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Wilhelm war nach der Stadt gefahren, um das Nötige für die kleine Bestattung anzuordnen. Und als Annemarie sich aus den Tüchern wand, in die man die von einem krampfhaften Frost Geschüttelte gehüllt hatte, fand sie die kleine Leiche schon unter den Blumen, die Annas treue Hand über den toten Liebling gestreut. Rechts und links von dem zerwühlten Bettchen brannten still und feierlich zwei hohe Wachskerzen, und ein blauer Sommerfalter, den die zuckenden Lichter in die stille Stube gezogen, flatterte immer wieder über das blonde Köpfchen hinweg, daß es wie ein Bild vom Gestade der Ewigkeit war ...
Dort hinüber können! Aus all dem Schmutz, über all die Lüge ... Wie das in ihrer Seele schrie – ein einziges lechzendes Verlangen! Doch auch dort war noch kein Friede für sie zu finden. So dunkel und mächtig stand die eigene Schuld vor ihr.
So wußte sie genau, was ihr noch zu tun blieb. Und als sie in einem neuen Strom von Tränen wenigstens für den Augenblick eine kleine Erleichterung gefunden hatte, setzte Annemarie sich an den Tisch neben die kleine Leiche und begann mit fester Hand den Abschiedsbrief an den zu schreiben, dem einmal alle Liebe und der ganze Glaube ihrer reinen Jugend gehört hatten.
Erst nach der Bestattung sollte er ihn finden. Bis dahin wollte sie schweigen und mit keinem Wort den heiligen Frieden stören, den der Tod über dieses Haus gebreitet. Bis an das kleine Grab gemeinsam mit ihm gehen, dem sie Treue und Liebe in jeder Lebenslage geschworen – den letzten Weg, den sie noch miteinander zu gehen hatten! Dann mochte er in seinem öden Heim den Brief finden, der ihm sagte, daß sie alles wußte und nicht ein zweites Mal verzeihen konnte.
Und hier mußte dieser Brief geschrieben werden! Unter den flackernden Lichtern, zwischen denen das Kind lag, das nie gewesen wäre, wenn es nach des Vaters Willen gegangen – das dem Tode verfallen war, weil auch die Mutter ihre Pflicht vergessen. Hier, wo Gott sie beide gefunden und beide gestraft hatte ... hier!
Und während ihre Blicke immer wieder durch brennende Tränen nach dem toten Liebling gingen, schrieb Annemarie in wenigen Zeilen und mit fester Hand den Abschied an den Treulosen nieder. Und als sie den Brief endlich faltete und versiegelte, war auch von ihrem ganzen Glück nicht mehr übrig als der traurige Duft von Blumen, die auf einer Leiche lagen, und der flüchtige Schmelz der Farben, die ein Sommerfalter auf seinen Schwingen zum Fenster hinaustrug ...
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Was Annemarie noch bis zum Tage des Begräbnisses gefürchtet hatte: daß irgendein Wort oder ein heuchlerischer Tröstungsversuch des Gatten sie aus der angenommenen Ruhe reißen und vor der Zeit zu sprechen zwingen könnte – traf nicht ein. Kühl und besonnen wie sein Wissen und er selbst blieb auch der Schmerz des berühmten Mannes. Da fiel es ihr nicht schwer, auch das eigene Wesen ganz in die starren Falten des Wehs zu hüllen, das ihr zukam.
Möglich, daß sein Ausweichen auch eine Art Schonung war, bevor, wie er glauben mochte, er selbst zu dem letzten Schlag ausholte, der sie im Innersten treffen sollte. Oder die Vorbereitung auf ein weiteres Jahr voll Verstellung und Lüge. Die Dirne, die er liebte, wollte ja »keinen Skandal«, wie sie gesagt hatte. Nicht den offenen Bruch. Aber auch nicht die »Teilung«. Vielleicht war sie doch noch nicht zu Ende mit ihm, wie er fürchtete: Liebte ihn noch oder wollte ihn und sie, deren Glück sie nicht sehen konnte, noch eine Weile quälen ... die Sommerreise auf der Yacht des Millionärs konnte ja noch in Frage bleiben. Und vielleicht war es auch ihm zuletzt nicht unrecht, im Dunkel der Sünde weiterzuspielen. Der »Skandal« griff ja auch an seinen Namen. Und den liebte er. Den, das wußte Annemarie, würde Wilhelm selbst am liebsten bis zuletzt bewahrt wissen. Bewahrt vor dem Licht einer Öffentlichkeit, der es vielleicht doch einfallen konnte, an seiner Handlung nicht nur sein Leben, sondern auch die moralischen Werte seiner Weltanschauung zu messen. Schon der Gedanke an Edwin und Konrad mußte ihm fürchterlich sein. Noch mehr jener an seine Gegner. Darum war er vielleicht auch gegen sie bis zuletzt so ritterlich gewesen. So ganz unfaßbar liebenswürdig. Um sie immer wieder zu einer Rolle zu bestimmen, die längst nicht mehr die ihre war ...
Oder ging doch noch ein bißchen Reue nebenher?
Genug. Der Tag des Begräbnisses kam, und die scheinbare Einigkeit der Gatten blieb bis zuletzt ungestört. Nicht einmal Frau Krügers ewig tastende Muttersorge und Mutterzärtlichkeit kam an das innerste Leid ihres Kindes und an die maskierte Würde des trauernden Vaters heran.
*
Bevor sie den kleinen Sarg hoben und aus dem Zimmer trugen, durch das solang die Atemzüge ihres Kindes geweht, ging Annemarie noch einmal hinüber. Ganz allein. Nur sie hörte den leisen Schritt, der ihr auch dahin nachfolgte, immer wieder – immer wieder: die eigene Schuld!
Und hier, wo die junge Menschenblüte gelacht und geweint, geschlafen und gejubelt; wo noch alle Erinnerungen wach waren, die eines Menschenkindes Spuren bedeuten: die ersten, fast tierischen Laute, mit denen es nach der Mutter geschrien, wenn ihn hungerte; tausend kleine, süße Drolligkeiten; der oft so putzige Ernst des kleinen Mannes; das erste »Ma–ma!«, das ihr Kindchen ihr entgegengerufen, und jener letzte, wie in einem jähen Besinnen und Erkennen auch von der Schuld der Mutter noch einmal aufflackernde, tiefernste, tragische Blick –
Hier lernte Annemarie nicht nur die Vergangenheit, sondern auch ihres eigenen Lebens Zukunft zuerst und ganz erfassen und das, was für sie noch Zukunft heißen durfte, gemessen an dieser Schuld ...
Sie hatte keine Tränen mehr zu geben. Wenigstens jetzt nicht. Wie ausgebrannt war ihr Herz. Erstarrt ihr Antlitz hinter der Maske, die sie vorgenommen. Nur eine weiße Rose, die letzte, die im Garten erblüht war, legte sie zwischen die stillen Hände des Kindes und ihr eigenes Bild an die kleine Brust. Dann sank sie noch einmal ins Knie vor dem Sarg. Und während sie die Arme wie zu einem Heiligtum emporstreckte, schluchzte sie leise:
»Nimm auch mich selbst hinab! Ich darf kein Glück mehr haben in dieser Welt!«
Es war ein Gelöbnis, mit dem sie ihre Schuld für immer an den kleinen Toten binden wollte.
Endlich kam Frau Krüger und holte sie mit sanfter Gemalt heraus. Gleich hinter ihr traten die zwei Leichenträger mit der blauen Schulterschärpe ein. Nach ihnen zum ersten und letzten Male der Vater.
»Jetzt!« dachte Annemarie bitter. Wo der kleine Sarg geschlossen wird und das arme, blasse Kindesantlitz kein Vorwurf mehr sein kann für ihn. Sie wußte, daß er, der alles Glauben und Hoffen nur an das Leben band, den Tod nicht nur fürchtete, ihn geradezu verabscheute. So war wohl auch die Leiche des eigenen Kindes nur mehr ein Gegenstand innerlichen Widerwillens für ihn. Eine Form des ewigen Kreislaufes, der man am besten auswich.
»Wie roh, wie unsäglich roh das alles ist!« dachte Annemarie, bei diesem Endkapitel des Materialismus angelangt. »Und daß ich mir nicht schon früher gesagt habe, daß ein Mensch, der nur an das glaubt, was sich erforschen, betasten und berechnen läßt, des Heiligsten ermangeln mußte: der Ehrfurcht!«
Nun war auch ihr Leben und ihr Glück dem Moloch zum Opfer gefallen, vor dem fast ein ganzes Volk und seine Besten so lange den Weihrauch geschwungen hatten. Gottlosigkeit und Übermenschentum ... Ja, was waren sie anderes, als roheste Selbstsucht und brutalste Gewissenlosigkeit.
Da schritten sie ja noch einmal an ihr vorüber – auf einem ehernen Antlitz die Maske der gesellschaftlichen Heuchelei – in der Gestalt des Mannes, den sie über alles geliebt hatte!
Mit keinem Blick streiften sich die beiden. Als er aber drinnen war, löste Annemarie rasch ihren Arm aus der Hand der Mutter. Sie besann sich, daß nun der richtige Augenblick wäre, den Abschiedsbrief auf den Schreibtisch Wilhelms niederzulegen. Vor der Bestattung kam er nun nicht mehr hinein.
Ruhig, als hätte sie eben bloß noch etwas in Ordnung zu bringen, schritt Annemarie durch die ganze Flucht der Zimmer zurück, legte den Brief rasch auf den Tisch nieder, an dem einmal auch ihr Stuhl gestanden – ließ einen letzten, großen Blick noch einmal durch die Stube gehen, die wohl noch mehr von dem Verrat des Gatten wußte und von der stummen Qual der Nächte, da vielleicht noch das Bessere in ihm sich gewehrt und auch um sie gelitten hatte.
Dann ging sie mit großen Schritten hinaus, stolz und fremd wie eine Königin, die sich in eine Welt verirrt, die nie die ihre gewesen war.
Schon hörte sie durch die weitgeöffnete Tür der Halle die feierlich-gleichmäßigen Schritte der beiden Träger, die den kleinen Sarg hinabbrachten. Von der Treppe wehte ihr der herb-schwüle Blumenduft der Kränze entgegen, die man soeben hinabgetragen hatte, um den kleinen Liebling zu bedecken.
Und da standen ja auch schon die anderen Leidtragenden – ihre Brüder und Tanten. Sogar Onkel Paul war gekommen.
Ein flüchtiges und ganz seltsames Lächeln glitt über das verhärmte Antlitz der Betrogenen, als sie den »Prokurator des Obersten Gerichtshofes« sah, der ihr mit der ganzen ehrlichen Sauertöpfigkeit seines »Bauchredners« das Beileid aussprach und keine Ahnung hatte, wie bald die Nichte auch seine »forensische Verlogenheit« in Bewegung setzen mußte.
»Was für ein Axiom sein Bauchredner wohl für unseren Kasus finden wird?« dachte sie bitter in sich hinein. Und um wieviel diese Angelegenheit »sauberer« ist als jene des Polen, den Onkel Paul verurteilt und doch auch – verstanden hatte?
Aber da stand schon ihr Mann und bot ihr den Arm. Würdevoll und korrekt, bis zum letzten Augenblick ...
O Maskerade des Lebens! fuhr es ihr durch den Sinn. Und wie sie alles, was geschehen war und noch geschah, nun bedachte, erschien es ihr plötzlich fast als ein Wunder, daß ihr Kind auch nur ein Jahr lang leben konnte und gelebt hatte, in dieser stickigen Atmosphäre der Lüge und des Betruges.
»Halte dich fest, nun kommt die Treppe!« hörte sie den Gatten sagen. Und dann, wie in ehrlicher Besorgnis, weicher und leise:
»Du wirst mir doch nicht fallen, Annemarie –?!«
O wie weh' es tat, noch einmal so die geliebte Stimme zu hören! Nun er nichts anderes mehr für sie hatte als Mitleid ...
»Das letzte, was ich auf lange von ihm höre!« dachte Annemarie wie in einem Traum.
Dann sprang sie rasch und fast leicht in den Wagen –
Er sollte sie nicht wieder berühren –
*
Es war der letzte Sonntag im Juni, und die Straßen lagen noch hell und laut, als die Wagen vom Friedhof zurückfuhren ...
Wilhelm hatte, von Onkel Paul in ein längeres Gespräch verwickelt, nicht gleich Zeit gefunden, in den Wagen zu steigen, in dem Annemarie mit der Mutter und den älteren Brüdern Platz genommen. So fuhren sie voraus, und Annemarie freute sich, daß ihr auch die letzte kleine List so wohlgelungen war. Sie selbst hatte dem Kutscher nicht das eigene Heim, sondern die Wohnung der Mutter als Endziel angegeben. Nun fuhren die Ihren von der traurigen Feier des Todes völlig ahnungslos der noch herberen Enttäuschung entgegen, mit der das Leben da draußen sie alle erwartete. Nur Edwin war ferne.
Erst daheim, im Schoße der Mutter, wollte Annemarie ihr ganzes Weh ausschütten ...
Die schöne, breite Straße, die vom Döblinger Friedhof zwischen schattigen Bäumen wieder in das vornehme Villenviertel Wiens mündet, lag im strahlenden Glanz der Abendsonne. Hunderte und Hunderte zogen darüber heim. Die Blumen in den Händen, die sie auf den Bergwiesen des herüberwinkenden Hermannskogels gepflückt, oder in den lieblichen Wäldern um Neuwaldegg und Salmannsdorf. Mundharmonikas und Okarinen ließen ihre fröhlichen oder sentimentalen Klänge erschallen. Die Alten schwatzten. Die Jungen lachten und girrten. In das Geschrei der sich haschenden Kinder bellten wichtig und aufgeregt die mitausgezogenen Hunde drein.
Ein Wiener Sonntag!
Er war heiß und schwül gewesen, wie von fernen Gewittern bedroht. Und die schwarze Wolkenbank, die schon seit dem Morgen im Westen gestanden, war noch immer sichtbar: Unbeweglich, durch all die vielen Stunden her, bis zum Abend, fast unheimlich ...
Nun aber begann es schon kühl und wohlig von den Hängen des Kahlenbergs herabzuwehen. Aber die grünen Saaten der Döblinger Vorberge lief der Wind, daß ihr welliges Gekräusel wie bläuliche Seide im letzten Abendgold aufglänzte. Und tief unten im Tal schlug ein fernes Glockenspiel eine volkstümliche Weise an, die die rüstig Heimziehenden munter mitsangen oder pfiffen:
»Mei' einzige Freud' is' mei' herziger Bua –
Mei' einzige Freud' is' mei' Bua!«
Und da klang über die letzten Vorstadtwiesen und Villengärten herüber auch schon das fröhliche Geschmetter der Militärkapelle, die allsonntäglich in dem großen Park auf der Türkenschanze konzertierte. Straußische Walzerklänge ... – die »Frühlingsluft«! Süß einwiegend, lebenstrunken, leidvergessen ...
»Wenn wir nur schon bald draußen wären aus all dem Jubel und Lärm!« meinte Frau Krüger mit einem besorgten Blick nach der Tochter, die starr und regungslos, beide Augen geschlossen, in der Ecke des Wagens lehnte. Er war zwar geschlossen – nur ein Fenster herabgelassen. Aber doch: wie herb und schmerzhaft mußte nur das Gequiek und Geplauder all der heimziehenden Kinder da draußen an das arme, zuckende Mutterherz greifen!
»Soll ich ganz schließen?« fragte Frau Krüger leise.
Doch Annemarie schüttelte das Haupt.
»Es wär' auch sonst wohl kaum auszuhalten,« meinte der älteste Bruder mit einem besorgten Blick nach der Schwester, die blässer und blässer zu werden schien und immer tiefer in ihre Schleier versank.
Da – eben als der Wagen den Park entlang fuhr, über dessen Gitter die blühenden Robinien rosige Purpurwolken legten – hielt die Militärkapelle mitten im Spiel ein. Wie auf einen einzigen, gewaltsamen Ruck hin. Zugleich begannen die Menschen dichtgedrängt und wirr aus dem Park zu fluten – daß es sich wie eine einzige Sturzwelle ansah, die über irgendeine Angst oder eine plötzliche Stauung den Weg ins Freie suchte. Blutrot und erregt oder totenblaß und starr alle Antlitze. Die Männer schrien und gestikulierten heftig mit Stöcken und Schirmen – schweigend und beklommen zogen die Frauen nebenher. So und so viele angstverstörte Kinder schienen mit einem Male dasselbe zu fragen ...
Und immer dichter quoll es heraus, überströmte die Straße, hielt auf dem offenen Gleise der Straßenbahn, lauschte zu den Schaffnern empor, die mit den Wagen soeben aus der Stadt kamen.
Schon flatterte da und dort ein langes, weißes Flugblatt auf, von Hand zu Hand weitergegeben, gerissen.
»Da ist etwas geschehen!« murmelte Annemaries ältester Bruder.
Am Ende der Straße stand ein Zeitungskiosk. Er war geschlossen. Aber noch immer stürmten die Menschen an.
»Ausverkauft!« war mit flüchtig hingekritzelter Schrift in roter Tinte auf einem weißen Blatt zu lesen, das an der Türe hing.
»Etwas Großes ist da geschehen!« sprach aufs neue Annemaries Bruder – »wenn nicht etwas Entsetzliches!«
Dann beugte er das Haupt hinaus ...
»Extraausgabe–ee!« scholl es vom Ende der Straße her. Und gleich darauf, wie ein rascher Kommentar:
»Der Mord in Serajewo!«
Nun erblich auch Frau Krüger.
»In Serajewo –? Dort ist doch gegenwärtig unser Thronfolger, nicht?« stammelte sie fragend zu ihrem Sohn hinüber.
Er nickte bloß. Aber ein wilder, ein gleichsam einziger Schrei von der Straße warf ihnen im selben Augenblick die Antwort zu:
»Sie haben den Thronfolger getötet!«
»Soll ich halten lassen?« fragte Frau Krüger zu Annemarie hinüber. Und zugleich gewahrend, daß der Kutscher eine andere Richtung einschlug, rief sie laut: »Er fährt ja nach der Stadt, Annemarie! Nicht zu euch?« Und sie beugte sich an Annemarie vorüber zum Fenster hinaus, um den Kutscher anzurufen.
Aber schon lag Annemaries Haupt in ihrem Schoß. Wie ein Kind war sie wieder an der Mutter niedergeglitten. Und das totenblasse Antlitz hinter der dunkeln Wolke ihrer schwarzen Schleier bergend, weinte, nein schrie sie zu ihr empor: »Nimm mich wieder zu dir, Mutter ... nimm mich zu dir! Ich habe kein – Heim mehr!«
Und ohnmächtig glitt sie auf den Boden des Wagens herab.
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Das waren seltsame Tage, die nun für Annemarie kamen. Dieses Erwachen in dem stillen, weißen Mädchenzimmer, das sie als strahlende Braut verlassen, um sich jetzt Stunde für Stunde darin eines Lebens zu entsinnen, das alle Qualen in sich geborgen, die eine Frauenseele nur erleiden konnte, und nun doch so befremdend hinter ihr lag, daß es ihr eines Tages vielleicht wie ein banger, ferner Traum erscheinen mochte.
Wenn ich selbst schuldlos wäre! dachte sie. So aber fühlte sie, daß ihr auch hier kein Friede beschieden war, keine Ruhe, das Bewußtsein der eigenen Pflichtvergessenheit selbst den tiefen und reinen Schmerz um ihr Kind vergiftete.
Und doch waren es Stunden voll seltsamer Weihe, die sie nun in der alten Stube verlebte. Wo jedes Möbelstück seinen Platz behalten hatte; jedes Bild noch immer an derselben Stelle hing – die Bäume, zu denen sie schon als Kind emporgeblickt, noch immer leise und verträumt vor den Fenstern rauschten.
»Als wäre nichts geschehen unterdes!« dachte sie zuweilen mit einem wehen Stich im Herzen.
Dann sah sie wohl nach dem alten Kruzifix, dessen weißer Heilandsleib nun doppelt geheimnisvoll in das Dunkel ihres Schmerzes hineinleuchtete. Daß sie lange, bange Stunden davor knien und beten konnte – oder in einem Anfall verzweifelnder Seelenempörung ihn anstarren und fragen:
»Warum dies alles mir?!«
Doch der bleiche Dulder gab ihr keine Antwort mehr. Oder nur die eine, die auch er in letzter Stunde zu Gott emporgerufen ... Jenes geheimnisvoll-leise, gleichsam sprechende Geknister, das ihre reine Mädchenseele zur ersten und reinsten Liebe ihres Herzens entflammt – es lieh sich nicht mehr hören. Tönte nur noch in ihrer Erinnerung fort, wie die Stimmen der weißen, wundersamen Unschuldstage, die sie in dieser Stube verlebt. Daß sie mit brennenden Augen oft halbe Nächte lang schlaflos dalag – zwischen dem Schmerz um das Erlittene und der wieder erwachenden Sehnsucht nach jenem mystischen Erleben aus ihrer Vergangenheit.
Doch keine Antwort kam ihr mehr. Keiner jener weißen Träume, die sie in das Wunderreich zurückführten, das er selbst ihr gezeigt. Allein mußte sie durchleiden, was sie ohne ihn auf sich genommen. Ganz allein ...
Onkel Paul war der erste, der sich nach dem konfusen und verzweifelten Bericht Frau Krügers bei Annemarie einfand. Sie selbst hatte noch nicht die Kraft, das Haus zu verlassen. So elend fühlte sie sich. Einen Brief Wilhelms, der schon am nächsten Tag eingelaufen war, hatte Frau Krüger auf Annemaries Geheiß uneröffnet dem alten Juristen übergeben. Die ganze Tragödie ihres Lebens, alles, was sie stumm oder ahnungslos so lange erlitten und getragen, war ja jetzt nur mehr ein »Fall«, wie die Juristen sagen. Eine Streitsache, der es bestimmt war, einige Zeit hindurch in soundso vielen Aktenstücken, die zwischen dem »Verteidiger des Ehebandes« und den »Parteien«, hin und her wanderten, ein mehr oder weniger langes Leben zu fristen, um dann eines Tages den Grabesschlummer einer für Gott und die Menschen erledigten Sache anzutreten. So mochten sich auch die Berufenen allein damit befassen.
Das feingeschnittene Antlitz tief herabgeneigt, so daß der goldene Knopf seines Gehstockes fast das scharf ausrasierte Kinn des alten Juristen berührte, saß Onkel Paul regungslos da und horchte aufmerksam auf das, was Annemarie zu erzählen hatte.
Sie begann mit der ersten Treulosigkeit, der sich Wilhelm ihr gegenüber schuldig gemacht: den heimlichen Zusammenkünften mit seiner Jugendgeliebten. Wobei sie jedoch in einer fast ängstlichen Flucht vor den eigenen Gedanken den Verdacht, daß es schon damals zu einem ernsteren Vergehen gekommen sei, überzeugt und entschieden von sich wies.
»Und deine Beweise für diese Lossprechung?« lächelte der alte Herr mit einem eigentümlichen Blick über seinen Stock hinweg.
»Wie könnte ich Beweise für etwas beibringen, wovon ich bis zuletzt keine Ahnung hatte?« seufzte Annemarie müde. »Ich habe bloß die Empfindung gehabt, daß seine Beteuerungen damals so wahr und echt waren wie seine Reue.«
»Und wie denkst du heute darüber?« wiederholte Onkel Paul mit anderen Worten seine Zweifel.
»Noch so wie damals, und trotz alledem!« entschied Annemarie nach einigem Nachsinnen. »Es mag dir vielleicht seltsam erscheinen, aber – –«
Der alte Junggeselle hob das Haupt und starrte eine Weile, leise vor sich hinpfeifend, in die grünen Wipfel hinein, die sich draußen im Sommerwind hin und her schaukelten.
»Seltsam erscheint mir nichts mehr in diesen Angelegenheiten,« sprach er endlich achselzuckend in das Schweigen hinein. »Deine Perlen aber muß er damals doch bei ihr vergessen haben!«
»Sie haben an jenem Tage in einem Restaurant miteinander gespeist. Dabei hat er ihr das Geschenk gezeigt, das er für mich gekauft, und die Perlen dann liegengelassen. So hat er es mir erzählt,« besann sich Annemarie. »Auch das Restaurant kenn' ich.«
Der alte Jurist räusperte sich. »Möglich, möglich. Und vielleicht sogar um ihr zu zeigen, wie sehr seine Neigung für dich engagiert sei. Wobei ich die vierzig Jahre der Französin als mildernden Umstand gelten lassen will. Immerhin: Warum hat er überhaupt reagiert?«
»Sie hat ihn ja bis in den Hörsaal verfolgt!«
»Verfolgt ist gut,« murmelte Onkel Paul, »sehr gut! Wenigstens in diesem Fall. Und wie gesagt: immer ihre Vierzig vor Augen. Waren noch irgendwelche schöne Reste da?«
»Eine schöne – ganz seltsam schöne Figur, – große, dunkle Augen – ein vornehm blasses Gesicht – ähnlich wie – wie Mela!« gab Annemarie mit zitternder Stimme zu.
»Der ›Typus‹ also, wie mein Bauchredner sagen würde,« nickte Onkel Paul mit einem leisen Herabziehen der Mundwinkel. »Der unentrinnbare Typus! Der mit dem ›Archetypus‹ des Platon beginnt und im gemeinen Leben der hierzu prädestinierten Individuen dann unfehlbar immer dasselbe Unheil anstiftet. Mein Bauchredner würde deinen Mann also auch in diesem Falle vollkommen verstehen, wie du siehst.«
»Auch entschuldigen?« fragte Annemarie scharf.
»Das ist wieder ein anderes Kapitel,« murmelte Onkel Paul ausweichend. »Als Jurist brauch' ich zunächst nur die Fakta. Und illustrativ ist auch dieses. Also eine noch reizvoll alternde Französin. Mit der Zwangsvorstellung der Jugendliebe –«
›Ja – ja!‹ wollte es plötzlich laut aus dem wunden Herzen Annemaries hervorschreien. Wilhelms Benehmen am Weihnachtsabend fiel ihr ein. Das fast zynische Vergnügen, mit dem er von den Festabenden seiner Junggesellenzeit gesprochen. Aber zugleich schrie auch ihr Stolz auf. Bäumte sich ihr innerstes Weibgefühl gegen die Möglichkeit, in derselben Weise zweimal entwürdigt worden zu sein. Und ganz zuletzt sprach noch etwas für die Wahrheit seiner Worte: Damals hatte er sie noch begehrt; seit er Mela verfallen war, kaum mehr beachtet. Und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Laß dieses – dieses Faktum in die Vergessenheit sinken, Onkel, wenn du meinen Advokaten berätst,« bat sie mit gefalteten Händen. »Es soll keine – keine unsaubere Angelegenheit werden, wie die des Polen!«
»Aber wir werden Indizien brauchen, mein Kind,« gab Onkel Paul zu bedenken. »Können gar nicht genug haben, um seinen Charakter nach dieser Seite hin zu profilieren! Noch kennst du nicht die Schwierigkeiten einer lückenlosen Beweisführung. Die Wucht eines plötzlichen und geschickten Einwandes von gegnerischer Seite. Die Klippen all der Pro und Kontras im Verfahren –«
»Wie du meinst, Onkel,« gab Annemarie endlich mit feuchten Augen zu. »Aber doch nur dann, wenn es sich als unbedingt notwendig erweisen sollte.« Ihr stand der Abend vor der Seele, da sie, mit den Blumen Konrads in den Händen, heimgekehrt war und die Eifersucht Wilhelms sich wie eine einzige Flamme daran entzündet hatte. Das laute Schluchzen, mit dem er zu ihren Füßen niedergesunken war; die Versöhnung und die Nacht, die sie nach schwerer Trennung wieder vereint hatte. Der Sommer in dem stillen, hochgelegenen Alpendorf, in dem sie nur ihrer Liebe gelebt ... Die vom Gezirp der unzähligen Grillen erfüllte, schwüle Vollmondnacht, in der sie ihren armen Jungen empfangen. Und wie heiß die frühen Zyklamen und wilden Orchideen damals vom Waldrain zu den offenen Fenstern hereingeatmet hatten, wie laut und lebensvoll das blaue Alpenwasser draußen zu Tal geeilt war: Liebesgottesdienst – Lebensmusik!
Und ein neues Wesen hatte dabei die Seele empfangen.
Nun war das alles wie nie gewesen. Lag draußen, auf dem Friedhof, sechs Schuh tief ...
Aber sie mußte stark bleiben. Eben deshalb ...
»Das andere freilich hab' ich Wort für Wort selbst gehört,« sprach Annemarie mit tonloser Stimme weiter. »Kann ich alles beschwören – alles!«
Und was Frau Krüger dem alten Juristen tags vorher nur in flüchtigen und verzerrten Zügen wiedergegeben, rundete sich in Annemaries sachlich klarer Darstellung nun allmählich zu dem Faktum, das nicht erst mühsam konstruiert werden mußte.
»Indizium – Verdacht – Überführung – Punktum!« summierte Onkel Paul mit einem zufriedenen Kopfnicken, als Annemarie zu Ende war.
»Selbst einen Zeugen hab' ich,« lächelte Annemarie müde. »Wenn auch nur dafür, daß die beiden richtig eine ganze Weile an der Stelle standen und sprachen, von der aus ich alles erhorcht hab' und erhorchen konnte.«
»Aber das ist ja geradezu brillant!« rief Onkel Paul händereibend. »Vorausgesetzt, daß es sich um ein ganz einwandloses Subjekt handelt –«
»Der alte General uns gegenüber! Er saß auf seiner Terrasse und sah einige Male nach den beiden hinüber.«
»Alter Militär – um so besser! Nur –«, und Onkel Paul erhob sich – »wie hast du es über dich gebracht, dem Inkulpaten gegenüber so lange zu schweigen? Sein Haus zu verlassen, ohne ihm nur ein Wort ins Gesicht zu werfen? Das ist sonst nicht gerade Frauenart, soviel ich die –«, er räusperte – »die Weiber kenne. Und meinem Bauchredner hast du einen ungeheuren Respekt damit abgezwungen. Doch aber klafft mir da eine« – er hielt ein und sah nun scharf zu Annemarie hinüber – »eine Lücke! Und der Psycholog in mir wäre natürlich neugierig!«
Annemarie fühlte förmlich, wie alles Blut in einem einzigen Augenblicke nach ihrem Herzen zurückebbte. So tief erschrak sie:
Ihr Geheimnis – ihre Schuld! War es möglich, daß sie gerade für den zuerst offenbar wurde, dem sie ihre Sache in die bewährten Hände gelegt?
»Du vergißt, daß mein – daß das Kind erkrankte und die – die Todesnacht zwischen meine erste Erregung trat und dann die – die Leiche!«
Der alte Herr kniff die Lippen ein und starrte mit einem Male ganz angelegentlich seinen Stock an. »Und das ist so – plötzlich gekommen?«
»Er weiß alles!« dachte Annemarie in ratloser Qual. »Er, der gewohnt ist, immer nur die Schuld zu suchen.«
Sie seufzte auf.
»Ja, – plötzlich ... o, so plötzlich!« Und schon strömten die Tränen über ihr Gesicht, verhüllte sie gleichsam vor sich selbst erschauernd, das Antlitz.
Es war so gut wie ein Bekenntnis ...
Eine Weile blieb es totenstill.
Nur das Gesäusel der alten Akazien draußen lispelte leise zu den Fenstern herein: »Sss – Sss – sst!« Auch wie in Angst – und Schweigen gebietend ...
»Du armer – Mensch du!« sprach Onkel Paul erschüttert in Annemaries Schluchzen hinein. »Du armer Mensch!«
Dann sank die Hand des alten Mannes wie einst auf ihr Haupt herab, strich langsam und beruhigend über die goldbraunen Scheitel. Kein Wort mehr. Daß Annemarie wußte: ›Auch das ist nun begraben, und kein Mensch erfährt mehr etwas davon, ich wollte denn selbst –‹
Nur vor Gott stand noch ihre Schuld. Aber sie wagte nicht, darüber hinauszudenken ... noch nicht.
»Du willst also los von dem Menschen, ganz los?« begann Onkel Paul nunmehr wieder sachlich.
Annemarie nickte.
»Und der Brief, den er dir gestern geschrieben hat? Wolltest du selbst ihn nicht lesen, oder hat es deine Mutter für gut befunden?«
»Ich selbst wollte nicht!« klang es dumpf zurück.
Über das lederne Antlitz des alten Juristen huschte ein ganz eigenes Lächeln hin. Ein Lächeln, das ihn fast schön und jung machte.
»Das heißt, du – liebst ihn noch immer! Und fürchtest, von ihm wieder überredet zu werden. Ist es so? Sag'?«
Annemarie schwieg. Aber die Tränen perlten nun auch zwischen den Fingern hervor, die das arme Antlitz verhüllten.
»Ja, ja,« nickte der alte Jurist immer mit demselben Lächeln vor sich hin. »Das ist das Weib! In seiner ursprünglichsten, göttlichen Ausgabe ... wie ich selbst es aus soundso vielen Fällen meiner Praxis kennengelernt habe. Und eigentlich auch mein letzter Glaube. Donnerwetter.« Und er schlug fast irritiert mit dem Stock in die Luft hinein:
»Wir natürlich machen uns das immer zunutze. So auch dein Herr Gemahl! Kein Wort der Reue oder Beschämung in seinem Brief! Nur die ewig alten Versicherungen und Beteuerungen der Liebe. Er kennt dich also.«
Annemarie horchte auf, ließ die Hände sinken.
»Dann ist es in diesen Tagen zwischen ihm und Mela zum Bruch gekommen!« entfuhr es ihr überrascht.
»Und wenn?« forschte der Jurist. »Ich meine ... einstweilen ist die Sache noch unter uns. Nicht einmal einen Advokaten hab' ich noch für dich geworben. Nun?«
Annemarie schüttelte das Haupt. »Nein, Onkel Paul! Ich kann nicht mehr zurück. Ein Grab liegt zwischen uns und so viele – so viele Lügen, daß er selbst erst sterben müßte, damit ich ihm verzeihen könnte.«
»Also dann ans Licht mit den Schlangen,« sprach der alte Herr langsam. »An das Licht, an das wir selbst nicht mehr glauben –!«
»Wie meinst du das, Onkel?« fragte Annemarie betroffen.
Seine Hand fiel schwer auf ihre Schulter. »Kind, du! Glaubst du noch immer, daß das Leben so gelebt wird, wie es in den Büchern steht? Und die Gesetze Gottes und der Menschen es vorschreiben? Einmal haben wir Deutschen wenigstens darin uns vor aller Welt in die Brust werfen können. Nun –«, und er schüttelte leise das alte Haupt – »nun beginnen auch wir schon es so zu machen wie alle Welt. Wo sind die schönen Tage, da ich noch den frohen Glauben hatte an die Sinnes- und Herzensreinheit unseres Volkes? Und bei Kant und Fichte und Schelling auf den deutschen Idealismus geschworen habe? Die Zeit, die uns das rücksichtslos-verantwortungsvolle Ausleben der Persönlichkeit gelehrt hat – die ›das Recht des Stärkeren im Kampf ums Dasein‹ von der Natur in die Moral projiziert – ich seh' sie heute mit ganz anderen Augen an! Vielleicht ist auch das eine Altersschwäche, wie mein noch immer vorwitziger Bauchredner sagt. Aber – glaub' mir – das reinigende Gewitter wird nicht ausbleiben. Und je früher es kommt, desto besser für uns! Wie immer auch das importierte Ungeziefer heißt, das sich auf der Borke der deutschen Eiche eingenistet – ins Mark hat es sich ihr zum Glück noch nicht hineingefressen – noch nicht ... aber oft wird mir schon angst.«
»Onkel!« rief Annemarie mit gefalteten Händen zu ihm emporsehend. »Du – du sprichst ja wie Edwin!«
Er nickte müde, wie beschämt. »Leider erst, nachdem ich mein Damaskus hinter mir habe. Und nun, leb' wohl! Deine Sache wird noch heute in die besten Hände kommen!«
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Kaum drei Wochen waren seit Onkel Pauls Besuch vergangen, und schon flammten die ersten Blitze des Gewitters, von dem er damals gesprochen, weithin sichtbar am Weltenhimmel auf ...
Ein vor Kampfeslust gleichsam aufjauchzender Brief Edwins war gleich nach dem Mord von Serajewo eingelangt, noch bevor Edwin eine Ahnung von dem Geschick hatte, das die geliebte Schwester und mit ihr die Seinen daheim getroffen: Daß die ganze Armee, bis zum letzten Mann, dem das Bajonett über die Schulter guckt, förmlich lechze, wider die Mörderbande in dem ewig Zwietracht und Verrat säenden Serbien geführt zu werden, um den Tod des geliebten Prinzen zu rächen ... mehr noch, um den giftigen Umtrieben gründlich ein Ende zu bereiten ... Daß die Täter, wie alle Welt wisse, wohl bei Kragujewatz im Bombenwerfen unterrichtet worden, die eigentlichen Anstifter aber auch diesmal wieder an der Newa säßen und über den grünen Tisch hinüber, an dem noch immer die freundlichsten diplomatischen Händedrücke gewechselt würden, an den Belgrader Gesandten Instruktionen erließen, von denen bis an den San bereits jeder ruthenische Bauer in Kenntnis scheine – nur nicht unsere Diplomaten! Und daß man deshalb der festen Überzeugung sei, daß nach einer Kriegserklärung an Serbien sofort die ganze faule Bombe explodieren werde, die man bisher das »europäische Konzert« genannt ...
»Und wißt Ihr, was mich besonders ergreift an diesem gewaltigen Gewitter, das nun unausweichlich heranzieht und dessen Donner zuerst über die Doppelgruft von Artstetten dahingerollt? Daß es, so ganz wie unser Nibelungenepos beginnt: mit dem Bund zweier Menschen, die sich über alles geliebt und Hand in Hand noch im Tode dagelegen sind – legendenhaft treu – legendenhaft schön! Ich hab' mir von einem Kameraden, der zur Bestattung kommandiert war, darüber einiges schreiben lassen. Wie der Vorgesang eines gewaltigen Epos – der erste Satz einer mächtigen Symphonie war diese Leichenfeier! Die Ankunft der beiden Särge unter den schon langsam im Donautal emporsteigenden Gewitterwolken – die bleichen Leidtragenden – die verstörten Priester – das Militär, das stumm bleiben mußte und doch kaum mehr an sich halten konnte ... Dann der von Baron Tinti über die Fährte nach Artstetten geleitete Zug. Der letzte Salut der Geschütze, der sich mit den ersten Donnern des Gewitters wie symbolisch vermählt, daß die Wellen der Donau ihr Echo talabwärts trugen, immer weiter, tiefer – nach Ungarn, Serbien – bis an das Schwarze Meer, von dessen Gestaden noch einmal die große, dunkle Mörderfaust herdroht – Rußland!
Und dieses Donautal bei Artstetten selbst! Die alten Gemarkungen desselben ›Bechelaren‹, wo der treue Rüdiger gehaust und der ›Nibelungen Not‹ ihren Anfang genommen, die ›Nibelungentreue‹ so sieghaft sich bewährt ...
Gott selbst hat an diesem Epos gedichtet, so mystisch schön, so legendenhaft dunkel ist schon sein Auftakt. Und darum kann dieses Epos nur der ›Weltkrieg‹ heißen, oder ich und wir alle haben nie gefühlt, was der Atem Gottes in der Geschichte ist!
Heil uns, wenn Österreichs und Deutschlands Waffen sich in alter Nibelungentreue bewähren! Wenn der Weltenbrand uns wieder zu einem Volk von Brüdern zusammenschweißt – der tiefe Weltenfriede, der folgen wird und muß, uns dann rein und frei findet von allen Lastern und Krankheiten einer Zeit, die auch schon an unsere Seelen gegriffen: schwächend, vergiftend, zerstörend –
Heil uns!«
So weit Edwins Brief.
Er war der bestürzten Mutter fast aus den Händen gefallen. Weiß Gott, wie sie ihn liebte, ihren Jungen! Wie nur die Möglichkeit seines Verlustes sie in tiefster Seele erzittern ließ. Verstört und kaum eines Wortes mächtig, hatte sie sich zu ihrem Gott geflüchtet. Annemarie, noch zu tief im eigenen Leid verloren, war nur eine halbe Zuhörerin gewesen. Hatte aber der Mutter, den erregten Zustand Edwins erwägend, aufs neue untersagt, ihm auch nur ein Wort von dem zu schreiben, was ihr widerfahren war, sie selbst nun durchleiden mußte. Sie kannte die Abneigung, die er gegen Wilhelm hegte, und fürchtete, daß Edwin Urlaub nehmen könnte und sich zu irgendeiner Tat des Hasses hinreißen lassen.
Seitdem waren einige Wochen vergangen – scheinbar stille, friedliche Hochsommerwochen. Die Wiener wie sonst in ihre Alpen gefahren. Das äußere Bild der Stadt kaum verändert. Und doch war nun der ganze Horizont plötzlich ein einziges Wetterleuchten. Und in einer Gewitterschwüle, die etwas von der Erwartung des Weltgerichtes hatte, hielten Völker und Länder den Atem an.
Das »Tier« der Apokalypse war dem Abgrund entstiegen! Wer weiß, wie bald nun auch ihre vier Reiter in dem dunkeln Gewölk einhergeflogen kamen: Krieg, Hunger, Pest und Tod ...
Schon ging auch in den Straßen jenes seltsame Gewispel von Mund zu Mund, das wie Blättergesäusel vor einem großen Sturm ist. Gerüchte flogen auf – wurden bereitwillig aufgenommen – ungeprüft weitergegeben. Dann kam der Tag, an dem Österreich sein kurzbefristetes Ultimatum an Serbien stellte.
Wieder hielt alles den Atem an, horchte auf.
Aus dem Erinnern des Volkes aber begannen schon die Adler des Liedes aufzufliegen, das im siegreichen Wehen der Fahnen Österreichs da unten einst geboren worden:
»Prinz Eugen, der edle Ritter,
Wollt' dem Kaiser wiederum kriegen
Stadt und Festung Belgerad!«
Wem die Worte damals wohl zuerst auf die Lippen gesprungen, bis sie wie eine einzige Befreiung mitten in die Schwüle und das Schweigen hineinschlugen? Die Parole – der Wille, das Ziel eines ganzen Volkes?
Es war auf einmal wieder da, das alte Lied, und ganz Wien sang, pfiff, trommelte es mit. Aus dem in den Liederbüchern für Volksschulen solange begrabenen Lied war wieder ein – Volkslied geworden! Es klang mit dem ersten fröhlichen Pfiff in den hellen Morgen hinein, der von der Donau herüberkam – mischte sich wie anfeuernd in den strammen Schritt der Wache, die vor der »Burg« aufzog, lebte zum Ärger aller Nachmittagsschläfer plötzlich auf allen Walzen der Werke wieder auf – klang geheimnisvoll im Takt der heimziehenden Burschen wider, die es in die schweigende Nacht hineinsangen.
»Laß dich nicht länger verhöhnen, du greiser, ehrwürdiger Friedenskaiser. Wir dulden es nicht!«
Ein ganzes Volk sang es seinem Monarchen entgegen mit dem Liede vom »Prinzen Eugen«.
Und eines Tages las dasselbe Volk mit nassen Augen das »Manifest« seines geliebten Kaisers.
Der Krieg war da!
*
Auch Annemarie fand keinen Schlummer in diesen Nächten, und die gewaltige Spannung, die draußen die ganze Welt in Atem hielt, erhöhte noch die Reizbarkeit ihrer Seele. Die fast göttliche Intuition, mit der sie draußen ein ganzes Volk für seine gerechte Sache einstehen sah, Schuld und Sühne, weckte die Vorwürfe, mit denen sie das eigene Gewissen belastete, zu immer stärkerem Ansturm auf ihre Seele.
Mit brennenden Augen lag sie bis in den Morgen hinein wach – verzehrte sich in schluchzender Sehnsucht nach dem toten Kinde, das wie eine verwelkte Blume da draußen wieder Atom um Atom der Erde zurückgab – wieder »Staub« wurde – und mit ihm alles, o alles, was sie geliebt!
Ganze Stunden brachte sie während des Tages auf dem stillen Friedhof zu, den die große Zeit, die sich draußen vorbereitete, fast um alle Besucher gebracht, daß die junge Mutter bald allein in der ganzen Reihe der Gräber stand, die der Tod seither aufgeworfen. Doch auch dahin folgte ihr das dumpfe Gefühl ihrer Schuld, der nagende Vorwurf: ›Es lebte noch, lachte und blühte noch, wenn du es damals nicht allein gelassen! Das Hündchen, das dich geholt, hat mehr Pflichtgefühl in seiner kleinen Brust gehabt als du in deiner auflodernden Leidenschaft und Eifersucht!‹
Und wenn sie dann heimkam und sich wie eine Gehetzte vor dem Kruzifix niederwarf, vor ihrem Kruzifix – da schwieg ihr auch Gott!
Denn was sie den Menschen verheimlichen konnte, vielleicht durfte – er wußte es, er hatte es gesehen, er allein! Und er verzieh nur der Reue, sie wußte es, der demütigen Selbstanklage vor dem Priester.
An dem Morgen nach einer solchen Nacht voll Zweifeln und Qualen erhielt Annemarie einen Brief Onkel Pauls, in dem er mitteilte, daß nun alles in die besten Wege geleitet sei, die äußeren Formalien erledigt wären und der erste Versöhnungsversuch für einen der nächsten Tage angesetzt. Weshalb er noch einmal mit ihr sprechen wolle. Wann er sie daheim treffe?
»Ich werde selbst kommen!« telephonierte Annemarie sofort zurück. Dann machte sie sich eine ganze Stunde früher auf den Weg. Bevor die Hand der weltlichen Gerechtigkeit im »Sühnetermin« zum erstenmal zwischen ihr und dem Treulosen niederfiel, wollte sie selbst auch von aller Schuld gereinigt sein und wenigstens ihres Gottes Urteil hören.
Der greise Priester, zu dem sie so lange die weißen Beichten ihrer Mädchenjahre getragen; der ihren Bund vor dem Altar eingesegnet und vielleicht in nächster Zeit auch im Namen der Kirche, der sie angehörte, und im Auftrag des Konsistoriums als Mitverteidiger des Ehebandes auftreten mußte – er sollte an Gottes Statt hören, was auch ihre Seele belastete. Schwer, so schwer, daß ihr nun zuweilen selbst die Schuld ihres Gatten nur wie ein übermütiger Streich dagegen erschien, der um so viel leichter zu vergeben und zu verstehen war.
Ein Menschenleben – des eigenen Kindes Leben belastete ihre Seele!
Vielleicht, daß Gott durch den Mund seines Priesters das Wort sprach, das sie entsühnte oder zum Geständnis zwang, auch der Welt gegenüber.
Die Gerechtigkeit Gottes wollte sie reden hören, bevor sie es wagte, die der Welt entscheiden zu lassen.