenden Schauer des Morgens, die sie so seltsam erbeben machten, diese unheimliche Stille der letzten Stunden nach Mitternacht – vielleicht ...
Und da kam es plötzlich wieder durch dieselbe Stille zu ihr – ein leises, leises, gleichsam sprechendes Knistern. Derselbe Ton, mit dem sie das uralte Kruzifix in den weißen Nächten ihrer Mädchenjahre so oft zu sich gerufen.
Annemarie wußte, daß es diesmal nur eines der neuen Möbel sein konnte. Daß der Betschemel mit dem redenden Kreuz noch immer in ihrer leeren Stube daheim stand. Sie wußte es so gewiß, wie sie da saß, ein schönes, glückliches Weib in seinem jungen Heim.
Und doch kam plötzlich ein wildes Sehnen, ein banges, ratloses und irres Heimweh über ihre Seele – nach allem, was sie verloren und vergessen und hingegeben hatte in dieser einen, einzigen Nacht!