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Draußen fiel schon der erste Schnee nieder, und Annemarie war noch nicht aus dem Haus gekommen. Für die tägliche Bewegung im Freien, die der Arzt ihr angeordnet, genügte der alte, stille Garten. Bis zu den Füßen in ihren weichen Pelzmantel gehüllt, schritt sie langsam und versonnen zwischen den verschneiten Hecken hin und her, meist im dämmernden Rot der winterlichen Mittagssonne, oft über auch in der tiefen Stille des abendlichen Schweigens, wenn die weite Landstraße draußen ganz ruhig lag und der volle Mond kalt und klar auf sie niedersah.
Und dann träumte Annemarie von ihrem Kinde. Von dem Wesen, das dies alles noch nicht sah, das für die Welt noch nicht da war und doch schon lebte – ein zartes, geheimnisvolles, dämmerndes Leben, von dem nur Gott wußte und sie ... Was ging in dem jungen Menschenleib vor, der sich da in ihr bildete? Schon war sein Herzschlag fühlbar. Sein erstes Regen, dem leisen Flügelschlag eines träumenden Vogels vergleichbar, hatte ihr schon den ersten süßen Mutterschreck gebracht. Seitdem hatte sie begonnen, das junge Geschöpf zu lieben. Fast verschämt, in der ihr eigenen stillen Weise, mit der heimlichen Andacht einer Seele, die noch Ehrfurcht hatte vor den Dingen, an denen das Wissen der anderen schon mit den rohen Griffen der Schulbubenweisheit herumfingerte.
In dem Bücherschrank ihres Gatten stand das Werk eines berühmten Naturforschers, das auf zahlreichen Tafeln die allmähliche Entwicklung des menschlichen Keimes veranschaulichte. Ganz zufällig hatte Annemarie einmal gerade dieses Buch herausgegriffen, es aber sofort wieder geschlossen. Einige Wochen später fand sie es auf ihrem Arbeitstisch. Ihr Gatte hatte es hingelegt und sich angetragen, ihr von Blatt zu Blatt den Werdegang des jungen »Menschentieres« zu erläutern, der für die Wissenschaft so gar kein Geheimnis mehr schien. Und während er das Buch wie spielend aufgeblättert hatte, war Annemaries Blick auf einer Tafel haften geblieben, die das Kind im fünften Monat seines Werdens wiedergab. Von dem zarten, durchsichtigen Amnion wie von einem Schleier umschlossen, saß es mit gekrümmtem Rücken wie lauernd da, die zarten Gliedmaßen eng an sich gezogen, beide Händchen an den Strang gelegt, der es hielt und ihm die Nahrung von Leib zu Leib vermittelte. Die noch unbewimperten Augenlider waren fest geschlossen, das kahle Köpfchen wie in einem tiefen Schlummer geneigt, über das kleine Antlitz der Ausdruck einer solch demütig-tragischen Hingebung an das eigene Werden gebreitet, daß die junge Mutter plötzlich in einem Strom von Tränen ausbrach und beide Hände vor das Antlitz legte, um das erschütternde Bild nicht mehr zu sehen.
»Aber Annemarie,« hatte der Gelehrte mit seinem überlegenen Lächeln gestaunt, »wie kann dich etwas, was so ganz und gar natürlich ist, in solcher Weise erschüttern?«
»Eben darum,« hatte sie, wie von einem Schauer überrieselt, geantwortet. »Weil ich jetzt erst sehe, daß der Fluch, den Gott im Paradiese über uns ausgesprochen, bis auf den werdenden Menschen zurückgeht. Woher käme sonst dieser tragische Ernst schon in das Antlitz eines Geschöpfes, das erst wie in einem Traum empfindet, daß es in dieses Leben hineingeboren werden soll –?«
»Du bist eben leidend,« hatte ihr Gatte damals gesagt und das Buch wieder ruhig zugeklappt. »Aber wenn du dein Kind zum ersten Male lachen hören wirst, – so lachen, wie eben nur Kinder lachen können, dann denk' ich, reden wir wieder davon.«
»Dann steht es eben schon im Banne dieser Welt,« hatte Annemarie ihm geantwortet, »die uns alle betrügt und auch um dieses Erinnern bringt, das selbst dem Embryo wie ein Grauen vor der Menschwerdung auf der Stirne geschrieben steht.«
Ihr Gatte war ihr damals die Antwort schuldig geblieben, beim Abendessen aber gelegentlich der Polemik seines Leibblattes mit einem gelehrten Theologen wieder einmal um so heftiger über die Pfaffen hergefallen. Die es schon von den Urzeiten an so gut verstanden hätten, »diese schauernde Angst in die Seele der noch unwissenden Menschen zu pflanzen,« die seither eine der »großen Suggestionen« geblieben war, durch die sie den Willen der Dummen banden. –
Oft und oft hatte die junge Mutter seither an dieses Gespräch zurückgedacht. Meist in der Einsamkeit dieser abendlichen Gänge durch den vereisten Garten. Wenn der Schnee in leisen Flocken ganz sacht aus den Zweigen der Büsche fiel, und niemand um sie war als Bijutti, der es sich nicht nehmen ließ, auch auf diesen Gängen wie schützend hinter ihr herzutrollen. –
Hatte ihr Gatte recht?
Annemarie war zu gebildet, um nicht zu wissen, mit wieviel Ungerechtigkeit und Blutschuld so ziemlich jede Religion belastet war. Auch die Kirche Christi. Aber nur um so reiner und göttlicher leuchtete ihr dann aus all dem Menschenwerk die ewige Gestalt des Heilandes entgegen und die überwältigende Größe seines sittlichen Willens, daß ihr alles Nachdenken darüber zuletzt immer wie ein Bild des Abends ward, der sie umgab: ringsum alles dunkel und wie tot das erstarrte Leben der Erde, gefangen in Nacht und Frost – über ihr aber das Firmament mit den leuchtenden Sternen Gottes – den Zeugen, die nach einer Welt wiesen, an die zuletzt doch nichts hinanreichte als der Glaube und die Liebe – was immer die Menschen auch davon zu wissen meinten.
Alle Liebe aber, die sich in ihrem Herzen barg, alle Kraft ihres Willens und die ganze Güte ihres Wesens wollte sie dereinst über das Geschöpf hinströmen lassen, das Gott mit der Erkenntnis seines schuldbeladenen Ursprungs gezeichnet hatte – mit diesem tragisch-feierlichen, erschütternd-fürchterlichen Ernst des Ausdruckes, ehdenn es sehen und hören und reden und klagen konnte ...
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Es war in diesen Tagen, daß ihr ein lange und fast schamhaft gehegter Wunsch in Erfüllung ging: der jüngste ihrer Brüder, ihr Liebling, betrat zum ersten Male die Schwelle ihres jungen Heims.
Annemarie wußte, daß Edwin bald nach ihrer Hochzeit eine Reise nach Südfrankreich angetreten hatte, und sie wußte auch, daß er auf der Rückreise in Paris mit Konrad zusammengetroffen war, der sich wegen ernster Studien dahin begeben hatte. Sein erstes Werk, eine Arbeit über die Philosophie Abälards und seiner Zeit, sollte dort vollendet werden, wo der glanzvolle Ruhm und die tragische Liebe des mittelalterlichen Meisters sich zu einem Schicksal verdichtet hatten, das allen empfindsamen und liebenden Herzen dieser Welt noch heute heilig ist. Und weil Annemarie aus den Briefen Edwins an die Mutter von diesem Zusammentreffen wußte, hatte sie es bisher fast ängstlich vermieden, auch nur mit einem Wort von dieser Reise zu sprechen. Kannte sie doch die Eifersucht ihres Gatten und wußte, wie herb sie noch durch die Empfindlichkeit genährt wurde, die in dem eigenen Bruder der Gattin den unversöhnlich mitleidenden Freund des Zurückgewiesenen sah. Heimlich aber und ganz für sich hatte Annemarie oft und oft an den fernen Bruder gedacht, der wie ein junger Minstral in das Land der Troubadours gezogen war, um den Spuren des großen Humanisten Petrarca zu folgen, der seine, vielleicht um nichts weniger entsagungsvolle Liebe zu Laura in jene unsterblichen Sonette ergossen hatte.
Einmal, nur ein einziges Mal, war ihr Gatte mit dem ihm eigenen kühlen Spott auf diese »Pilgerfahrt der Enttäuschten« zu sprechen gekommen. Aber auch damals war Annemaries Seele nicht aus einem Schweigen zu locken gewesen, das sie beiden Teilen schuldig zu sein glaubte. Je länger aber der Bruder ihr ferne war und je mehr sich ihr das innerste Wesen des Gatten im täglichen Zusammenleben erschloß, desto klarer begriff sie, daß es nicht bloß eine flüchtige Abneigung, daß es vielmehr eine ganze Welt war, die zwischen Wilhelms Art und Edwins Empfinden lag und die beiden wohl für immer trennte: die hohe, fast übersinnliche Gedankenwelt, in der Konrad lebte und webte. Da konnte es ihren Gatten durchaus nicht versöhnlich stimmen, daß gerade sein Nebenbuhler eine solche Kluft zwischen ihn und den Menschen gelegt hatte, dem Annemarie nach ihm am herzlichsten zugetan war.
Und nun saß er vor ihr und sah mit den großen, zärtlichen Pagenaugen in die ihren, tief, tief und mit einem fast ängstlich-zornigen Fragen.
»Sonst – bist du also wirklich wohl, Annemarie?«
Sie strahlte seinen Blick zurück. Da entspannten sich seine Züge. Ein weiches, unsäglich schönes Lächeln verklärte sein Antlitz.
»Du aber bist gewachsen,« sprach Annemarie leise nickend in sein aufatmendes Schweigen hinein.
»Das will ich meinen! Und wär' es nur von dem vielen Herumklettern in und um Avignon. Ach, Annemarie,« – und seine schlanke Pagenfigur dehnte sich – »wie gemein und nüchtern ist doch seitdem unser Leben geworden!« Er legte die Hand vor die Augen, seufzte leise auf ...
»Ich werde sie nicht los, diese gotischen Dome, diese dämmernden Refektorien, die gleichsam hallende Stille dieser blumenumsponnenen Kreuzgänge – die, wie mit leiser Kinderstimme klagende Poesie dieser gefallenen Burgen und Schlösser. Die Straßen sind so weiß ... wie geschmolzenes Silber flimmern sie zuweilen im Sonnenbrand. Man lechzt dort oft nach dem wohligen Grün unserer Wälder. Und doch! Nicht einmal diese Straßen kann ich vergessen! Minnesänger und Ritter und Kreuzfahrer sind darüber hingezogen, und es könnte Laura sein, die uns in jeder Ecke in Avignon begegnet. Abends, wenn es dämmert und die mandelförmigen Augen der Frauen, die zur Vesper ziehen, ebenso heiß als mystisch unter den weißen Schleiern hervorleuchten. Und dann kommt man zurück und ...« Er sah wie ein Erwachender um sich und verstummte.
»Und bei mir gefällt es dir auch nicht?« fragte Annemarie lächelnd.
Seine feinen Brauen zogen sich fast schmerzhaft zusammen; die schlanken Knabenhände bebten. Dann ging ein langer, dunkler Blick über sie hin.
»Sag' es nur!« nickte sie gütig.
»Du weißt, daß ich drei Dinge nie leiden mochte,« sprach er endlich gepreßt: »Kirchen, in denen zu viel Sonne ist; Bäche, denen man bis auf den Grund sieht, und Menschen, die alles zu wissen meinen.«
»Wobei du natürlich nur an meinen Mann denkst?« lachte sie nunmehr laut auf. »Und doch wird er es herzlich bedauern, dich nicht gesehen zu haben. Er hat Vorlesung.«
Nun lachte Edwin auf. »Um das zu verhindern, hab' ich mir ja eigens den Lektionskatalog gekauft.«
»Edwin! So sprichst du von jemandem, den ich liebe?«
»Lassen wir das,« kam es herb zurück.
Eine ganze Weile blieb es still um die beiden. Die zierliche Rokokouhr pinkte fast ängstlich in ihr Verstummen hinein. Die Wintersonne, die ihr rotes Gold so lange zu Annemaries Füßen gelegt hatte, zog den purpurnen Glast wie ängstlich hinter eine graue Schneewolke zurück. Nur die blauen Hyazinthen, die da und dort an den Fenstern blühten, schienen in dem beklommenen Schweigen noch heißer aufzuatmen.
Und mit einem Male wußte die junge Frau, daß Edwin nun von Konrad sprechen werde. Nicht anders, als hätt' es ihr der Duft dieser Blumen gesagt. So schwül, so verhalten und legendenhaft zart war das Schweigen, das zwischen ihr und dem Bruder zitterte.
»Unterdes hat Konrad sein Buch erlebt,« begann Edwin mit einem tiefen Blick in Annemaries sonnige Mutteraugen; »ein anderer Abälard, der seinem Helden Straße für Straße den Passionsweg der Liebe folgen konnte.«
»Also ein bedeutendes Werk?« fragte Annemarie, alles andere überhörend.
»Die Stimmung war gegeben,« fuhr Edwin mit dem unablenkbaren Starrsinn seiner jugendlichen Freundestreue fort, »ein Schmerz, der nie versiegen wird. Eine Liebe, die das Martyrium der Entsagung zu einer unauslöschlichen Sehnsucht geheiligt. Ecce Abälard!«
»Lassen wir das,« wehrte die junge Mutter fast verlegen ab. »Er ist ein Mann und ich bete täglich, daß er seine Ergänzung finde. Das wird ihm wieder die Ruhe geben und mit dem Frieden des Blutes die neue Freude am Leben.«
»Der Friede des Blutes!« höhnte Edwin. »Wie schnell du deinen Mann verstehen gelernt hast und nach ihm redest! Freilich, wem die Liebe bloß eine Angelegenheit des Blutes ist, nicht ein göttliches Geheimnis, das sich von Seele zu Seele spinnt – für den wird diese Angelegenheit immer leicht zu erledigen sein. Der wird erst kein Werk schreiben müssen, um seine Passion in einer geistigen Geburt zu vergöttlichen. Die nächste Dirne wird ihm vielleicht genügen, sie zu vergessen.«
Annemaries Augen blitzten auf. »Du sprichst von meinem Mann, Edwin, vergiß es nicht!«
»Wirklich nur von ihm?« lächelte der junge Bruder geringschätzig. »Da ist es ja bald nicht einer, der heutzutage über die Straße läuft, dem dieses Bekenntnis nicht bei den Augen heraussähe. Nein, nein, Annemarie, es muß nicht bloß dein Mann sein, den ich meine, wenn ich so rede. Und red' ich von ihm, dann mein' ich noch Hunderttausende ... Leider!«
Seine Stimme bebte. Eine tiefe Blässe lag über dem jungen Antlitz und lieh ihm einen fast fanatischen Ausdruck ...
Was war es, das ihn heute stärker machte als sie? Annemarie begriff es nicht. Aber sie legte die Hand an die Augen und bat leise: »Das Buch ... erzähle mir von dem Buche!«
»Natürlich hat er sofort im ältesten Teil von Paris Wohnung genommen,« sprach Edwin mit leuchtenden Augen weiter. »In einem ganz schmalen, fast hätt' ich gesagt halb vermoderten Gäßchen der Cité. Ob es wirklich wahr ist, daß auch Abälard in jener Gasse gewohnt hat, weiß ich nicht. Konrad nahm es hin, wie ein Mönch die Wunder der siebenten Nocturne. Aber wenn jemand heutzutage imstande wäre, Abälards Heim zu rekonstruieren, ist es Konrad. Das Haus, in dem Heloïsens eifersüchtiger Onkel gewohnt, soll sich zum Teil noch heute im Umbau des alten Domherrenhofes erhalten haben. Die bleigefaßten Fensterscheiben, durch die Heloïse aus ihrer Kemenate nach Notre Dame hinübersah, wurden auch mir gezeigt. Auch in Konrads Stube grüßt der ehrwürdige Dom hinein und, wie in Licht gefaßt, von der anderen Seite das spitze Nadeltürmchen der Sainte-Chapelle. Und dort zwischen Regesten und ehrwürdigen Schweinslederbänden der Stadtbibliothek eingebaut, hat Konrad seinen Sommer verträumt. Jeden Abend aber auf dem Friedhof.«
»Auf dem Friedhof?« fuhr Annemarie aus ihrem versonnenen Lauschen empor. »Warum?«
»Ich meine den Père Lachaise,« nickte Edwin bedeutungsvoll.
Annemarie starrte ihn noch immer an.
»Wo Abälard und Heloïse in demselben Grabe ruhen. Noch jetzt, nach Jahrhunderten.«
»Wie schön!« stammelte Annemarie unwillkürlich. »Aber mein Gott, wie traurig, solch ein täglicher Gang!«
Edwin senkte die Lider und lehnte sich zurück. »Je nachdem. Denn er ist schön, dieser Friedhof, und von einem ganz unbeschreiblichen Reiz. Je näher man aber zu dem Grab der beiden Liebenden kommt, desto größer wird die Menschenschar, die einem entgegenwallt. Ein Paar nach dem anderen – alle jung, wie der Frühling, und von der Liebe gezeichnet und ihrem Gram oder einer Hoffnung, die bis an die Sterne greift. Ganz heilig wird einem da zumute! Als ginge das Schicksal und das Leben und wie oft auch des Todes Majestät selbst an einem vorüber – der Liebe entgegen und allem, was sie bringt: ›Morituri te salutant!‹ Wenn dann die Sonne untergeht und der Abend sein goldenes Netz über die Stadt hängt, daß die Seine und die Boulevards und weit, weit draußen noch das Marsfeld wie in einer einzigen Glorie aufleuchten, während ringsum die träumerischen Friedhofsblumen noch einmal so süß und einmal so beklemmend zu duften beginnen – dann, Annemarie, wüßt' ich keinen Ort dieser Erde, wo ein Mann, der seine Liebe begraben mußte, zugleich so traurig und selig sein könnte wie an dieser Gruft!«
Er hatte sich erhoben, seine lichten Augen blitzten sie noch einmal an. Schlank wie er dastand, mit den nur leicht gescheitelten, braungoldenen Locken um die blasse Stirne, den trotzig aufgeworfenen Jünglingslippen, auf denen schon jetzt die Herbheit des Mannes lag, der sich nichts abhandeln ließ von diesem Leben, erschien Edwin der Schwester wie einer jener Prinzen des Velasquez, die bleich und voll hochmütiger Verachtung auf eine Welt herablächeln, die niemals die ihre werden kann ...
Wie aus einem unsagbar schönen Traum herabgestiegen, stand er im blassen Gold der Wintersonne da – hoch, rein, fast wie eine Offenbarung all des Hehren und Göttlichen, an das auch Annemarie einmal geglaubt.
»Du bist treu, Edwin,« murmelte sie scheu. »Bleib' es. Es ist so schön!«
Und er war schon lange draußen, als Annemarie noch immer dastand – still, regungslos und fast wie beschämt.
Warum nur – warum?
*
Langsam kamen die winterlichen Festtage heran. Frau Krüger hätte es gerne gesehen, wenn das junge Paar den Weihnachtsabend bei ihr verbracht hätte. Doch Annemarie schüttelte mit einem geheimnisvollen Lächeln das Haupt.
»Gerade den nicht, Muttchen, verzeih', aber –«
Und ein fast heiliger Glanz legte sich über ihre Mienen.
»Ihr könnt ja im Wagen hin- und zurückfahren«, warf die Mutter in ihrer lebhaft unbekümmerten Art ein, »und, wenn es euch paßt, bei mir übernachten. Daß Edwin sich still verhält, laß meine Sorge sein.«
»Es ist nicht Edwins wegen,« beharrte Annemarie.
»Also will es dein Mann nicht?«
Da leuchteten Annemaries Augen in übermütiger Seligkeit auf: »Nein, Mama, das – Kindchen, das Kindchen will es nicht! Wie könnt' ich es in dieser Nacht aus dem Hause tragen!«
Frau Krüger lachte hell auf. »Es ist ja noch gar nicht auf der Welt, dein Kindchen!«
»Aber bis ins Innerste seines träumenden Seelchens hinein soll es dieses Abends Weihe fühlen,« lächelte Annemarie in süßer Versonnenheit zurück. »Schon jetzt in seinem Dämmer ahnen, wie innig wir es erwarten, wie weich und wohlig das Nestlein ist, in das Gott es hineinfallen läßt, und daß ihm schon jetzt die ersten Weihnachtskerzlein angesteckt werden. Das ist auch Wilhelms Meinung. Einen niedlichen Baum werden wir haben, und darunter will ich seine kleine Wäsche legen. All die feinen weißen Bündelchen und spitzenbesetzten Häubchen und seine ersten flockigen Pätschelchen. Ein rosabebändertes Moseskörbchen hab' ich ihm gerüstet, da kommt der Taufstaat hinein. Weißer Atlas und echte Spitzen und für das zarte Händchen ein ganz dünnes Armband, mit Mamas und Papas Medaillon. Ein Liliputschmuck, Mama!«
»Annemarie, Annemarie!« warnte Frau Krüger, wie von einem leisem Schauer angeweht. Sie war abergläubisch. Doch sie verstummte sofort.
»Am heiligen Tag speisen wir dann bei euch,« versprach Annemarie, bevor sie schied. Und dabei blieb es.
Nein, Edwin machte ihr nun keine Sorge mehr! Mochten er und Wilhelm selbst mit ihrer Abneigung fertig werden. Sie durfte jetzt nichts und niemand mehr bekümmern, bis sie das kleine Wunder in den Armen hielt, dem ihre Liebe den Atem gegeben.
So rüstete sie ihr festliches Haus.
Durch eine Fülle von Güte und Nachsicht war es ihr gelungen, der alten Renate endlich die Rezepte des Backwerks abzuschmeicheln, das ihr Liebster in diesen Tagen bevorzugte. Sie war überrascht, daß es fast durchweg französische »Patisserien« waren. Raffinierte Leckereien, die mehr an die »Konfiserie« gemahnten als an die weihnachtliche Küche eines deutschen Hauses. Die Alte wollte es erst nicht zugeben, hatte aber vergessen, daß über einigen der Rezepte noch immer die fremden Titel standen: »Arbre de Noël«, »Fleur de Lys« usw.
»Und mein Mann hat diese Schleckereien immer bevorzugt?« staunte Annemarie.
»Die Gnädige werden es ja selbst sehen,« meckerte die Alte geheimnisvoll.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »So ein Leckermaul! Und hat es mir bis heute verschwiegen. Na wart'! In einer gedeckten Schüssel soll er die bekommen. Und dazu – Glasur Fondant! Ja sagen Sie mir – wie sind denn Sie zu dieser französischen Geheimwissenschaft gekommen?« lachte Annemarie zuletzt belustigt auf.
Da kroch ein ganz eigentümlicher Blick der Alten über sie hin. »Wie in der ersten Zeit!« dachte Annemarie.
Aber dann lachte auch Renate. »Von meiner ersten Gnädigen, in Lausanne!«
»Richtig,« nickte Annemarie. »Das vergaß ich, daß mein Mann Sie aus der Französischen Schweiz mitgebracht hat und Sie schon einen Dienst dort hatten!«
Renate biß sich in die Lippen und schwieg. Sie konnte zuweilen tun, als wenn ihre eigenen Angelegenheiten sie nichts mehr angingen.
›Nun ja,‹ dachte Annemarie. ›Bei uns ist sie ja auch geborgen.‹
Unterdes rüsteten Stadt und Land für das heilige Fest des Kindes. Von ihrem Wohnzimmer, dessen blumengeschmückte Fenster nach der Landstraße blickten, konnte Annemarie täglich die Bauernwagen sehen, die die Last der Tannenbäume zur Stadt brachten. Ganze Wälder fuhren da an ihr vorüber, fast mochte es einem leid tun. Wenn sie aber dann all der strahlenden Kinderaugen gedachte, die zu diesen Tannen emporfunkeln würden, an all das heimliche Glück, das in ihrem Schatten aufblüht – vergaß sie den Wald, der so gedankenlos beraubt wurde, und lief, so schnell sie konnte, in den eigenen Garten hinaus, wo das Tännchen grünte, das zum erstenmal ihr junges Heim durchduften sollte. Aus eigenem Grund sollte der Baum gewachsen sein, der ihrem Haus das heilige Fest weihte.
Für den naturforschenden Gatten hatte sie ein kostbares Geschenk bestimmt: einen neuen »Zeiß«. Das schärfste und feinste Mikroskop, das sich denken ließ. Das Institut der Hochschule hatte kein besseres. Den Schmuck für das Bäumchen aber ließ Wilhelm sie nicht mehr besorgen. Eine ganz seltsame, ganz plötzliche Angst war über ihn gekommen: daß die junge Mutter sich bei diesen weihnachtlichen Fahrten irgendein Übel zuziehen oder sonst einen Unfall haben könnte.
»In der Stadt herrscht jetzt ein ganz entsetzliches Gewühl,« warnte er. »Da laß ich dich nicht mitten hinein. Dieses Hasten und Drängen! Kaum daß unsereiner durchkommt. Dazu der oft glatte Bürgersteig –«
»Ich kann mir ja einen Wagen nehmen und von Laden zu Laden fahren,« beharrte Annemarie. »Für Renate muß ich doch auch eine Kleinigkeit besorgen.«
»Das hab' ich schon bedacht. Sie bekommt Geld und einen Muff.«
»Woher weißt du denn, daß sie einen Muff braucht?« staunte Annemarie.
»Da es zehn Jahre her sind, daß ich ihr den letzten gekauft habe ... und sie den alten nach ihrem Ausgang neulich mit einer gewissen Absicht im Vorsaal liegen ließ. Wenn man so lange mit jemandem haust, kennt man seine Art.«
»Auch den Muff würde ich besser selber kaufen. Ihr Männer werdet ja immer überhalten.«
Aber er gab nicht nach. »Du bleibst zu Hause!« Und diesmal war es nicht bloß seine Festigkeit, die ihren Willen beugte. Die Zärtlichkeit, mit der er schon jetzt für das Kleine sorgte, rührte sie tief.
Einige Tage später sandte der Pelzhändler den Muff heraus. Annemarie, die gerade im Garten herumwandelte, übernahm selbst den Karton und trug ihn mit hausfraulicher Wichtigkeit in »Christkindchens Geheimstube«. Aber ihre sorgliche Freude verwandelte sich in eine Art staunenden Schreckes, als sie die Schachtel geöffnet hatte. Ein echter Skunks! Ihre eigene Mutter hatte keinen besseren und war doch eine vermögende Frau.
Wenn da keine Verwechslung vorlag, wußte sie kaum, was sie denken sollte. War Wilhelm doch gerade in der letzten Zeit nicht gerade freigebig gewesen. Und hatte bisweilen selbst den Aufwand für das Kleinchen beanstandet. Ja zuletzt noch mit kühler Überlegenheit von ihrer »kostspieligen Knauserigkeit« gesprochen, die, um zu verhindern, daß er um einige Kronen überhalten würde, eine stundenlange Autofahrt in Vorschlag bringe.
Eine bessere Magd und dieses Toilettestück! »Es muß ein Irrtum sein,« entschied Annemarie noch einmal. »Und ist es keiner, dann will ich so tun!«
Am besten war es wohl, nach Tische mit der Angelegenheit zu beginnen, wenn ihr gelehrter Gatte, seiner Amtssorgen wieder für einen halben Tag ledig, zwischen den Blumen des Erkers ihr gegenübersaß und seinen schwarzen Kaffee trank. Das war jetzt seine beste Stunde und auch die Bedienung nicht mehr in Hörweite.
Nur um die Einleitung war Annemarie etwas besorgt. Da half ihr ein Zufall. Wilhelm hatte, wohlverpackt in einigen Schachteln, den Schmuck für das Bäumchen selbst herausgebracht. »Beim Kaffee öffnen wir's dann,« hatte er bei der Übergabe gesagt. »Hoffentlich hab' ich deinen Geschmack getroffen.«
Es war so traulich und wohlig warm in dem Erker, als Annemarie den spitzenüberrieselten Arm hob, um den dunklen Trank aus der silbernen Kanne in Wilhelms Lieblingstasse gleiten zu lassen. Von allen Plätzchen ihres jungen Nestes war ihr dieses das liebste. Weiße Azaleen und blaue Hyazinthen schmückten in einem lieblichen Bogen das weite Halbrund der Fenster. Aus der mächtigen Japanvase, die am Boden stand, quoll eine üppige Grünlilie nieder. Misteln und Stechpalmen zierten schon jetzt da und dort die kostbaren Blumenschalen. Die Sonne blinzte wie mit einem feurigen Auge herein und ließ die satten Farben der seidenen Perserteppiche noch bunter aufleuchten. Wie die Stimme eines guten Hausgeistes sang die Gasflamme im Kamin ...
›Nur jetzt das rechte Wort finden!‹ dachte Annemarie. ›Den Ton, der diesen Frieden nicht stört ...‹
Ihre Hand bebte leise. Aber Wilhelm sah es nicht. Er hatte ein Fachblatt vorgenommen und schaute mit einem Eifer hinein, der Annemarie noch zaghafter machte.
Und doch – sie fühlte es – wenn je, mußte sie diesmal ihre Hausfrauenrechte geltend machen! Sie war in zu gesunden, bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, um einen Aufwand zu verstehen, der einer wenn auch noch so verdienstlichen Dienerin die Allüren einer Dame zugestand.
Nervös und unsicher nestelte sie eine Weile an den Bindfäden der Konfektschachteln herum, die das Stubenmädchen auf einen Seitentisch niedergestellt hatte.
Es war stille, draußen und drinnen – der weiche, mollige Friede eines wohlbehüteten Heims.
»Wie wird das nun im nächsten Augenblick werden?« dachte Annemarie besorgt. Doch ihre Erregung lieh sich nicht länger beherrschen.
»Der Muff ist nun auch gekommen,« begann sie, »aber leider verwechselt worden.«
»Wieso?« fragte Wilhelm, ohne aufzublicken.
»Denk' dir!« tat Annemarie belustigt, »ein echter Skunks – ich bitte dich! Mama hat keinen besseren.«
»Wirklich? Dann tut es mir leid –«
Annemarie horchte auf.
»Aber diesen Muff hab' ich für Renate gekauft.«
»Wilhelm –?! Ich versteh' dich nicht!«
Er legte das Blatt beiseite und sah sie mit der ihm eigenen, zuweilen fast unheimlichen Ruhe an.
»Dann tust du mir leid, Annemarie. Aber ich dachte, daß eine Frau, die weiß, welch schweren Tagen sie entgegengeht und welch sorgsame und treue Hände sie in diesen Tagen brauchen wird, in diesem Fall eines Sinnes mit mir sein dürfte.«
»Die Leute bekommen doch ihren Lohn,« brauste nun Annemarie auf. »Und Renate zweimal so viel, als sie noch leisten kann –«
»Was Renate mehr erhält, hat sie längst um mich verdient,« kam es abweisend zurück.
»Und ich hätte da nie mehr etwas dreinzureden?« lachte Annemarie gereizt. Es war vielleicht töricht, sich so fortreißen zu lassen, aber sie fühlte, daß ihr die Tränen kamen. Und dann gab es keinen Halt mehr bei ihr. Sie wußte, daß es durch Ruhe leichter und besser an die gewappnete Sicherheit des Gatten heranzukommen war, und suchte noch jetzt nach dem Wort, über das sich eine Verständigung finden, der Friede wiederherstellen ließ. Aber sie war auch das Spielzeug ihres körperlichen Zustandes.
Und schon brachen ihre Tränen hervor ...
Ein Geräusch im Nebenzimmer ließ sie verstummen.
Renate stand in der Türe und hielt ihr ein längliches Portefeuille entgegen: »Die Vorlesemappe des Herrn Professors! Er hat sie im Vorsaal liegen lassen.«
»Es ist gut,« nickte Annemarie, der es schien, als lache ihr die boshafte Alte mitten ins Herz hinein.
›Sie hat wieder alles gehört,‹ dachte sie, ›trotz ihrer Taubheit, und wird es dir nie vergeben!‹
*
Die Weihnachtsferien hatten bereits begonnen, aber Annemaries Gatte kam noch immer nicht zur Ruhe. Bald hatte er in der Bibliothek etwas nachzuschlagen, bald einige neue Präparate zu besichtigen. Kolloquien und Rigorosen wollten heuer kein Ende nehmen.
»Ich dachte, die Studenten wären um diese Zeit alle schon längst daheim?« fragte Annemarie, während Wilhelm sich wieder einmal voll nervöser Eile für die Fahrt nach der Stadt bereit machte.
»Die gewisse Sorte schon,« gab er zu, »die auch sonst immer trachtet, der Bude so rasch wie möglich den Rücken zu kehren. Die Fleißigen und die Armen aber suchen gerade in diesen Tagen einen Schritt weiterzukommen.«
Das leuchtete ein und Annemarie war beruhigt. Aber eine leise Verstimmung blieb doch in ihr zurück, und je heimlicher sie sich damit trug, desto quälender wurde dieses Gefühl.
Wie hatte sie sich all die Monate her schon gefreut, den Gatten wieder einige Wochen für sich allein zu haben! Eine ganze Reihe häuslicher Pläne entworfen, deren jeder ein fröhliches Genießen zu zweien werden sollte. Ihren täglichen Morgengang im Garten hatte sie während dieser Tage wieder an seinem Arm machen wollen. Ihm endlich zeigen, wie zahm sie die Amseln herangefüttert hatte, mit welch drolliger Zutraulichkeit ein alter Rabe sich Tag für Tag von ihr die Fleischreste aus Bijuttis Näpfchen reichen ließ. Er schien der anerkannte Führer einer ganzen schwarzen Horde, die fern am Waldesrand ihr Wesen hatte und mit einmütigem Gehorsam seinen heiseren Rufen Folge leistete. Den Flug in Annemaries Garten aber hatte der findige Nimrod ein für allemal sich allein vorbehalten. Und wenn ihm ja einmal ein Neugieriger folgte, geschah es nur, um voll Neid von irgendeinem Baum herabzuäugen, gierig krächzend, aber stets in der gebührenden Distanz.
Und der Wald selbst, der wie eine geheimnisvolle Festung vom Horizont herübersah mit seinen verschneiten Wipfeln, seinem feierlichen Schweigen! Wie herrlich mußte es sein, in diesen klaren, frosthellen Tagen auf einem leichten Schlitten dahinzufahren! Erst in raschem Flug über die weiße Hermelindecke der Felder, dann immer tiefer in die blauen Schatten hinein, die so märchendunkel den Horizont verhängten. Vielleicht, daß einem da und dort ein Häslein über den Weg sprang, ein Reh zwischen den dürren Farnbüscheln hervorlauschte. Der Schnee würde in leichten Flocken von den erschütterten Zweigen stäuben und die Eiszapfen, die man im Sonnenglast des Mittags bis herüber blitzen sah, ganz fein und leis erklirren, daß es wie eine heimliche Musik wäre. Bijutti würde mit heller Stimme in das tiefe Schweigen hineinkläffen und der alte Rabe wie zum Empfang am Eingang des Waldes hocken. Und wie köstlich warm es wäre, in den weichen, molligen Fellen so zu zweien zu versinken!
Dies und noch manches andere hatte die junge Frau sich ausgedacht und zuweilen in langen Träumen vor sich hingesponnen. Nun zerrann es wie der Schnee, der auch schon wieder leise von den Zweigen zu sickern begann ... Woher hätte sie auch den Mut genommen, den immer so ernst und versonnen heimkehrenden Gatten mit solchen Kindereien zu behelligen?
Und war es nicht auch so schön?
Das Bäumchen stand schon über und über geschmückt – ganz in Weiß und Silber. Nur die Schneerosen fehlten, die Annemarie noch in letzter Stunde daran stecken wollte. Jeden Tag duftete das Haus von einem anderen Kuchen. Selbst Renatens Gezänk mit dem ihrer Meinung nach noch nicht ganz »adretten« Stubenmädchen verstummte allmählich. Alle Blumen des noch fernen Frühlings blühten und dufteten schon jetzt in Annemaries Stuben. Und wenn sie den Winter sehen wollte, wie er war – da draußen flirrte und glitzerte er und legte den Rauhreif seines Bartes über alle Büsche und Bäume ihres Gartens.
Was wollte sie noch?
*
Es war Wilhelms plötzlich ganz verändertes Wesen, das ihr einen grauen Flor über diese lichten Tage legte. Amtssorgen – Berufspflichten, sie wußte es. Seine bald nervöse Fahrigkeit, bald verstimmte Schweigsamkeit hatte gewiß nur diesen einen Grund!
Mit jedem Morgen sagte sich Annemarie das aufs neue, um ja den Tag über auszuhalten und nichts von der eigenen Unruhe in sein Wesen zu tragen. Und dennoch litt sie darunter, wie sie vielleicht noch nie gelitten hatte. War es doch zum ersten Male, daß sie diese fremde Art an dem Geliebten entdeckte!
Auch ihre Eifersucht hatte schon wieder einigemal an ihm herumzufingern versucht, war aber immer wieder an irgendeinem weichen Wort oder einem zärtlichen Blick abgeglitten. Was aber sollte sein stundenlanges Brüten? Der nur mehr halbe Anteil, den er an ihren Vorbereitungen nahm? Die fast verlegene Beklommenheit, mit der er an all den zärtlichen Sächelchen vorübersah, die sie zum Empfang des Kindchens rüstete und meist unter seinen Augen zurechtlegte – im lauschigen Frieden desselben Erkers, in dem er so gerne seine freien Stunden verbrachte?
Halbe Tage hatten sie in früheren Wochen hier verscherzt, vertändelt, durchkost. Nun hatte er immer irgendeine Lektüre bei sich, oder er nahm seine Stationspräparate unter das Mikroskop, schrieb, zeichnete.
›Was ist nur zwischen uns gekommen?‹ sann Annemarie immer wieder. Aber es ließ sich nicht erfingern. So gleichmäßig ruhig schien sonst seine Art, so weich, fast ritterlich jede Zärtlichkeit, mit der er ihr nahte. Und doch, doch war etwas zwischen ihnen – daß ihr oft schien, sie fühle es und auch er wisse darum! Aber keines wagte davon zu sprechen. Nicht anders, als hätte sich das Schicksal selbst plötzlich zwischen sie gesetzt, lauernd, stumm, drohend ... oder irgendein Gespenst, das der Vergangenheit angehörte oder der Zukunft ...
Einmal, als Annemarie, über ein zierliches Erstlingsjäckchen gebeugt, wieder so vor sich hinsann und dann plötzlich emporsah, ertappte sie den Gatten bei einem Blick, der ihr lange zu raten gab. Es war ein halb verlegener, kühl forschender, gleichsam ihr innerstes Wesen sondierender Blick, nicht anders, als hätte der Geliebte auch sie selbst ganz heimlich unter ein Mikroskop genommen.
»Du willst –?« fragte sie betreten.
Da kam er wie ein Erwachender zu sich, sah zur Seite und errötete. »Nichts, Liebling, nichts,« murmelten seine Lippen. Dann erhob er sich. Und auch ihr verschlug es das Wort ...
Wie ein Blitz fuhr ihr aber plötzlich die Erinnerung in die Seele, daß sich die Glut seines Begehrens schon oft hinter solchen Blicken verlarvt hatte, und daß gerade seine starren Augen ihr vielleicht verraten, was sein Mund zu stolz war, auszusprechen: die Qual der Entsagung, in der sie ihn, des Kindchens wegen, von sich fernhielt. Der Groll gegen das Ungeborene, das ihm so früh den Traum zerstörte, den er nun einmal von der Liebe des Weibes hatte.
Fast beschämt ließ Annemarie das Jäckchen in den Schoß sinken.
War es das, oder –?
Wie ein weiter, dunkler Raum lag es zwischen ihr und seiner Seele.
*
Der Weihnachtsabend kam. Doch selbst an diesem Tage mußte Annemarie bis zuletzt all ihre Liebe und Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht ungehalten zu werden.
Unter dem Vorwand, mit einem Kollegen noch rasch einige fachliche Angelegenheiten zu besprechen, hatte sich Wilhelm schon am frühen Nachmittag in die Stadt begeben. Nun dämmerte der Abend heran, und er war noch immer nicht zurück.
Im Hause selbst war alles gerüstet. Die kleine Abendtafel leuchtete im seidigen Glanz des Prunktischzeuges. Die kristallenen Vasen und Kelchgläser schimmerten und blitzten. Eine zierliche Silberschale, bis an den Rand mit weißen Nizzarosen gefüllt, schmückte die Mitte des Tisches. Dunkle Tannen- und lichte Lärchenzweige lagen auf dem Schnee der Damastdecke.
Alle Türen waren weit geöffnet. Alle Deckenkronen brannten. Der Geruch der Narzissen und Hyazinthen, die an den Fenstern blühten, mischte sich in den Duft der Tanne und den Balsamatem des Salonrauches, den Annemarie in einer silbernen Räucherschale auf dem Kamin verschweben ließ.
Aus der Küche schlug der würzige Geruch des Lebkuchenfisches bis in den Vorsaal hinauf. Kein Zweifel, Renate würde auf die Minute fertig sein! Dann war nur noch das Bäumchen anzuzünden, die Bescherung vorzunehmen –
Wie aber, wenn der Herr des Hauses der einzig Unpünktliche war? Gerade an diesem Abend, der so ganz im Zeichen der Stunde stand?
Immer wieder trat Annemarie ans Fenster, lüftete die seidenen Gardinen, spähte nach der abendlich stillen Straße hinaus. In nervösem Überschwang hatte sie heute ihre Leute zur Arbeit und Eile angehalten. Nun war es an ihr sich zu schämen, wenn Wilhelm nicht zur rechten Stunde kam.
Sie selbst trug zum ersten Male den weichen, duftigen Staat, in dem sie nach der Geburt als junge Mutter empfangen wollte. Ein langhinfließendes, hyazinthenfarbiges Rekonvaleszentenkleid, dem eine goldgestickte Samtstola fast eine mystisch-priesterliche Weihe lieh. Das erste Atelier der Stadt, die Wiener Werkstätten, hatten es ihr geliefert. Es war das Weihnachtsgeschenk ihrer Brüder und nach den Zeichnungen des Jüngsten verfertigt worden, dem die Gewandmotive der byzantinischen Kaiserinnen gerade gut genug waren, die junge Schönheit der geliebten Schwester damit zu schmücken.
Die Werkstätten hatten das Kleid ausgestellt und selbst die Modeblätter davon Kenntnis genommen. Nur Wilhelm wußte noch nichts davon. Für ihn sollte es die erste Überraschung werden, wenn er über die Schwelle der Weihnachtsstube trat.
Und nun kam er nicht.
Selbst Bijutti, der, mit einem blaßblauen Seidenbändchen geschmückt, auf seinem molligen Angorafelle lag, knurrte schon verdrießlich und ungeduldig vor sich hin, sooft er die junge Herrin ans Fenster eilen sah.