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*

Als ein Jahr später in Annemaries Garten die Rosen blühten, lag ihr eine liebliche Menschenblüte an der Brust. Ein Junge, der nur die großen, verträumten Blauaugen aufzuschlagen brauchte, um schon jetzt »ganz an die Mutter zu erinnern«, wie Frau Krüger sagte. Doch auch der Vater, der das Äußere des Knaben ganz vom gelehrten Standpunkt betrachtete, gab nach einigem Zögern zu, daß das Köpfchen des Kleinen sich zu einem »Langschädel« entwickeln und den Krügerschen Typus wiederholen werde. »Die Nase scheint die meine werden zu wollen,« sprach er, »vielleicht auch die Stirne. Aber sonst –« So weit angelangt, schwieg er immer und sah mit einigem Befremden auf das Kind herab, das sein Blut war und doch in der Knospe schon jetzt ein anderer Mensch als er: zart, still, blaß. In keinem Zug an die frische Kraft erinnernd und an die zuweilen fast derbfrohe Heiterkeit, die sich Wilhelm trotz aller Gelehrsamkeit zu erhalten gewußt. Ja, zuweilen schien es ihm fast, als hätte sich die geheimnisvoll waltende Bildnerkraft der Natur mit ihm einen seltsamen Scherz erlaubt und ihm wie zum Hohn ein Abbild Edwins in die Wiege gelegt. Seine goldblonden Haare waren es, sein verträumter, zuweilen plötzlich wie erstarrender Blick. Und nicht er allein bemerkte dies. Auch Frau Krüger hatte es sofort erkannt und in ihrer frommen Weise gedeutet.

»Vielleicht will es Gott so, damit diese unnatürliche Abneigung zwischen deinem Bruder und ihm endlich ein Ende nimmt.«

»Nicht Wilhelm hat damit begonnen!« erwiderte Annemarie dann, um der Gerechtigkeit willen. Und doch stand gerade diese Abneigung des bis in die innerste Seele lauteren Bruders wie eine fortwährende Warnung vor ihr, ob sie sich's auch nicht gerne gestand. Was hatte er gegen ihren Mann? Was hielt die beiden noch immer so fremd und herb auseinander?

Edwin stand noch immer am San. Aus der Waffenübung war ein »erhöhter Friedensstand« geworden. Aber sooft er auch an Annemarie schrieb, so innig er die Ankunft ihres »Rosenjungen« begrüßt hatte – außer einem kalten Gruß hatte er noch heute nichts übrig für den Gatten der Schwester.

»Er hat kein Vertrauen in seine sittliche Haltung,« sagte sich dann Annemarie mit leisem Groll. »Bloß weil mein Mann eine andere Weltanschauung hat!«

Aber Edwin war noch so jung. Man mußte sich bemühen, ihn zu verstehen.

Immerhin fiel es ihr auf, daß auch Wilhelm anfangs eine ganz seltsame Scheu bei jeder Berührung mit dem Kleinen an den Tag legte. Es blieb etwas Fremdes zwischen ihm und dem Kinde, trotz aller Zärtlichkeit. Ein Zurückscheuen vor der anderen Art, die er in ihr geliebt, in dem Bruder aber auch seinerseits immer instinktiv abgewehrt hatte. Was in ihrem Weibwesen ganz Liebe, Reinheit und Hingebung war, hieß, ins Männliche übersetzt: Treue, Keuschheit und Ausdauer. Und nicht ohne Schreck fiel ihr zuweilen ein, mit welcher Geringschätzung ihr Gatte von Konrad gesprochen, dessen Ähnlichkeit mit Edwins Art nicht zu verkennen war, den Wilhelm aber nur als halben Mann gelten ließ und noch heute zuweilen lächerlich machte. »Deine Romantiker!« nicht anders nannte er die beiden. Oder wohl auch: »eine Spezies, die Gott sei Dank im Aussterben ist.« Wie konnten die beiden ihm auch anders erscheinen? Ihm, für den es keine Seele gab, nur Triebe und Strebungen? Keinen Gott, nur Kraft und Energie?

Und doch zerrannen all diese heimlichen Sorgen in nichts, wenn sie den Vater über den Knaben gebeugt sah, das lebendige Band förmlich fühlte, das sie nun noch einmal so fest und innig mit dem Geliebten verknüpfte. Niemand, niemand konnte ihr die beiden mehr rauben! Und selbst wenn der Gatte vor ihr starb – da war ein Teil seines Selbst, der immer ihr eigen blieb – sie vielleicht im bloßen Ton der Stimme voll süßer Schauer an ihn erinnern würde; im Gang, in einem flüchtigen Lächeln – durch irgendeinen geisterhaft mahnenden Wesenszug – so wenig ähnlich er auch sonst ihm zu werden versprach. Zwei Wesen hatten sich in einem dritten aufs neue gefunden, um sich hinfort nie wieder zu verlieren!

Wie groß Gott war und wie einzig in seiner Schöpfung, ihr schauerndes Mutterherz begriff es erst an dieser Wiege ...

Damit dem Kleinen aber ja nichts fehle und alle Schönheit und der ganze süße Heimfriede des Vaterhauses sein Wachen und Träumen segne, hatte die junge Mutter jeden Gedanken an seine Erholung in der Fremde mit Zuhilfenahme irgendeiner stellvertretenden Pflege herb und fast eifersüchtig von sich gewiesen. Selbst Großmama durfte sich nicht mehr an ihn machen, als Annemarie für gut fand.

»Seht ihr denn nicht, wie sich seine Nasenflügel aufblähen, wenn ich bloß in seine Nähe komme – und einzig ich?« rief Annemarie in seligem Stolz. »Er riecht mich! Was würde er denn tun, wenn er mich eines Tages nicht mehr beschnuppern könnte. Und ich – ich hätte ja keine ruhige Stunde mehr, wenn ich mir da irgendwo in der Fremde denken müßte: nun hat er so lange geweint und die Fäustchen geballt und voll Trotz vielleicht sogar gehungert, bis ihn die liebe Not endlich doch an eine andere Brust gewöhnt hat. Nein, nein, ich bleib' bei Bubi!«

»Dein Mann wird aber seine Erholung brauchen!« erinnerte die Mutter.

So wurde endlich beschlossen, daß Wilhelm eine kleine Alpenfahrt machen sollte, um den Rest seiner Ferien dann am Gestade der Adria zu verbringen, wo er wieder »allerlei pelagischen Mulder« in seine Netze fangen wollte. Und Annemarie, die wußte, wie streng und ernst er sein Forschen nahm, war damit vollkommen einverstanden.

*

An einem dieser süß duftenden Juliabende geschah es, daß Mela wieder erschien, um die junge Mutter zu beglückwünschen und zugleich für den Sommer Abschied zu nehmen.

Sie traf Annemarie schon im Freien, mitten unter dem schaukelnden Grün der blühenden Linden, die huschende Schatten und spielende Lichter über die weiße Spitzendecke des zierlichen Wägelchens streuten, in dem das Kleine schlief.

»Nun hast du doch, was du dir so heiß gewünscht!« sprach Mela mit einem leisen Zucken der Lippen. »Dein Mann wird wohl außer sich sein vor Freude und Stolz?«

»Du irrst,« lächelte Annemarie. »Er ist ganz ruhig. Ruhig und sicher, wie es dem wirklichen Glück zukommt.«

»Das wirkliche Glück!« wiederholte Mela achselzuckend. »Wo gibt es das? Es hätte sich denn eigens zu euch herausgeflüchtet. Aber verzeih, das ist mir jetzt bloß so entfahren.«

Sie nahm Platz und schüttelte wie irritiert die weiße Federboa von den Schultern.

»Mela,« sprach Annemarie gütig, »warum suchst du nicht auch dein Glück festzuhalten? Ich meine dein eigenes Glück! Du läufst die ganze Welt danach ab, und es wohnt vielleicht noch immer bei dir daheim und wartet nur, daß du nach seiner Hand greifst.«

»Laß uns davon schweigen!« fuhr Mela fast gereizt empor. Und sie schwieg eine Weile. Dann beugte sie sich neugierig über das Wägelchen. »Er schläft wohl, dein kleiner Prinz? Darf man einen Augenblick die Vorhänge lüften?«

Annemarie tat es selbst in süßem, besorgtem Mutterstolz.

Da lag er, die linke Wange auf dem geballten Fäustchen, das kleine Mäulchen wie eine halberschlossene Rosenknospe dem leisen Hauch der Atemzüge geöffnet, einige zarte Schweißperlen auf der drollig gerunzelten Stirne, zärtliche Grübchen an den runden Handgelenken – selig verloren in den bewußtlosen Träumen des ersten irdischen Schlafes.

»Süß ist so was schon!« sprach Mela wie in leis emporschauernder Weibesandacht! »Aber schließlich – wenn es einem nicht bestimmt ist – so leb' ich doch mein Leben!«

Annemarie sah sie voll Muttergüte an. »Auch du hast einmal davon geträumt, Mela. Und wie du jetzt sprichst, tust du mir leid. Denn wer von uns hätte sein Leben bloß für sich empfangen?«

»Ach du,« lachte Mela auf. »Die Religiöse!«

»Alles Leben ist Liebe, Mela, bis auf Gott zurück. Und jede echte Liebe Religion.«

»Wie es der Pfarrer sagt,« zitierte Mela. »Aber, Annemarie, wer glaubt heute noch daran? Auch die Frau will heutzutage ihr Leben genießen und sich nicht vom zwanzigsten Jahr ab wieder in die Kinderstube einschließen lassen, der sie erst mit dem siebzehnten entronnen ist. Schau' doch in unserem Kreis herum ... Außer dir ist noch keine Mutter geworden. Und die Wissenschaft selbst gibt uns das wie ein Recht an die Hand –«

»Eine ruchlose Wissenschaft,« fuhr Annemarie empor.

»Pardon,« wehrte Mela ab. »Ich meine nicht diesen – diesen gewissen Mord. Bloß die Verhütung. Und wenn ich nicht irre, hab' ich deinen Mann selbst einmal in einer Gesellschaft sich darüber äußern gehört, daß es fast eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit sei. Oder hat er bloß mit dir nie darüber gesprochen? Schließlich –,« sie lächelte frivol – »das könnt' ich begreifen!«

Ein flüchtiger Schatten huschte über Annemaries Stirne. Ob sie es wußte! Und während ihr Blick nach dem schlummernden Kinde glitt, entsann sie sich plötzlich wie mit einem leisen Schauer, daß es ganz gewiß nicht die Seele des Vaters war, die mitgezeugt hatte an diesem Leben. Nicht sein Wunsch. Auch er hatte sich nur die Geliebte im Weib erhalten wollen. Darum sah wohl das Kind auch nur ihr ähnlich. Die es auch durch ihre Sehnsucht ins Leben gerufen.

Und wieder war ihr, als ertappe sie Gott selbst auf einem der geheimnisvollen und heiligen Wege, an denen er die Tore des Lebens öffnet und schließt, daß sie im innersten Herzen erbebte.

»Wie mein Mann als Gelehrter darüber denkt, weiß ich nicht,« wich sie aus. «Daß aber eine solche Übung der Untergang eines ganzen Volkes werden kann, davon bin ich überzeugt.«

»Man ist doch nicht bloß dieses oder jenes Volk!« warf Mela naserümpfend ein. »Ich lebe auch für mich –«

Annemarie sah sie an und nickte ihr fast traurig zu.

»Du denkst wohl recht gering von mir, Annemarie?« fragte Mela gereizt.

»Nein, Mela,« kam es ernst zurück. »Ich möchte dich nur bloß auch einmal glücklich sehen! Denn was du auch sagst und wie du auch tust – du bist es nicht.«

War es ihre, jedem Wesen plötzlich offene Muttergüte, oder der Blick in das Antlitz des friedvoll und schuldlos schlummernden Kindes, was die reulose Sünderin plötzlich zwang, das Antlitz zu neigen und mit zuckenden Lippen den Tränen zu mehren, die ihr ins Auge traten?

»Nur jetzt nichts reden,« dachte Annemarie. »Wo das Gute in ihr vielleicht selbst wie ein Neugeborenes zum ersten Mals die Augen aufschlägt!«

Wie Madonnenfriede hing es um die drei, daß nur die leisen Atemzüge des schlummernden Kindes einen Augenblick wie der Hauch Gottes in das tiefe Schweigen hineinwehten ...

Da erschollen Wilhelms Schritte. Er war aus seinem letzten Kolleg heimgekehrt und rief schon von der Biegung des Laubganges ein fröhliches »Prosit die Ferien!« herüber. Und ja – Annemarie sah es mit Staunen und wachsender Verachtung, wie unglaublich rasch sich Melas Wesen zierte und verwandelte, so wie ein Mann nur in ihre Nähe kam.

»Gnädige Frau haben sich wieder einmal unser erinnert?« hörte sie den Gatten fragen. Dann fühlte sie seinen warmen Händedruck. Alles wie in einem Traum. Denn ihr Blick kam noch immer nicht los von Mela.

Da stand sie – schön, schlank, siegesdurstig und siegesgewiß – selbst wie ein Stück Sommerhimmel anzuschauen in dem duftigen bleu Linonkleid mit den weißen Cluny-Einsätzen, das, seitlich geschlitzt, feines Spitzengeriesel der Dessous sehen ließ und den Schuh aus weißem Antilopenleder. Die langfransige Federnboa schmiegte sich wie eine zärtliche Schlange an ihre Hüften. An dem tiefen und spitzen Ausschnitt der durchscheinenden Bluse duftete eine blasse La France.

Der Paradiesreiher des koketten Hütchens legte sich kosend an die ondulierten Wellen des tiefbraunen Haares, das selbst ihre Ohren verdeckte und gerade nur so viel von den bernsteinfarbigen Läppchen freiließ, daß man die kostbaren Smaragde sehen konnte, die einen grünlichen Schiller über die leicht geröteten Wangen hauchten. Und all diese schwülen Parfüms, die wieder um sie waren! Das »Nénuphar« ihrer Badetabletten, der feine Ambrahauch des Reihergestecks, der süße Atem der Rosa centifolia, der immer und überall wie eine heiße Sommerwolke um sie hing.

Die schillernden Augen aber glinserten wie das Grün ihrer Smaragde, und deutlich sah Annemarie, wie kokett und berechnet die anmutige Lässigkeit war, mit der Mela sich nach der Begrüßung auf ihren Stuhl zurücksinken ließ.

»Ich erinnere mich Ihrer sehr oft,« nahm sie Wilhelms Vorwurf auf. »Aber Annemarie war erst einmal bei mir, und auch das mehr notgedrungen –«

Wie erwartungsvoll sah sie dabei die Freundin an.

»Annemarie ist jetzt vollauf beschäftigt, wie Gnädigste sehen!« lächelte Wilhelm.

»Gewiß. Und man muß euch beiden wirklich Glück wünschen,« meinte Mela, mit einem zerstreuten Blick in den bunten Rosenflor des Gartens hinein. »Alles blüht hier. Die Erde und die Menschen. Mir trägt es eben bloß – Schnittblumen.«

Ihre Stimme sank, die schönen Augen schlossen sich. Wer sie nicht kannte, mußte Mitleid mit ihr haben.

»Aber – Sommerpläne werden Gnädigste doch auch schon haben?« lenkte Wilhelm ab.

Sie atmete lang und wie erlöst auf. »Gott sei Dank, ja! Diese drei Monate im Jahr, die mich immer so weit wie möglich forttragen, machen mein Glück aus. Ich hab' zwar noch kein bestimmtes Ziel – aber so halb und halb bin ich doch schon im reinen. Zunächst möcht' ich nach Innichen. Dann, wenn der Herbst langsam bunter wird, nach Bozen. Oder ich lasse Bozen und bade am Lido. Wen die Wellen dort einmal getragen haben, der vergißt sie ja nie.«

Und ein wohliges Dehnen ging durch ihre Glieder. Eine Bewegung, die am Strande selbst natürlich und schön gewesen wäre, hier aber fast etwas Laszives hatte.

Annemarie machte sich an dem Wägelchen zu schaffen und lächelte ruhig vor sich hin.

›Wenn du mich vielleicht eifersüchtig machen willst,‹ dachte sie, ganz ihres Glückes sicher. ›Du Arme!‹

»Und ihr?« hörte sie Mela fragen.

»Wo denkst du hin?« erwiderte die junge Mutter. »Ich bleibe natürlich zu Haus!«

»Daß ich mir's nicht gedacht' hab!« lachte Mela klingend auf. »Du stillst gar am Ende selbst?«

»Das tut jede gewissenhafte Mutter heutzutage, meine Gnädigste!« sprach Wilhelm ernst.

Mela erwiderte nichts. Doch ihr Blick hob sich und schlich mit einem ganz unsagbaren Ausdruck des Bedauerns zu Annemarie hinüber, der in diesem Augenblick fast etwas Verletzendes hatte; wie ein beiläufiges Abschätzen dessen war, was nach all ihrer mütterlichen Hingabe von Annemaries Schönheit noch übrigbleiben würde.

»Du brauchst mich nicht zu bedauern, Mela,« lächelte die junge Mutter verklärt. »Es ist das Süßeste, was ich mir denken kann.«

»Diese – Weibchentalente fehlen mir also entschieden!« lachte Mela silbern auf. »Aber – verzeihe, Annemarie, du kennst mich!«

»Ja,« nickte Annemarie mit einem traurigen Blick. Sie staunte, daß Wilhelm schwieg. Etwas hätte er nun doch sagen müssen! Doch er saß mit gesenkten Augen da, halb verlegen, halb versonnen. Und Mela ließ den weißen Halbschuh gerade vor seinem Blick aus den Spitzen des geschlitzten Unterkleides hervorschlüpfen und schlug mit dem zierlichen Füßchen auf dem leise rieselnden Kies den Takt zu den Worten, die Wilhelm nicht fand.

»Nun zeigt sie, daß auch ihr Fuß kleiner ist als der meine,« dachte Annemarie angewidert. Aber sie lächelte weiter. Selbst zu den Unarten ihres Gastes. Wer so reich war wie sie, konnte alles vergeben.

*

Als der Herbst seine bunte Fülle über die Lande auszuschütten begann, war Wilhelm schon einige Wochen unterwegs. Erst hatte er, seinem Versprechen getreu, von Station zu Station einen Brief geschrieben. Nun ging es wohl rascher vorwärts. Denn seit einigen Tagen trafen nur Karten ein. Er war von den Alpen über den Karst langsam nach jenen Gegenden abgebogen, die vor kurzem noch der Schauplatz des Balkankrieges gewesen waren. »Um doch etwas von dem Hauch der Weltgeschichte zu verspüren,« wie er schrieb. Und Annemarie nahm an der Wiege ihres Kindes immer wieder die bunten Ansichtskarten zur Hand, die sie wenigstens im Bilde mitgenießen ließen, was ihr Mann nun mit voller Seele in sich aufnahm. Sie gönnte es ihm ja so herzlich! Nach all den Mühen, mit denen sein Amt und das neue Werk ihn belastet hatten.

Wenn ihr von Zeit zu Zeit auch die Einsamkeit etwas auf die Seele fiel – ein Blick ins Antlitz ihres Kindes öffnete dem Mutterherzen einen Himmel, den sie für alle Paradiese dieser Welt nicht eingetauscht hätte. Ob sie nun – oft mitten in der Nacht – dem immer durstigen, kleinen Mäulchen zu Willen sein mußte – oder nach all dem besorgten Halbschlummer morgens süß müde mit dem Kleinen in dem immer reicher blühenden Garten saß: Träume spinnend, ganze Bilder in die verhüllten Lande seiner Zukunft hineinschauend ... aus all dem Sinnen zuweilen durch Bijuttis leises Geknurr emporgeschreckt, der an ihrer Seite sich langsam zu einer vierbeinigen Aja entwickelt hatte, in gespannter Aufmerksamkeit auf jede Regung des Kindes lauschend – und Annemarie mit drolliger Beflissenheit sofort an ihre Mutterpflicht erinnernd.

Hatte sie dann das Kleine an die Brust genommen, gönnte sich auch Bijutti eine Weile Ruhe und lag, Mutter und Kind hütend, mit halb geschlossenen Augen zu Annemaries Füßen.

So traf sie eines Tages der einzige, noch lebende Bruder ihrer Mutter, Onkel Paul, der nach einem vielbewegten, aber immer dezent verhüllten Junggesellenleben nunmehr nur noch seine Gicht und die Würde seines Amtes zu hüten hatte. Als dem Vertreter einer der obersten Richterstellen des Landes war ihm die Pflicht, seine eigene Meinung immer ganz hinter den Begriff einer Rechtsbestimmung zurücktreten zu lassen, allmählich so zur zweiten Natur geworden, daß ihm »die Maske festgewachsen war«, wie er sagte; er selbst nur mehr »ein wandelnder Paragraph« sei, wenn sich nicht von Zeit zu Zeit noch »der alte Bauchredner« in ihm meldete, mit welch geheimnisvollem Geschöpf er seine eigentliche Natur meinte.

Und aus diesen Zwiegesprächen zwischen seiner »forensischen Verlogenheit« und seinem »durchaus wahrhaftigen Untermenschen« hatte er sich mit der Zeit eine geradezu beißende Lebensphilosophie zurechtgelegt, die allerdings nur im Kreise seiner Freunde und Verwandten zu Wort kam, hier aber auch nichts und niemanden verschonte, zuletzt das »verzopfte Recht«, dessen Vertreter er war.

Annemarie, die den schrullenhaften Widerwillen des alten Herrn gegen alles kannte, was die Menschen gemeinhin Familienglück nannten, sprang in einer Aufwallung jäher Freude empor. Hatte sie's doch schon als Kränkung empfunden, daß der Onkel, dem sie selbst als Kind sehr zugetan war, es bis heute verschmäht hatte, sich ihren Jungen anzusehen. Doch schon nach den ersten Worten merkte sie, daß der verbissene Junggeselle zunächst in einer anderen Absicht gekommen war und den Kleinen bloß mit einem flüchtigen Interesse betrachtete, ja fast mit einer Art Scheu.

»Wenigstens kenn' ich jetzt den, der mir auch meine letzte Liebe abwendig gemacht hat,« scherzte er mit verbissener Galanterie für die junge Mutter, deren Besuche vor der Geburt des Kindes immer etwas Farbe und Frohsinn in seine Galligkeit gebracht hatten. Dann ging er mit der den Juristen eigenen Sachlichkeit sogleich auf sein Ziel los.

»Erinnerst du dich, daß dein Mann dir gelegentlich von einem gewissen Doktor Markesicz gesprochen hat?« fragte er, mit einem gewissen Unbehagen an seiner dunkelblauen Brokatkrawatte herumrückend, die wie alles an dem alten Herrn ganz neueste Mode und letzte Eleganz war. »Er ist Arzt, da irgendwo in Niederösterreich, und hat bei uns einen nicht ganz reinlichen Scheidungsprozeß hängen. Und weil er nun – durch deinen Mann vermut' ich, erfahren hat, daß er durch seine Heirat auch mit mir jetzt irgendwie zusammenhänge, hat er sich natürlich sofort der gemeinsamen Semester erinnert und daraus das Recht auf einen Überfall bei mir hergeleitet. Anatol Markesicz heißt er –«

»Gewiß,« nickte Annemarie. »Ich entsinne mich. Und ich glaube, daß die zwei einmal sogar recht gute Kommilitonen waren.«

In die verkniffenen Äuglein des alten Herrn kam ein etwas nervöses Geblinzel. Dann räusperte er, hart und trocken. »Kommilitonen, so! Na ja. In seiner Jugend mag er ja anders gewesen sein. Und wenn ich ihm zufällig wo bei einem Junggesellendiner begegnet wäre, hätten er und mein Bauchredner sich sofort verstanden, glaub' ich. Weniger angenehm ist es mir, daß er sich in derselben Angelegenheit an den Richter wendet, unter Bezugnahme auf diese Jugendfreundschaft und, hm – und Verwandtschaft. Es steht also fest, daß dein Mann dir von ihm gesprochen hat?«

»Und immer nur als von einem ganz hervorragenden Menschen,« bemerkte Annemarie. »Der nicht nur ein tüchtiger Arzt ist, sondern auch ein geistvoller Gesellschafter und geradezu bedeutender Musiker. Dabei allerdings zuweilen etwas unberechenbar. Auch sagte Wilhelm, daß Doktor Markesicz eine Lehrkanzel, die ihm schon angeboten war, brüsk abgelehnt habe, wenn ich mich recht erinnere.«

»Na – lassen wir das,« meinte Onkel Paul, mit einem skeptischen Lächeln. »Ich habe jedenfalls mit anderen Eigenschaften dieses Polen zu tun. Und da er gestern bei mir war und mich nach den ersten Worten trotz aller angezogenen Beziehungen sofort bis an den Hals zugeknöpft fand, vermut' ich nun, daß er sich jetzt vielleicht an dich wenden will, und da wollt' ich dir nur sagen, daß ich, soweit ich bis jetzt diese Angelegenheit überblicke, durchaus nichts für ihn tun kann!«

»Aber Onkel,« staunte Annemarie, – »damit – kann er einer Frau doch zuletzt kommen. Und Wilhelm ist fort.«

»Übrigens ist er wirklich ein entzückender Mensch sonst,« meinte der alte Jurist. »Und wenn es auf meinen Bauchredner ankäme, der könnte ihm auch nach der anderen Seite gerecht werden. Hoffentlich ist die Ärztekammer weniger verbissen als mein Paragraph –«

»Onkel,« rief Annemarie, »es geht ihm doch nicht an die Existenz?«

Der alte Jurist zog den Kopf zwischen die Schultern und ließ diese ebenso rasch wieder sinken. »Laß dir was sagen, mein Kind,« lachte er dann zynisch. »Kanaillen sind wir mehr oder weniger alle – ich meine die Männer, was das betrifft! Nur – gewisse Dinge darf man eben nie auf den Markt bringen. Und nun geh' ich. Du bist gewarnt.«

»Aber Onkel,« stammelte Annemarie. »Alle? Alle können doch unmöglich so sein. Das kommt dir so vor, weil deine Akten immer nur mit diesen Angelegenheiten zu tun haben.«

Der alte Herr zog die Mundwinkel herunter. »Na, lassen wir's! In meinen Jahren sind natürlich alle tugendhaft, wie Shakespeare sagt. Und nun, Schluß!«

Er erhob sich.

»Schau,« sagte Annemarie, mit seligem Mutterstolz noch einmal nach dem Kleinen weisend, der mit geballten Fäustchen schlafend, das Zünglein zwischen die rosigen Lippen geklemmt, in süßem Frieden dalag ...

»Na ja,« hüstelte Onkel Paul. »Wird auch nicht anders werden! Übrigens –,« und er bemühte sich, so zärtlich als möglich dreinzuschauen, »seit ich weiß, daß er kein krebsroter Fötus mehr ist, werde ich öfter kommen.«

»Wer weiß –?« und er legte den silbernen Knopf seines Gehstockes etwas nachdenklich an die Nase – »wer weiß, was aus dem meinen geworden wäre?«

»Ja – hast du denn jemals einen gehabt?« staunte Annemarie betroffen.

Onkel Paul schüttelte sich. »Behüte. Wie man eben von einem Schicksal spricht, dem man glücklich entronnen ist, wenn man einen so gewissenhaften Bauchredner hat wie ich, der unserer forensischen Verlogenheit wenigstens daheim das Mundwerk abnimmt.«

»Behüte dich Gott, Annemarie!«

*

Es war anfangs Oktober, und die fernen Buchenwälder leuchteten schon im Purpur des Herbstes. Annemarie begann das Haus für die Rückkehr des Gatten zu rüsten. Er hatte dann noch zwei Wochen Ferien, und die wollte sie mit ihm und Kleinchen genießen.

Weil die Sonne aber Tag für Tag immer goldener vom Himmel schien und die Fernen gar so klar und rein lockten, begann Annemarie ihren Jungen nun auch langsam in die Welt hinauszuführen. Bald nach Tisch, wenn die Sonne noch hoch stand, ging es ins Freie hinaus, immer der schönen Straße nach, die zwischen grünen Wiesen und frisch bestellten Äckern dem fernen Wald zuführte, der in dem herbstlichen Bunt seiner Farben wie eine leuchtende Abendwolke am Horizont stand.

Anna schob das Wägelchen mit dem Kleinen. Annemarie schritt in seligem Mutterstolz nebenher. Hoch im Blauen sangen die Lerchen ihrem blonden Prinzlein das Schlummerlied. Und wenn Klein-Wilhelm dann erwachte und mit drollig verdutzten Äuglein in die unendliche Himmelskuppel emporsah – einen flüchtigen Moment wie in schwindelndem Bangen das Mäulchen verzog, um gleich darauf den Blick den beiden Hüterinnen seines kleinen Menschenschicksals zuzukehren, zog es jedesmal wie ein unendliches Glück in Annemaries Herz ein.

»Seelchen, kommst du zu mir?« konnte sie dann mitten im Feld aufjubeln. Anna aber meinte mit der ihr eigenen Bedächtigkeit: »Keine fünf Monat hat er und erkennt uns schon! Das wird ein g'scheiter Bub werden.«

Tag für Tag zu solch fröhlicher Fahrt ausziehend, hatte Annemarie bald das ganze Gelände abgestreift. Bis an den Wald war es zu weit und wär' es zu spät geworden. Aber die Wiesen lagen so warm und sonnig, und da war noch ein kleiner buschumgrünter Hohlweg, der zwischen sanftabfallenden Hängen auch noch irgendwohin führte, wo Annemarie noch nicht gewesen war. So schlug man eines Tages auch diese Straße ein ...

Die Brombeersträuche, die bis an den Weg herankrochen, hingen noch voll schwarzer Beeren, und Anna machte immer wieder halt, um sich die Schürze voll zu pflücken, während Annemarie die zarten Parnassien brach, die so verträumt am Wiesenrand blühten, und die seidenen Herbstzeitlosen, die wie blasse Flämmchen schon überall aus dem Boden stachen. So ging es eine Weile fort, bis die kleine Mulde fast plötzlich in eine offene Landstraße mündete, die den Blick wieder nach den Hängen des Wiener Waldes frei ließ und nach den zierlichen Dörfchen, die, zwischen weiche Hügel und grüne Wiesen eingebettet, da und dort gastlich herüberwinkten.

Auch an Annemaries Straße lag so ein Ort, und das erste seiner Häuschen war eine »Busch'nschenke«, aus der das lustige Gefiedel eines Wiener Musikantentrios klang. Über die grüne Hecke hinweg sah man Bürger und Bauern gemütlich ihren »Heurigen« trinken, und zwischen den ungedeckten Tischen trieben sich die Hühner herum. Selbst ein rosiges Ferkel war da und quiekte, bis an den Hals in eine Pfütze eingegraben, als viertes in das lustige Gezirp der Geigen und »Klampfen« hinein. Dem Hause gerade gegenüber aber stand ein wettergebräuntes Wegkreuz, und ein bleicher Christus lächelte verscheidend in den Glanz der Sonne hinein.

So einsam hing er da, so ganz allein, ob auch nur über eines Weges Breite die Freude der Menschen lärmte und sich Genüge tat.

In der Art, wie der Heiland das Haupt neigte, trotz aller Qual noch voll heiliger Geduld und Hingebung lächelte, lag eine Ähnlichkeit, die Annemarie ganz seltsam an den Kruzifixus des alten Betschemels erinnerte, den sie in ihrem Mädchenzimmer zurückgelassen. Und je länger sie hinblickte, desto größer und sprechender schien ihr diese Ähnlichkeit. Daß ein ganz merkwürdiges Gefühl über sie kam – halb Sehnsucht, halb Reue und die alte mystische Liebe jener Tage.

Als wäre das eigene Kreuz ihr so lange nachgezogen, damit sie es eines Tages wieder an ihrer Straße fände und sich jener Zeit erinnere!

»Kommen Sie, Anna, wir fahren dort hinüber,« sprach sie leise. »Ich will dem Heiland meine Blumen geben.«

Und während das Mädchen ein kurzes Gebet sprach und Klein-Wilhelm im Schatten des Kreuzes ruhig weiterschlief, hob Annemarie sich auf die Zehen und legte die bleichen Parnassien und die lila Herbstzeitlosen und einige wilde Verbenen, die wie dunkle Kinderaugen aus den weißen Blüten sahen, leis und bewegt zu den Füßen des Erlösers nieder.

Ein schräger Sonnenstrahl, der ihr gerade in die Augen fiel, zwang sie zu einer plötzlichen Wendung. Wie erwachend streifte ihr Blick noch einmal die Schenke, aus der die lustigen Töne über den Weg klangen – und da – nein, träumte sie? da war ihr mit einem Male, als sähe sie mitten in Konrads Antlitz hinein und er stünde wieder an ihrem Weg, wie damals im Walde, in der einen Hand den Hut, in der anderen –? Nein, keine Blumen waren es diesmal – vielmehr ein dunkler, kleiner Gegenstand, den Annemarie auf den ersten Blick für eine Tasche hielt, die er rasch und fast verlegen unter dem Überrock barg, der ihm über dem Arm hing.

War es wirklich ein Traum?

Aber nein, dort schritt er, noch einmal tief grüßend, vorüber, mit einem dunklen Seitenblick das Wägelchen streifend, in dem das Kind des Mannes lag, den er haßte ...

»Der Herr hat schon zum zweitenmal gegrüßt,« erinnerte das Mädchen. »Er wird die Gnädige kennen.«

Annemarie aber stand noch immer regungslos da und sah mit großen Augen um sich, wie von einem seltsamen Ahnen durchschauert, das sie förmlich zwang, das Bild des Ortes sich noch einmal tief in die Seele zu prägen: dort die Schenke, mit den frohen Tönen des Lebens; hier das Kreuz und darunter ihr friedlich schlummerndes Kind. Als würde sie dieses alles noch einmal sehen in ihrem Leben, gerade so und in einer Stunde, die an einer Wende ihres Schicksals schlug.

»Gehen wir,« sprach sie dann leise, und wie von einem Schauer angeweht, der aus Fernen kam, in die nur Gott hineinsieht ...


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