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*

So fand sie der Gatte, der wohl auch erwacht war, wenn ihn nicht Annemaries leises Geschluchze aus seinem lächelnden Traum geweckt hatte.

Die Kerze in der Hand, stand er einen Augenblick vor ihr – erstaunt, verstört – bis ihn die halb aufgegessene Nektarine und das zerbröckelte Backwerk einigermaßen beruhigten.

»Ja sag' mir nur, Maus, was treibst du denn da? Essen und weinen?«

Es war in der Tat drollig, Annemarie fühlte es selbst. Und in ihr Weinen mischte sich ganz leise und wie von ferne her ein kindlich verlegenes Lachen. Aber ihre Tränen flossen weiter. Und nun sank auch ihr Haupt auf den Arm herab, den sie wie hilflos weit über den Tisch gestreckt hatte. Die gelösten Haare fielen auf das glühende Antlitz. Immer heftiger und lauter wurde ihr Geschluchze. Wilhelm stellte den silbernen Leuchter nieder und haschte wie scherzend nach der Linken, die schlaff und bebend herabhing.

»Nun sag' mir, wo ich dir helfen soll? Beim Essen oder beim Weinen?«

Sie schüttelte bloß das Haupt.

Er blickte nach dem Fenster, merkte, daß es weit offen stand, und sog mit geblähten Nüstern den irren Duft der Blumen ein, die draußen blühten. Dann sah er wieder in die Stube zurück und nach Annemarie. Mit Augen, die vom kaum gelöschten Brand der Sinne wieder aufzuglimmen begannen und heiß und trunken über ihre hilflose Gestalt hinirrten. Aber auch mit einer gewissen Verlegenheit. War es ihm doch noch neu – das jungfräuliche Weib, dem die Liebe ein Schreck ist und eine Qual.

Wieder griff er nach ihrer Hand, strich kosend unter den Spitzen des Nachtgewandes über ihren schwellenden Arm hin. Ihre Pulse flogen unter dem tastenden Druck seiner Finger – der ganze Leib war eine einzige Erschütterung. Er fühlte es.

Und da kam es aufs neue über ihn:

Jetzt sie in die Arme nehmen, gerade jetzt!

Und weil er ein Mann war und das Weib zu kennen glaubte, seufzte er auf.

»Hab' ich dich so unglücklich gemacht?«

Seine Stimme bebte. Der samtene Ton darin, der ihre Sinne zuerst gefangengenommen hatte, warb auch diesmal nicht umsonst.

Sie fuhr fast erschrocken empor, starrte ihn an.

»Aber, Wilhelm!«

»Erlaub mir ... Die erste Nacht! Und du schleichst dich weg von mir, um heimlich zu weinen!«

Und nun starrte er wirklich trostlos in das Licht hinein.

»Nein, nein,« stammelte sie befangen und verwirrt. »Erst – erst wollt' ich nur das Fenster öffnen, um etwas frische Luft zu bekommen, die Rosen rochen so stark ...«

»Die Rosen, so?« Er sah sie an und lächelte.

Annemarie errötete. Sein Lächeln hatte immer mehr verraten als sein Wort und sein Blick. Es war die eigentliche Seele seines Antlitzes. War selbst im Schlummer nicht von seinen Lippen gewichen in dieser Nacht. Sie wußte, warum sie es fürchtete, davor errötete – gleichsam in ihr Innerstes zurückflüchtete, soweit es noch ihr eigen war.

Aber das Lächeln wich nicht aus seinen Zügen. Vielleicht kannte er schon seine Gewalt. So brach sie langsam darunter zusammen, wie ein Vöglein.

»Und dann –?« fragte er weich.

Sie wies wie beschämt nach dem Obst und dem Backwerk.

»Dann überkam mich der Hunger.«

»Versteh' ich!« nickte er, immer mit dem gleichen Lächeln.

Annemarie fühlte, wie es wieder in ihren Wangen emporlohte. Gab es denn keinen Schleier mehr für ihre Seele?

Sie schlug den Blick in den Schoß.

»Das alles war aber doch um Gottes willen noch kein Grund, um zu weinen?« sprach er sichtlich gekränkt. »Womit ich auf meine erste Frage zurückkomme.«

Sie starrte ihn fast erschrocken an.

»Auf welche?«

»Nun ... Ob ich dich so unglücklich gemacht habe? Und ich glaube, daß ich als Mann von Kultur und Zartgefühl ein Recht habe, das zu fragen!«

Was sollte sie antworten, wenn sie ihr Geheimnis nicht preisgeben wollte? Das letzte, scheu gehütete, keusche Geheimnis ihrer Seele! ... Zu einem Kreuze führte es zurück – nur zu einem Kreuz und zu dem heiligen Meister der Menschenseele, der daran hing.

Er würde es gar nicht verstehen, dieses Geheimnis, es vielleicht wieder belächeln, im Innersten seines Herzens ihr vielleicht nicht einmal glauben – so ganz anders geartet, wie er war!

Und doch fühlte Annemarie, daß ihr nichts übrig blieb als dieser Verrat an ihrem Letzten. Wenn nichts mehr zwischen ihr und dem Gatten sein sollte – auch nicht die leiseste Sehnsucht, der die Gewalt gegeben war, ihre Seele fortzuführen aus seinem Heim.

Vielleicht sah er besser, was in ihr vorging, als sie selbst merkte. Denn plötzlich stand er auf, zog sie schmeichelnd erst an sich, dann langsam aber stark auf seinen Schoß nieder, bog ihr Haupt zurück, bettelte sich mit einem Kuß an ihr Ohr:

»Sag' mir, was es ist?«

Und mit stammelnden Lippen, mit geschlossenen Augen, mit einem Schauer, der ihren ganzen Leib durchrieselte, gab sie ihm das letzte preis, was sie noch verborgen hatte vor ihm.

Dann sah sie ihn an mit einem großen, gleichsam wartenden Kinderblick.

Aber er sah nicht den Blick, der um Verständnis, um Güte, um Schonung flehte in dieser Stunde.

Wie trunken saugte er sich an ihren zuckenden Lippen fest, – riß sie mit sich empor und mit den starken Armen in den schwülen Frieden der Stube zurück, in der sie sein war mit Leib und Seele ...

*

Wie in einem Meer von Blumen gingen nun die Tage für Annemarie unter. Sie selbst verkroch sich immer tiefer, immer wohliger, immer gedankenloser in der duftenden Stille des jungen Nestes.

Wie ein schnäbelndes Taubenpaar irrten sie den halben Tag in dem alten, verträumten Garten herum. Der junge Gatte hatte sich für ein ganzes Halbjahr einen Urlaub erwirkt. Erst im Herbst, wenn der Süden noch einmal so warm und goldig schien, wollten sie ihre Hochzeitsreise antreten. Bis dahin blühte der dämmrige Garten über ihr Glück hinweg, sangen die Vögel der Heimat in ihr Geplauder, lachten sie von Tag zu Tag herzlicher über die Studien, die sie für die Fahrt in das gelobte Land der Kunst betrieben, ohne jemals vom Fleck zu kommen.

Und bald schien es Annemarie, als könne es auch dort nicht schöner sein.

Ein tiefer Sommerfriede spann sich um das einsame Haus am Ende des ländlichen Vorortes. Ein Friede, der wie verzaubert war. Als hielten die uralten Linden- und Ulmenwipfel schon von ferne alles ab, was an das laute Leben der Stadt da weit draußen erinnerte. Nicht einmal der Schein ihres abendlichen Lichterkranzes leuchtete vom Horizont herüber. So dicht und schwer hing überall das Grün an Fenster und Türen. Nur das Gepolter der Bauernwagen, die früh zu Markte fuhren, hörte man. Die Ausflügler fanden sich selten herüber. Abseits und still, wie es seit fast zwei Jahrhunderten hier gestanden, schien das alte Haus noch immer von dem süßen Dämmer der Tage zu träumen, zwischen denen das Leben so schlicht, so treuherzig und innig seinen Weg gegangen war. Wie ein frommes Bürgerkind mit leise lächelnden Lippen, verwunderten Blauaugen und zierlich trippelnden Kreuzbandschuhen ...

Annemaries Hausrat war prächtig und gediegen, und das feine Verständnis Wilhelms hatte dafür gesorgt, daß er sich so weit als möglich dem wohnlichen Behagen der alten Räume anpasse. Er hatte den Besitz in Bausch und Bogen erstanden und manches alte, wertvolle Stück miterworben. Zierliche Büsten und Figürchen und Bilder, die nun mit großen, verwunderten Augen in die neue Welt hineinsahen und mit einem seltsam wissenden Lächeln, das oft einen leisen Schauer in Annemaries Seele weckte.

»Was die wohl alles geseh'n haben mögen!« sagte sie einmal bei Tisch. »Und was sie erzählen würden, wenn sie reden könnten.«

»Immer wieder dasselbe,« hatte Wilhelm mit seiner kühlen Forscherruhe geantwortet. »Was alles sich auch um uns ändert – das Leben der einzelnen geht immer den gleichen Weg. Nur die Art, wie wir es genießen oder erdulden, ist verschieden, die Etappen sind dieselben.«

»Glaubst du?« fragte Annemarie mit erschrockenen Augen. Und mit einem scheuen Blick nach dem Bild ihres Vaters fügte sie hinzu. »Das zu denken wäre mir entsetzlich!«

Der junge Gatte war gerade daran, ein Hühnchen zu zerlegen. Er hatte nicht aufgeblickt. So war ihm Annemaries Ausdruck entgangen. Und wie um eine flüchtige Beunruhigung zu verscheuchen, sprach er lächelnd: »Aber das hat noch keinen angefochten. Weil jeder für sich das Leben aufs neue zu entdecken glaubt. Und sich die Gewißheit seiner Wandelbarkeit so wenig zu Herzen nimmt wie den Gedanken an den Tod. Es sind einfach Tatsachen, die gerade dadurch, daß sie als Gewißheit im menschlichen Bewußtsein verankert sind, merkwürdig viel von ihrem Schreck verlieren.«

»Aber wir, Wilhelm, wir!« hatte Annemarie plötzlich aufgeschrien. Und dann waren ihr die Tränen über die Wangen gestürzt, große, dicke Tränen, wie sie verängstigte Kinder weinen, wenn es plötzlich dunkel und still wird um sie.

Damals hatte er sie auf den Schoß gezogen und unter tröstenden Küssen an ihren Ohren vorbeigelacht:

»Behüte! Wir werden natürlich immer dieselben bleiben! Gleich jung, gleich vergnügt und verliebt und natürlich unsterblich.«

Und dann waren sie wieder die alten Kinder, die in dem blühenden Garten Haschen spielten und sich müde tollten oder Gott und die Welt und sich selbst vergaßen in der Glut einer einzigen Umarmung.

Bijutti, das weiße Zwerghündchen, lag immer irgendwo in der Nähe und sah mit den großen Kugelaugen besorgt und vorwurfsvoll auf die schöne Herrin, die nur noch gute Bissen hatte für ihren Hund und keine zuckernen Worte mehr dazu, wie einst.

Frau Krüger vermied es noch immer, das junge Glück ihrer Tochter zu stören. Auch keine Freundin ließ sich sehen. Zuweilen schien es Annemarie, als ob etwas im Tiefsten ihrer Seele doch nach dem jüngsten Bruder verlange. Wenigstens für eine Stunde; um ihn zum Zeugen ihres Glückes zu machen. Aber er kam nicht, und Wilhelm liebte es nicht, wenn Annemarie von ihm zu reden begann.

So glitten die Tage weiter und kaum merklich in den Herbst hinein. Aber es war ein Herbst, der die ganze Schwüle des Sommers behielt und nur mit den ihm eigenen Blumen und den etwas kürzeren Tagen an seine Herrschaft erinnerte.

Doppelt süß war es nun, im Dämmer der frühen Abende so eng aneinandergeschmiegt im Grünen zu sitzen. Aber sich das leise Rauschen der Wipfel, kein anderer Ton in der tiefen Stille sonst, als das Plätschern der kleinen Fontäne, und da und dort der dumpfe Fall einer reifen Frucht auf den Rasen.

Einmal war Annemarie bei solchem Ton erschrocken aus der heißen Umarmung des Gatten aufgefahren und hatte wie erschauernd gesagt: »Möchte man glauben, daß auch dieser Apfel einmal eine der zarten, rosigen Blüten war, die im Frühling wie Schnee niedergleiten, leis, gewichtlos, unhörbar?«

Wilhelms brennende Wange lag im Ausschnitt ihrer Bluse. Er schwieg und wühlte sein Haupt noch tiefer in ihre Brust. Sie fühlte mit einem leisen Frösteln, daß nun und nun wieder der Augenblick kommen mußte, daß er sich erheben und sie in das dunkle, weiche Nest heimziehen würde, in dem ihr Glück wohnte.

Und da war es, daß Annemarie zum erstenmal von dem Kinde zu sprechen begann. Leis, fromm, wie angeweht von der schauernden Ehrfurcht vor der Gewalt, die Gott der Liebe gegeben.

»Und wenn wir eines Tages nicht mehr allein erwachen, Wilhelm?«

Er hatte das Haupt erhoben, sie mit trunkenen Blicken in sich gesogen, dabei mühsam aufgehorcht, als müsse er sich erst besinnen, was sie da sprach.

Dann hatte er fast angewidert das Haupt geschüttelt.

»Ich will so lang wie möglich die Geliebte haben. Wie du da bist – jetzt ... immer!«

*

Die alte Renate schlich wie ein Schatten durchs Haus. Wäre der Tisch nicht immer reich bestellt gewesen, Küche und Speisekammer wohl versorgt – das junge Paar hätte wohl glauben können, ganz allein zu sein in dem weiten, stillen, kühlen Haus. Annemarie hatte in einem Anfall jungfraulicher Sparsamkeit erklärt, daß eine zweite Magd erst nach der Rückkehr von Italien notwendig sein werde. Unterdes besorgte eine Bedienerin die gröberen Arbeiten. In der Küche und den Stuben wirtschaftete still und geräuschlos wie bisher die taube Renate herum.

Einige Male hatte Annemarie es versucht, auf dem Wege weiblicher Redseligkeit der wunderlichen Hausgenossin näher zu kommen. Sie gab es bald wieder auf. Die Alte wußte sehr gut, daß die Taubheit nicht bloß ein Mangel war, sondern sich je nach Laune und Willkür zuweilen auch als eine Art Waffe gebrauchen ließ. Was sie wollte, verstand sie. Wenn es ihr aber einmal gefiel, ihrem eigenen Willen nachzuhandeln, der im Haus des jungen Gelehrten solange allein maßgebend gewesen, dann war es umsonst, auch nur ein Wort an sie zu richten. Sie wollte eben nicht hören oder tat genau das Gegenteil von dem, was Annemarie ihr anbefohlen, dabei war es ganz unmöglich, ihr diese versteckte Böswilligkeit auch nachzuweisen. Denn Renate lächelte immer, sooft man sie ansah. Ein unsäglich ergebenes, widerlich süßes Altweiberlächeln, das immer freundlicher und botmäßiger zu werden schien, je heller der Zorn der jungen Herrin aufloderte. Aber zuletzt tat sie doch, was ihr gefiel.

Wohl sagte sich Annemarie selbst zuweilen, daß ihr in vielen häuslichen Angelegenheiten noch jede Erfahrung mangle. Weil sie aber von Kindheit an gewöhnt war, jeden ihrer Befehle stets in der Art einer höflichen Bitte an die Untergebenen zu richten, empfand sie das hämisch-verstockte Wesen der Alten doppelt bitter. Sie selbst hatte es ihr gegenüber bisher noch in keiner Weise versehen.

In den ersten Wochen ihrer Ehe schien Wilhelm diese kleinen Scharmützel nicht zu bemerken. Er kannte Renatens Art eben schon länger und hatte sich mit dem Humor des Junggesellen wahrscheinlich schon früh darüber hinweggesetzt. Immerhin wartete Annemarie mit der ihr eigenen, unbestechlichen Beobachtungsgabe auf ein ähnliches Geplänkel zwischen Wilhelm und dem widerspenstigen Hausgeist. Bald genug jedoch bemerkte sie, daß Wilhelms Befehle immer verstanden und auf das trefflichste vollzogen wurden. Nur ihr, ihr allein galt also dieser unnahbare taube Widerstand.

Gleich in den ersten Tagen der Verlobung hatte Wilhelm ihr einmal erzählt, daß es nicht zuletzt die Angst vor all den legitimen häuslichen Ungewittern gewesen, die ihn solange als Junggesellen in seiner gelehrten Klause festgehalten. Und Annemarie hatte sich, der Szenen zwischen den eigenen Eltern gedenkend, heimlich gelobt, den Frieden ihres jungen Heims vor jedem banalen Auftritt zu bewahren. Und weil der Geliebte ihr die Tüchtigkeit und Schulung Renatens immer wieder gerühmt, hatte Annemarie selbst sich geneigt erklärt, die Taube weiterzubehalten. Sie kannte alle Gewohnheiten Wilhelms, war gut, tüchtig, redlich und gewiß auch friedliebend, wenn der Geliebte so lange mit ihr gehaust. Da konnte es nicht fehlen.

Nun sah Annemarie zu spät, daß das vage Mißtrauen, dem sie zuerst auf ihrer hochzeitlichen Fahrt nach dem jungen Heim einen vorsichtigen Ausdruck geliehen hatte, voll und ganz berechtigt gewesen.

Trotzdem wollte sie nicht sofort als Anklägerin auftreten. Wilhelm selbst sollte langsam auf das ungebührliche Benehmen der Alten kommen und das erste Wort des Tadels sprechen. Wenn er sie streng und ein für allemal an diejenige wies, die hier allein die Herrscherin war, mußte jeder Widerstand aufhören. Und durch Güte und gleichmäßige Freundlichkeit war dann vielleicht auch an das Herz der Alten heranzukommen.

Darum wollte Annemarie so leis und vorsichtig wie möglich beginnen. Die Gelegenheit ergab sich von selbst.

Es war bei Tisch, an einem verregneten Sonntag, der trüb und doppelt grau durch das hangende Grün der Bäume in die Stuben hineinsah. Wilhelm hatte mit kaum erhobener Stimme noch einmal nach derselben Platte verlangt und Renate die blaugeblümelte Alt-Wiener Schüssel sofort wieder vor ihm niedergestellt.

In Annemarie regte sich ein plötzlicher Unwille. Denn eine halbe Stunde vorher hatte sie der wunderlichen Alten einen Befehl erteilt, den diese wieder durchaus nicht zu verstehen schien, so laut, ja überlaut auch Annemarie die Stimme erhob. Das schien ihr nun einer Bemerkung wert.

»Wie merkwürdig rasch doch unsere Renate dich versteht,« sprach sie mit einem bezeichnenden Lächeln, »während es mir oft ganz unmöglich ist, mich verständlich zu machen!«

Annemarie sagte es im gewöhnlichen Redeton – nicht lauter, nicht leiser – nach ihrer bisherigen Erfahrung aber ganz gewiß unhörbar für Renate. Wie groß war aber ihr Erstaunen, als sie gewahrte, daß die Alte, die noch immer mit der Schüssel vor Wilhelm stand, plötzlich bis an die weißen Schläfenhaare zu erröten begann und dabei die Augen mit sichtlich gemachter Unbefangenheit nach dem Fenster wandern ließ, an das noch immer der herbstliche Regen schlug und die vom Septemberwind melancholisch hin und her bewegten Ranken der Klematis ...

Wilhelm hatte endlich sein Lieblingsstück herausgefunden, und während die Taube sich wie aufatmend dem Büfett zukehrte, sprach er mit gelehrter Wichtigkeit:

»Das hat einen ganz natürlichen Grund, wie alles in dieser natürlichsten aller Welten. Renate hat eben die Aufmerksamkeit ihres Gehörnerves so lange auf meine Stimme und ihre Augen so lange auf meine Lippen eingestellt, daß sie mich jetzt ohne Mühe versteht. Dieses Verständnis ist also durchaus nicht wunderbar. Es ist bloß eine Folge der Anpassung.«

»Nun muß ich mir aber doch merken, in welcher Höhe du sprichst, und wie du lautierst,« sagte Annemarie mit einem lächelnden Blick nach der eben hinauseilenden Alten. »Damit sie auch mich endlich verstehen lerne. Sie tut mir immer leid, wenn sie so mangelhaft vor mir steht.«

Renate war noch unter der Türe, als Annemarie dies sagte, und glitt so lautlos und schattenhaft wie gewöhnlich aus der Stube. Im nächsten Augenblick aber hörte Annemarie, daß Bijutti draußen laut aufheulte, wie von einem rohen und heimlichen Tritt mißhandelt.

Seither wußte sie, daß Renate, wenn es darauf ankam, auch ohne Anpassung hörte.

*

Die wilden Reben hingen in purpurnen Girlanden um die Fenster des alten Hauses, als Annemarie ihren ersten Besuch erhielt. Es war – Mela ...

»Gerade sie!« dachte die junge Frau, und ein fast widerliches Gefühl überkroch sie. Gewiß, wenn eine ihrer Freundinnen, mußte Mela neugierig sein, wie es »ausgefallen« war. Sie, deren Glück so bald in Scherben gegangen. Die nun »von einem Arm in den anderen fiel«, wie man sich zuzischelte, und ihr trauriges Wissen mit einem frivolen Lachen vor sich hertrug.

»Zuletzt geht es ja allen so. Nicht einer bleibt das erspart! Und die so tun, lügen!«

Aus ihrem eigenen Mund hatte es Annemarie gehört. Nun, sie wollte ihr zeigen, daß über ihrem Glück noch immer die Sonne des ersten Tages stand. Daß die Treulosigkeit auch nicht mit einem Gedanken jemals über diese Schwelle finden würde. Daß echte, reine Liebe eine Kraft in sich trug, die die Seelen noch unlöslicher verband als die Leiber. Sie wollte nicht nur, sie mußte es ihr zeigen! Um vielleicht wenigstens einen Strahl der Erkenntnis in diese arme, entwürdigte Seele leuchten zu lassen. Ein fernes Ahnen von der Hoheit der Güter, die niemand ungestraft von sich wirft ...

»Und doch schau' ich zugleich in den Spiegel, ob ich einen guten Tag habe!« dachte Annemarie mit einem leisen Seufzer, als Renate die Türe öffnete, um den Besuch eintreten zu lassen. Sie wußte, daß Wilhelm im Garten war und jeden Augenblick wieder zurück sein konnte.

Also war es doch wieder die alte Eifersucht, die noch immer neben ihr herging! Nach all den Wochen süßester Genugtuung sich wieder mit einem leisen Schlangenbiß meldete.

»Davon sollt' ich – wenigstens jetzt – meine Seele noch freihalten,« sagte sich Annemarie mit einem Gefühl vager Selbstverachtung. »Wenn Wilhelm es wüßte ...«

Sie hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Schon schlug ihr Melas prickelndes Lachen ins Gesicht.

»Du bist allein? Da brauch' ich mir also keinen Vorwurf zu machen.«

»Mein Mann ist im Garten,« erwiderte Annemarie nach einem flüchtigen Händedruck. »Aber er wird sich mit mir freuen, dich zu sehen.«

Mela warf mit einer graziösen Bewegung den blonden Zobelkragen zurück. Es war eine ihrer Finessen, immer so früh als möglich im Jahr ihre kostbaren Felle zur Schau zu tragen. Draußen stach noch die Sonne um diese Stunde, und sie selbst trug eine durchscheinende Bluse unter dem Zobelkragen. Aber sie wußte wohl, warum sie diese weichen, seidigen Raubtierfelle so gerne um den schmiegsamen Leib legte. Wie ihr bronzefarbenes Antlitz mit dem überschlanken Hals, dem tierisch zugespitzten Kinn und den kleinen, funkelnden Augen da aus dem samtenen Fell hervorwuchs, glich es selbst einem feinen Marderkopf, der mit glinsernden Blicken nach einer Beute sieht.

Der heiße Atem eines japanischen Parfüms schlug wie eine heimliche Flamme aus dem seidenen Geriesel ihres Kleides empor. Die reichberingten Finger lagen bleich, schmal und lang über den abgestreiften Handschuhen. Ein herrlicher Smaragd stach mit grünem Gefunkel aus der raffinierten Fassung.

»Wie das Auge einer Schlange,« dachte Annemarie, noch immer von dem gleichen Unbehagen durchfröstelt. Laut aber sagte sie:

»Du siehst prächtig aus, Mela! Wo war't ihr über Sommer?«

»Natürlich nicht beisammen,« kam es mit einem fast wohligen Gekicher zurück. »Mein Mann hat auch im Sommer seine großen Abschlüsse, wie du weißt. Da läßt er die Fabriken nicht gerne allein. Und ich – ach! In der ganzen Welt war ich natürlich wieder! Ein bißchen Schweiz ... Paris,« sie sog leise die Unterlippe ein – »zuletzt Trouville. Schön war's!«

Sie atmete tief auf. Ihre volle Büste dehnte sich, daß die blaßrote Seide darüber leise knisterte. Die kleine, spitze Zunge strich noch immer zwischen den Lippen herum.

»Daß dir dieses Alleinsein nicht zuwider wird?« tat Annemarie ahnungslos.

Mela bog sich zurück und lachte: kurz, überlegen. »Auf einer Reise? Da ist man doch nie allein.«

Es war wie ein halbes Geständnis. Aber Annemarie hatte sich vorgenommen, um keinen Preis mehr zu verstehen.

»Nun ja,« sprach sie mit einem gleichsam fliehenden Blick. »Aber schließlich sind es nur fremde Leute.«

»Mit denen spricht man sich doch immer am besten,« gab Mela mit einem belustigten Gezwinker zurück. »Du natürlich kannst das jetzt nicht begreifen. Solang eine Liebe noch in den Babyschuhen steckt ...«

Und wieder bog sie den Hals zurück, lachte auf.

»Es ist eine Bewegung, die sie vor dem Spiegel ausstudiert hat,« dachte Annemarie. Melas Hals war von vollendeter Schönheit, und wenn sie das schmale Kinn so lachend emporhob, gab es eine Linie, die einen ganz merkwürdigen Reiz hatte. Der etwas große Mund mit seinen vollen, brennenden Lippen aber war dann wohl imstande, eine heiße und flüchtige Gier zu wecken. Seine Küsse mußten wild und saugend sein, wie der Biß eines hungrigen Tieres ...

»Aber ich hab' noch gar nicht gefragt, wie es euch geht?« lenkte Mela ein. »Natürlich gut. Für Abschluß der Außenwelt habt ihr wenigstens gründlich gesorgt.«

Sie beugte sich etwas vor, ließ den Blick durch die weitgeöffneten Flügeltüren von Raum zu Raum gehen. Melas Gatte war ja reich. Und ihr selbst, sagte man, flogen nicht bloß die Rosen der Liebe ins Haus. Aber in dem jungen Heim Annemaries, in dem jedes Bild an der Wand, jedes Möbel seinen künstlerischen Wert und Adel hatte und Stoffe, Farben, Holz und Marmor zu einem Ganzen von unsäglicher Harmonie gestimmt waren – in diesem Nest heimlichsten Glückes packte sie wohl noch ein anderes: die gleichsam ins Auge tretende Übereinstimmung der Seelen, die ihrer Liebe dies junge Heim gegründet. Der reine Friede, der mit den aus allen Vasen nickenden Blumen wie ein einziger Duft die lauschige Stille der Gemächer füllte. Die überall wiederkehrenden Zeichen unzertrennlichen Beisammenseins – ob es nun da zwei eng aneinandergerückte Stühle waren, oder dort das feine Spitzentaschentuch Annemaries neben einem noch offenen Buch, in dem der junge Gelehrte gelesen.

Wie eine Offenbarung mußte es für die Unselige sein, die so bald und so leicht das eigene Glück entwürdigt hatte und nun, zwischen heimlicher Sünde und lärmender Betäubung hin- und herirrend, gerade im Frieden des Hauses keine Ruhe mehr fand.

»Schön habt ihr's, ja!« sprach Mela wie mit leise stockendem Atem. »Da läßt sich's wohl träumen und – lieben.«

Und nicht nur ihr Mund bekannte es – auch ihr Blick glitt zum ersten Male wie unsicher an Annemarie vorüber, mit einem Lächeln, in dessen vager Verlegenheit sich auch ein leiser Neid zu verkriechen schien ...

»Du Arme!« dachte Annemarie, und wie erlöst erhob sie sich, als sie durch das offene Fenster den geliebten Mann langsam die Stufen der Terrasse emporsteigen sah.

*

»Unser erster Besuch, Wilhelm!«

Der junge Gatte machte eine tadellose Verbeugung. Mela war zuerst aufgesprungen, aber dann wie eine Katze auf ihren Sitz zurückgeglitten. Nun reichte sie ihm die Hand, über die der kostbare Smaragd sein fahles Grün hinleuchten ließ, und Wilhelm markierte einen flüchtigen Nasenkuß.

»Sehr liebenswürdig, daß Gnädige sich unser erinnern ...«

»Eigentlich hab' ich wohl nur an Annemarie gedacht,« gab Mela mit einer koketten Wendung zurück. » Wir zwei haben ja immer nur gestritten!«

Auch das war ihr eigen, sich in jedem Gespräch mit einem Manne sofort auf einen scheinbaren Kriegsfuß zu stellen. »Um so bald wie möglich den gewissen Frieden schließen zu können!« wie die böse Welt ihr nachsagte. Bei Wilhelm allerdings hatte diese Art nie verfangen.

»Zum Streiten ist sie mir doch zu dumm!« hatte er einmal mit der ehrlichen Gründlichkeit des Gelehrten bekannt.

Nun lächelte er, artig und doch wie einer, der um keinen Preis mißverstanden werden möchte: »Wirklich? Das hab' ich aber total vergessen!«

»Wir können ja wieder anfangen,« neckte Mela.

»Aber es würde nicht mehr so unterhaltend sein,« lächelte Wilhelm.

»Sind Sie aber unartig geworden,« tat Mela gekränkt. Doch ebenso unvermittelt lachte sie auf: »Das wird man immer nur in einer glücklichen Ehe! Na, Kinder, ich gönn's euch. Bleibt nur immer so recht beisammen, in all dem Behagen eines wolkenlosen Glückes. Ein gesunder Schlaf und eine vortreffliche Verdauung sind dabei garantiert. Und eigentlich braucht man nicht mehr.«

Es war der Gegenstich. Annemarie fühlte es. Aber sie lächelte bloß. So leid tat ihr die Freundin gerade in diesem Augenblick, in dem sie mit leisem Hohn einbekannte, wie weh ihr das Glück einer anderen tat. Da war es nicht schwer, großmütig zu bleiben.

Eine kleine Pause entstand.

Der blasse Glanz der Herbstsonne lag in zitternden Kringeln auf den bunten Ornamenten des weichen Teppichs, in dem Melas zierliche Fußspitze wie nervös hin und her stocherte. Von dem Gepolter eines Bauernwagens, der draußen vorüberrumpelte, klangen leis und gleichsam besorgt die zitternden Behänge des kostbaren Venezianerlüsters, der, in allen Farben leuchtend, gerade über dem Sessel hing, in dem sich Melas schöner Leib zurechtgerekelt hatte. Wie ein heimliches Gelispel guter Hausgeister klang es, die jeden fremden Ton als eine Vergewaltigung des Friedens empfinden, den sie zu hüten haben. Annemarie wenigstens empfand es so. Und vielleicht schlich auch über Melas Seele ein ähnliches Ahnen, als sie sich plötzlich förmlich steif erhob und mit einem fast feindseligen Lachen das tiefe Schweigen aufs neue erklingen machte.

»Schön habt ihr's ja ... wirklich schön! Nur ich – verzeih' mir's, aber ich glaube, ich würde mit der Zeit krank an all diesem toten Frieden.«

»Du lebst eben dein Leben!« gab Annemarie zurück. Es klang gereizt, und sie bedauerte es sofort. Denn Melas Neigungen waren immer an des Messers Schneide gehangen. Die kleinste Verletzung konnte sie nachtragen; jahrelang geduldig und immer unter der Maske desselben Lächelns auf die Stunde warten, die ihr die heimlich ersehnte Genugtuung brachte. Schon als Kind war sie so gewesen. Immer das gleich schmiegsame, gleich rachelustige Kätzchen. Und seither hatte sie sich recht artig ausgewachsen. Darum wußte Annemarie, daß sie auch ihr dieses rasch entfahrene Wort niemals vergessen würde.

Flog der Pfeil schon jetzt zurück? Durch die Augen, die Annemarie scheinbar so freundlich zulächelten, blitzte es wie der grünliche Schein des Smaragds, der an ihrer Hand glimmte. Die geschmeidigen Glieder des schlanken Leibes dehnten sich in weichen, gleichsam welligen Linien, die etwas von der Anmut einer sich langsam entringelnden Schlange hatten. Weit und wie lechzend öffneten sich die vollen Lippen.

»Ja, du hast recht, Kleine! Ich lebe mein Leben. Und es war eben immer ein so ganz anderes!«

Rachsüchtig klang das noch nicht. Und wie sie Wort um Wort gleichsam nachgenießend so vor sich hinlachte, war sie vielleicht wirklich nur in den Erinnerungen versunken, die sie ihr Leben nannte. Und doch schien es Annemarie, als hätte zum zweitenmal ein böser Geist in den Frieden ihres Heims hineingelacht. Ganz leise und kaum hörbar. Aber eben darum um so bedrohlicher ...

Von einer jähen Beklommenheit erfaßt, sah Annemarie nach dem Gatten hinüber. Als müsse seine aufrechte Männlichkeit auch diesmal das rechte Wort finden für die Schlange, die zum erstenmal in ihr Glück hinein zischelte.

Und da ertappte sie ihn bei einem Blick ...

Gewiß lag auch Verachtung darin und das ganze Wissen des Mannes von dem Weibe, das sich selbst verloren hat. Aber wie seine Augen, gleichsam verschleiert, über den schönen Leib der lachenden Sünderin hinirrten, schien auch in seinem Blick ein Erinnern aufzuzüngeln – scheu und heiß, wie eine verhaltene Flamme ...

*

»Du bist heute so still,« sagte Wilhelm, als sie am Abend dieses Tages durch den dämmernden Garten schlenderten.

»Ja,« sprach Annemarie, mit einem leisen Nicken. »Und ich dachte, du wüßtest auch, warum?«

»Warum?« Es kam so hastig zurück, fast wie erwartet, und klang schon jetzt wie eine halbe Abwehr. »Nein,« und er lachte auf. »Für solche Schachprobleme der weiblichen Seele hab' ich nie ein Talent gehabt.«

Und wieder lachte er.

Aber es war ein Lachen, das Annemarie schon lange an ihm kannte. Das Lachen, mit dem er jede nähere Aussprache von sich schob, wenn er fühlte, daß sie eine für ihn peinliche Wendung nehmen konnte. Das Lachen, mit dem er mancher besorgten Frage ihrer Mutter im vorhinein die Spitze genommen hatte. Das Lachen – ja, nun entsann sie sich ... dasselbe Lachen, mit dem er ihre bräutliche Eifersucht auf seine Vergangenheit abgelenkt, das er gelacht hatte, als sie nach dem Hochzeitsmahl in das junge Heim fuhren und Annemarie auf die Gewohnheiten zu sprechen gekommen war, die die alte Renate ihm abgeguckt.

Was brauchte sie noch?

Er wußte recht gut, was sie meinte. Und wenn er vielleicht auch bloß um des lieben Friedens willen daran vorübergehen wollte – sein Blick hatte ihn verraten. Der halb versteckte, halb begehrliche Blick, der wie genießend über Melas Leib geglitten war.

Mochte er nur weiter schweigen und weiter arglos tun. Sie wußte nun, daß er auch lügen konnte. Unter Lachen und Scherzen lügen. Und ihr war, als müsse sie weinen, laut, heiß, aus innerster Seele heraus.

Sie machte ein paar hastige Schritte und ließ sich dann auf einer Bank nieder. Rasch und wie besorgt setzte er sich an ihre Seite.

»Was hast du nur, Mie?«

Und seine Hände ergriffen die ihren, suchten unter dem weiten Spitzenärmel nach dem Grübchen in ihrem Ellbogengelenk, das er so oft hier geküßt hatte – mit heißen, zuckenden Lippen den Schlag der Pulse suchend, die er entflammt.

Fast heftig zog Annemarie den Arm zurück. Nur jetzt keinen Kuß! Nur heute nicht die Erinnerung durch eine Komödie entweihen.

In dem Unausgesprochenen, Uneingestandenen lag's, das sich wie ein Gift immer tiefer in ihre schweigende Seele fraß.

»Wir haben uns einmal gelobt, keine Geheimnisse voreinander zu haben!« sprach er leise in den Abend hinein.

Annemarie zuckte zusammen und sah empor. Tat sie ihm doch vielleicht unrecht? Von der Art, in der sie jenes Lachen deutete, bis zu dem Blick, den sie für einen halben Verrat gehalten?

Diesmal hatte seine Stimme so fest, so ehrlich, so lauter geklungen. Der volle Ton war darin gewesen, mit dem er sonst als Mann und Gelehrter von seinen Überzeugungen sprach und sie verteidigte.

»Daß ich kein Geheimnis vor dir hab', weiß ich,« sprach sie wie einlenkend. »Auch nicht im Innersten meines Innern.«

Er griff wieder nach ihrem Arm, umfing sie mit einem Blick voll zärtlicher Genugtuung. »Und ich hab' immer nur noch das eine: dich! Und es macht mir nachgerade genug zu schaffen.«

Die Hand, die ihren Arm hielt, war heiß. In dem Blick, der über sie hinglitt, lag etwas Verschleiertes, wie die Dämmerung, die sie umspann ...

»Wenn seine Seele jetzt nur mit einem Gedanken bei der anderen ist, während seine Hand nach mir greift!« dachte Annemarie erbebend – »Bloß weil ich nahe bin ...«

Sie war lange, zu innig fromm gewesen, um nicht auf ihre Weise auch nach dieser Richtung hin wissend zu werden. Gewohnt, die Schleichwege des Bösen mit jeder Gewissenserforschung bis ins Innerste zu verfolgen, war ihr auch die ganze Hölle der Gedankensünden bekannt. Nicht in einem war sie je gefallen. Aber es hatte sie doch zuweilen einen kleinen Kampf, zum mindesten eine erhöhte Wachsamkeit gekostet, im geselligen Verkehr nicht an dem oder jenem Mann ein flüchtiges Wohlgefallen zu finden, von dem sie wußte, daß er ein Weib hatte.

Wie oft hatte Wilhelm gelächelt, wenn sie ihm in übertriebener Wahrheitsliebe auch diese kleinen Abgründe gezeigt, an die selbst ihre schuldlose Seele zuweilen ganz arglos geraten war. Es eine »törichte Selbstquälerei« genannt, ein »hysterisches Versteckspiel mit der Gesundheit der Sinne«.

Im glücklichen Vollbesitz seiner Liebe war es ihr zuletzt selbst so erschienen. Nun sie an dem Gatten zum erstenmal zweifelte, fiel von dem, was er damals gesagt, auch ein merkwürdiger Schein auf ihn selbst zurück.

Sein Unglaube gestattete ihm auch ein robusteres Seelenleben! Ein unbefangenes Sichhingeben an Eindrücke, die für ihre Reinheit schon alle Merkmale der Sünde trugen. Mit tiefem Schreck empfand es Annemarie.

Wie aber hatte ihr Erlöser gesagt?

»... Wer eines anderen Weib nur ansieht, ihrer zu begehren, der hat mit ihr die Ehe gebrochen ...«

Und wie sie dasaß, im gequälten Herzen eine Hölle von Zweifeln, erkannte sie wohl, daß auch aus diesen Worten Christi das ganze Licht einer göttlichen Wahrheit strahlte.

Und wieder zog sie ihren Arm aus der Hand, die so glühte. Wie in Todesangst flüchtete ihr Blick vor dem seinen.

»Es ist zum ersten Male, daß du mich absichtlich quälst, Annemarie,« sprach der Gatte tonlos in ihr Schweigen hinein. »Mir zeigst, daß ich dir auch lästig werden kann. Ich weiß zwar nicht, inwiefern ich das verdient hab' um dich. Aber wenn du vielleicht das Bedürfnis hast, heute ganz allein zu sein ... dieses ritterliche Verstehen muß auch der zärtlichste Gatte haben ...«

Er erhob sich, griff nach seinem Hut.

Mit einem wehen Aufschrei warf sie sich an seine Brust.

»Nicht Wilhelm, nicht ... es war nur – es ist –«

Ja, was war es, was da zum ersten Male an ihre Seele angeschlichen kam – ganz leise, ganz heimlich wie eine Schlange und nun ebenso heimlich und unfaßbar wieder entglitt?

Wie ein Kind weinte sie sich an der Brust des starken Mannes aus und lächelte zuletzt wie ein Kind wieder zu ihm empor, der mit keinem Wort mehr nach dem frug, was sie einen ganzen, dunklen Augenblick lang von ihm entfernt hatte. Nur leis mit seinen heißen Lippen über ihr Ohr hinkoste, ihren Hals, bis zu dem Grübchen, in das er sich oft wie zum Scherz verbiß:

»Nun, Taube, nun ... soll ich jetzt dein Blut austrinken?«

»Und wenn es mein Herzblut wäre, Adler,« lächelte das junge Weib mit erlöschender Stimme zurück.

Als er sie aber mehr heimtrug als führte, barg Annemarie doch in beklommener Angst das Haupt an seiner Brust. Um nicht das seltsame Geraschel zu hören, mit dem der Abendwind durch die ersten welken Blätter glitt.

Vielleicht schlich sie doch dort weg, – die Schlange, die sich auch in ihr Paradies gefunden hatte.


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