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Das ganze Haus prangte im Schmuck der späten Blumen, als Annemaries Gatte wiederkam. Selbst in Bijuttis Halsband stak eine kleine, lila Aster, und das Wägelchen, in dem der Erstgeborene dem Vater bis an die Gartenpforte entgegenfuhr, war bis zu den Radspeichen mit den purpurnen Ranken des wilden Weins behängt. Und als wüßte der kleine Schelm, daß es sich heute um eine Sache handle, bei der es galt, ganz gegenwärtig zu sein, lag er mit groß aufgeschlagenen Augen in seinen weißen Spitzenkissen und brachte der festlichen Gelegenheit sein Nachmittagsschläfchen zum Opfer.
So fand ihn der Vater und beugte sich wohl etwas allzurasch über ihn, denn Klein-Wilhelm begann sich mit einem quiekenden Schrei gegen die ihm zugedachte Liebkosung zu wehren. Was Bijutti bewog, nun auch seinerseits mit einem drohenden Gebelfer auf den Heimkehrenden loszufahren, das um vieles echter klang als das freudige Gewinsel, mit dem er den Gatten seiner jungen Herrin empfangen hatte. War es Eifersucht oder ein anderer, durch irgendeine Eigentümlichkeit Wilhelms bedingter Widerwille? Der Hund war über seine Abneigung noch so wenig hinweggekommen wie Konrad und Edwin.
Annemarie sah nur den Gatten, den so lang vermißten, so heißersehnten Gefährten, dessen bloßes Nahen sie noch immer bis ins Innerste erbeben ließ. Hoch, schlank, tief gebräunt von der Sonne des Südens stand er vor ihr, und sie merkte gar nicht, daß sie es war, die im Jubel des Wiedersehens sich viel öfter an seine Brust warf, viel inniger an sein Herz legte, als sein Arm sie an sich zog. Nicht einmal die leise Verlegenheit bemerkte sie, mit der sein Blick dem ihren auswich, als sie mit einem süßverschämten Gestammel bekannte: »Auch nicht einen Tag länger hätt' ich so leben mögen.«
Kein Wort fand er darauf. Nur sein Arm schlang sich kameradschaftlich in den ihren, und mit dem Humor des Heimkehrenden meinte er: »Nun vergeßt aber auch nicht, daß ich mir endlich auch Gesicht und Hände waschen muß, nach dieser neunzehnstündigen Fahrt, und vor allem Hunger hab' – einen ganz unbändigen Hunger!«
»Drei Kolli sind es,« wandte er sich zugleich an Anna, die mit dem Kutscher eben die Koffer ins Haus trug.
»Und hast mir gedroht, sechs Kisten mit Präparaten heimzubringen,« lachte Annemarie. »Nun ist's nur eine. Da hast du doch auch an deine Erholung gedacht, wie ich sehe?«
»Es war notwendig,« sagte er, und ihr schien, als kläng' es wie eine leise Trauer in seiner Stimme. »Aber du siehst blühend aus, Annemarie!« Sein Kuß streifte ihre Stirne. So nah erst, Antlitz an Antlitz, gewahrte sie, daß seine Züge etwas merkwürdig Gespanntes hatten und tiefe Schatten unter seinen Augen lagen. Auch sein Haar schien ihr etwas lichter geworden, wenigstens an den Schläfen. Aber er hatte ja eine so lange, so beschwerliche Fahrt hinter sich, ihr zuliebe keine Station mehr gemacht. Wenn er sich erst einmal recht ausgeschlafen hatte, konnte man darüber reden.
Als sie eine halbe Stunde später an dem reichgedeckten Tisch saßen, schwand Annemaries letzte Sorge. So tapfer hatte er daheim früher nur selten zugelangt. Annemarie selbst legte Stück um Stück auf seinen Teller, schälte seine Lieblingsfrüchte, große, herrliche Nektarinen und vollsaftige Birnen, füllte immer wieder des Liebsten Glas aus der bauchigen Champagnerflasche, die in dem silbernen Empirekübel kühlte.
Schon begann ihr eigenes Blut wie beschwingt durch die Adern zu kreisen – die Sehnsucht verschämt und heimlich in ihren Augen aufzuleuchten. Bis die Sprache in einem keuschen Erinnern zu dem zurückfand, was Annemarie seinem Verlangen einst bei einem anderen Mahle versagt hatte:
»Nun kriegst du ihn doch, deinen Champagner!«
Hatte er es vergessen? Er lächelte und leerte sein Glas wieder in einem einzigen Zug, wie damals. Doch sein Blick wich von ihr in den Abend hinaus, der im Blausilber des Vollmondes zu den offenen Fenstern der Gartenterrasse hereingrüßte, auf der heute serviert wurde – der herrlichen Nacht zuliebe, die noch fast sommerlich lau war und mit dem heimeligen Gezirp der Grillen den Heimgekehrten zu begrüßen schien, wie mit einem zarten Griff in schwirrende Liebeslauten.
Von den weißen Balsaminenbeeten, die gerade unter der Terrasse blühten, stieg ein süßer Atem empor. Die gilbenden Hängebirken schienen flüssiges Gold von den schaukelnden Zweigen zu schütteln. In weiter Ferne bellte ein Hund zum schweigenden Mond empor. Trauter, weicher, süßester Heimfriede mußte sich um alle spinnen, die jetzt mit ganzer Seele daheim waren ...
Auch Wilhelm sah noch immer hinaus – wie gebannt, wie erstarrt. Und dann sprach er mitten in das Schweigen hinein.
»Wie schön muß es jetzt am Meere sein!«
»O du,« schmollte Annemarie. »Bist du denn noch immer nicht daheim – daß du nicht hörst, nicht siehst?«
»Was denn?« lächelte er, halb erschrocken, halb verträumt.
»Anstoßen wollt' ich doch mit dir!« Sie hob ihm ihr Glas entgegen. Einige Tropfen waren über den feinen Rand getreten und liefen, vom Glanz der Hängelampe durchzittert, wie flüssige Edelsteine an ihrem blassen Handgelenk herab.
Jäh – fast schrill klangen ihre Gläser zusammen. Aug' in Aug' tauchten sie ineinander. Aber da war etwas in seinem Blick, so weit, so fremd, so abgrundtief, daß es ihr schien, als versänke sie selbst darin, wie in einem Meere ...
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne, schien etwas fortzuwischen – endlich ganz zu erwachen.
»Und wie ist es euch ergangen, unterdes?«
Da hatte sie ihn endlich, wo sie ihn wollte – daheim! Und nun fand sie fast kein Ende im Eifer ihrer jungen Mutterschaft. Um wieviel Bubi zugenommen habe. Wie er schon langsam seine Umgebung zu erkennen beginne, und wie drollig und schlau er jede ihm unliebe Nähe dadurch abwehre, daß er einfach sofort die Augen schließe ... daß er ferner, trotz aller Ähnlichkeit mit der Mutter, schon jetzt in allen Angelegenheiten seines kleinen Lebens ganz unheimlich die Art des Vaters hervorkehre, was Annemarie mit der Wiedergabe einiger putziger Eigenheiten illustrierte.
Zuletzt erzählte sie von den langen Fahrten in das herbstliche Gelände hinaus, und mit einiger Befangenheit bekannte sie endlich auch, daß Konrad bei einer dieser Fahrten wieder ihren Weg gekreuzt habe.
Annemarie hatte sich, wenn auch nicht auf ein Aufbrausen, so doch wenigstens auf ein mißtrauisches Ausfragen des Gatten bereit gemacht.
Doch nichts von alldem geschah. Mit einem wie suchenden Blick noch immer in die Mondnacht hinausstarrend, sprach er leis und wie nebenbei:
»Und was macht dein anderer Romantiker?«
»Die haben noch immer erhöhten Friedensstand dort,« berichtete Annemarie, sich mit einem leisen Seufzer der Enttäuschung endlich der Art des Gatten anpassend.
»Na ja, wollen wir hoffen, daß es dabei bleibt,« nickte Wilhelm. Plötzlich schien er sich zu besinnen:
»Übrigens habe auch ich eine Begegnung gehabt ...«
»Nun?« forschte Annemarie.
»Deine Freundin Mela hat statt an dem Lido in Lussin gebadet. Da haben wir uns dann und wann am Strande getroffen. Sie hatte natürlich wieder Begleitung ...«
Seine Stimme stockte, die dunkeln Brauen zogen sich wie unwillig zusammen. »Mir scheint, den Arzt, von dem du mir schon einmal gesprochen ...«
Annemarie, die einen Augenblick wie witternd die feinen Nasenflügel gebläht hatte, lächelte den Gatten achselzuckend an.
»Und seitdem«, sprach er ruhig weiter, »hat sie sich irgendwie das Recht abgeleitet, mir von all den Weltgegenden, zwischen denen sie sich jetzt in dieser – dieser Begleitung herumtreibt, Ansichtskarten zu senden –«
Er griff in die Brusttasche und langte ein Päckchen hervor, das sich im nächsten Augenblick wie bunte Herbstblätter über den weißen Damast des Tischtuches ausbreitete.
»Da sind sie! Und auf der letzten droht sie mir, wegen Mangels jeder Antwort, diese Serie unter deiner Adresse fortzusetzen!«
»Du warst also sehr brav, wie ich sehe!« sagte Annemarie, mit festem Druck nach seiner Hand greifend.
»So brav als ich jetzt müde bin – todmüde,« nickte er mit einem letzten Blick in die Mondnacht hinaus. Dann erhob er sich.
»Ich geh' jetzt zu Bubi,« hauchte Annemarie.
Es klang wie eine Frage. Doch Wilhelm nickte bloß.
Da glitt sie leise hinaus.
*
Wenige Tage später begannen Melas Karten mit einer seltsamen Regelmäßigkeit ins Haus zu flattern. Alle nunmehr an Annemarie gerichtet; meist von zwei, drei Kavalieren mitunterschrieben, immer aber auch von Melas Gesellschafterin.
»Pour l'honneur du drapeau!« wie Annemaries Gatte jedesmal mit giftigem Hohn bemerkte.
»Wenn ich nur wüßte, was sie mit alldem will?« meinte Annemarie einmal mit einem befremdeten Blick nach dem Gatten. »Was dieses plötzliche Sichherandrängen soll? Wer Mela kennt, dem darf bange werden.«
»Weiß ich's?« kam es achselzuckend zurück. Und den Blick aufs neue in das Buch versenkend, in dem er gerade las, sprach er höhnisch: »Vielleicht liegt es ihr daran, uns nun erst recht zu beweisen, daß es ihr auch ferner beliebt, die zu bleiben, die sie ist.«
»Das kann uns doch herzlich gleichgültig sein,« erwiderte Annemarie. Und nach einer Pause flüchtigen Nachdenkens sprach sie leise und wie für sich selbst: »Fast bange wird mir vor all dieser Zärtlichkeit, denn ich weiß ja doch –«
»Was weißt du wieder?« fragte Wilhelm kurz und scharf.
Annemarie zuckte die Achseln: »Daß sie eine Katze ist.«
Dann wurde zwischen ihnen nicht weiter darüber gesprochen. Melas Karten aber folgten sich nun immer rascher, je weiter und tiefer ihre Fahrt nach dem Süden ging. Venedig – Bologna – Florenz – Rom ...
Plötzlich blieben sie aus.
»Nun wird sie wohl auf der Heimreise sein!« lächelte Annemarie.
»Oder vielleicht an einem Ort, von dem wir nichts erfahren sollen,« meinte Wilhelm.
»Auch möglich. Nur –«
»Nun?«
»Du scheinst sie ja noch schärfer zu beargwohnen als ich?« scherzte Annemarie.
Er gähnte und sah in den Garten hinaus, in dem der Herbstwind die tiefgelben Blätter der Platanen wie rollendes Gold vor sich herjagte. »Das ist mir alles doch so gleichgültig ...«
Annemarie sah es und glaubte es und war über die Begegnung des Gatten mit der gefährlichen Frau vollkommen beruhigt. Und doch war etwas im Wesen Wilhelms, das ihr seit seiner Heimkehr oft und viel zu denken gab. Etwas Fremdes, Seltsames, Fahriges, das ihm da draußen irgendwo angeflogen sein mußte.
War es eine Art Überarbeitung? Aber er hatte ja fast nur »Stationspräparate« mitgebracht. Flüchtige Aufnahmen der zartesten Tier- und Pflanzenwelt des Meeres, erst einer späteren Sichtung und Bearbeitung vorbehalten.
Und wie sollte sie sich die tiefe Melancholie erklären, die ihn nun immer öfter befiel? Die wachsende Verdrossenheit, mit der er seinen Pflichten nachging? Die immer wieder hervorbrechende Sehnsucht nach dem Meer und nach dem Süden?
»Wenn Bubi nicht wäre, könnten wir jetzt auch in Italien sein!« sprach er eines Tages mitten aus dem Schweigen heraus, das nun oft wie die Wolke eines fernen Gewitters über ihnen lastete.
»Wie kannst du wünschen, daß Bubi nicht wäre – um einer Reise willen?« fragte die junge Mutter erschrocken zurück.
Er besann sich, versuchte zu lächeln:
»Ich meinte bloß, wenn er nicht so früh gekommen wäre!«
Doch es klang nicht echt.
Ihr Herz krampfte sich zusammen. Da hatte sie ihn wieder, diesen geheimen Vorwurf, der nur ein Ausdruck seines innersten Wunsches war, daß ihre Ehe so lang als möglich kinderlos geblieben wäre.
Um ihn nicht noch mehr zu verstimmen, erhob sie sich und schlich leise an Bubis Bettchen.
Das Haupt in die Hand gestützt, saß sie bis in die Dämmerung hinein an dem kleinen, schneeweißen Lager, in dieser Stube, die wie ein einziges Nestchen der Liebe war, weich, warm, mollig und tief still. Nur vom leisen Pendelschlag der Uhr durchtickt, die das Kindermädchen Stunde für Stunde an Bubis wechselnde Bedürfnisse erinnerte. So genau war der Tag schon für ihn eingeteilt. So sorglos schlummerte Bubi in sein Leben hinein, dessen Sorgen und Lasten das zärtlichste Mutterherz trug.
Und wenn er erst zu trinken verlangte!
Das suchende Gekrabbel der kleinen Händchen an ihrer Brust – das tiefe Aufatmen, mit dem er sich festsaugte – die wohligen Kehllaute, mit denen er sich's schmecken ließ ... Bis in ihren eigenen Schlaf hinein genoß Annemarie den seligen Traum dieses Glückes.
So vergaß sie auch diesmal an dem kleinen Lager gar bald, was ihr Gatte soeben gesprochen hatte.
Ach! er wußte ja selbst nicht, was er damit gesagt hatte. So durfte man's ihm nicht übelnehmen.
Wenn Bubi nicht da wäre – dieses kleine, süße, lutschende oder schlummernde, alle ewig in Atem haltende weiße, drollige Bündelchen – – –
Dann wäre ja auch die ganze Welt nicht mehr da, nicht nur für Annemarie, auch für diesen komischen, gelehrten Papa!
Was denn!
Sie glaubte es zu wissen und lachte plötzlich auf in dieser einzigen Glückseligkeit, daß Bubi doch da war – trotz alledem –
Ein leises, weiches, seliges Mutterlachen –
Das Lachen, das die Menschen dem Paradies enttragen haben ...
*
»Es ist ein Besuch beim Herrn,« sagte Anna, als sie kam, um das Amt bei Bubi wieder anzutreten. »Ein großer, mächtig feiner Herr. Bloß ein bisserl fremd spricht er. Aber sonst – ein schöner Mann.«
»Haben Sie seine Karte hineingetragen?« fragte Annemarie.
Das Mädchen nickte. »Ja. Und der Herr hat ihm selbst die Tür aufgemacht und ihn ›lieber Freund‹ angerufen. Ein Herr Doktor ist es, glaub' ich!«
»Der Pole!« fuhr es durch Annemaries Sinn. Der »den nicht ganz sauberen Scheidungsprozeß« bei Onkel Paul anhängen hatte!
Also war er doch gekommen – hatte seine Sache nicht aufgegeben ...
Annemarie entsann sich, ihrem Mann gleich nach seiner Heimkehr von der Möglichkeit dieses Besuches gesprochen zu haben, und Wilhelm hatte sich mit einem ihm sonst nicht gerade eigenen Interesse nach allen möglichen Einzelheiten erkundigt. Annemarie freilich konnte ihm nicht mehr berichten, als Onkel Paul in ritterlicher Schonung eines reinen Frauenohres ihr mitzuteilen für gut befunden hatte. Es war wohl sein Freund und ein geliebter Jugendfreund dazu. Immerhin hatte es Annemarie dem Gatten schon damals übel vermerkt, daß er auch für die »innerliche Unsauberkeit dieses Menschen«, wie Onkel Paul sich ausgedrückt hatte, so gar keinen Abscheu bekundete. Doch hatte Wilhelm, wohl um einer schärferen Auseinandersetzung vorzubeugen, damals selbst das Gespräch abgebrochen.
Nun durfte Annemarie neugierig sein.
Wenn sie aus der Kinderstube nach ihrem Boudoir ging, das an den Salon stieß, konnte sie wenigstens die Stimme des Fremden hören. Diese »weiche, tieftonige, schmeichelnde Stimme, die an sich Musik war«, wie Wilhelm ihr damals erzählt hatte. Doch ein Gefühl innerster Reinheit hielt sie zurück. Die Abneigung, sich auch nur einen flüchtigen Augenblick lang, um irgendeines körperlichen Vorzugs willen für einen Menschen einnehmen zu lassen, der in tiefster Seele krank war und faul. Die Gedanken und Empfindungen, die sie an dieses kleine, weiße Bettchen trug, sollten rein sein bis auf ihr Letztes. Engel hielten hier Wacht – sie glaubte, nein, sie fühlte das förmlich zuweilen! Wie eine Sünde wider den Schutzgeist ihres Kindes wäre es ihr erschienen, nur einen Augenblick die Nähe dieses unreinen Menschen aufzusuchen oder irgendein Wohlgefallen an ihm zu finden.
Das Kindermädchen war wieder hinausgegangen, um das Nachtlicht für die kleine Stube zurechtzumachen. In regelmäßigen Zügen atmete das schlummernde Kind. Nur die gilbenden Ranken des wilden Weines, in denen der Novemberwind spielte, schlugen draußen ab und zu wie im Takt an die Scheiben.
Und mitten in den heiligen Frieden dieses Schweigens hinein klangen plötzlich süße Töne herüber – die Stimme ihres eigenen Klaviers! Erst ein paar sanfte, unsäglich weich angeschlagene Akkorde, in gebrochener Folge, wie die Stimme einer Harfe ... dann, wie auf den Flügeln des Abendwindes einherschwebend, wie klingende Tropfen in die Stille fallend, die Klänge der »Berceuse« Chopins! Voll süßester, heimlichster Zärtlichkeit, so wunderbar und meisterhaft gespielt, nein, fast gesungen, daß Annemarie förmlich atemlos hinüberlauschte.
Der Ehebrecher, der Weib und Kind verlassen, spielte dort drüben ein »Wiegenlied« – zart, innig, so keusch und rein, wie nur die Mutter selbst es noch singen konnte am Bette des Lieblings – von einer tieftragischen und hoffnungslosen Liebe der Seele Chopins eingegeben!
Wie verzaubert saß Annemarie da, und als die Töne, mehr gehaucht als gespielt, endlich verklangen, war ihr einen Augenblick, als müsse sie sich erheben und hinübergehen, um zu danken. Hatte sie doch sofort begriffen, daß dieses Spiel eine Huldigung war für sie!
Doch ein einziger Blick nach der Wiege hielt sie zurück. Dort regte sich ihr Kind – die Blumenseele eines Engels, der vielleicht noch nicht lange vor Gott gestanden ...
So begann wohl jede Verführung und jedes Zugeständnis an diese Welt, die nicht die ihre war – nie die ihre werden konnte! Bis in die tiefste Seele fühlte sie das. Und sie kehrte sich ab und sah in den Abend hinaus, der nun auch mit leisen Regentropfen an ihre Fenster zu pochen begann – leise, fast melodisch, in melancholisch-stetem Fall ...
*
»Nun hast du wenigstens sein Spiel gehört,« sagte Wilhelm, als er eine Viertelstunde später in das Speisezimmer trat. »Und er selbst ist auch noch immer der alte, köstliche Mensch.«
»Sein Spiel war entzückend,« gab Annemarie zu. »Und auf diese Distanz könnt' ich ihn meinetwegen ertragen. Sonst –,« und ihre Stimme klang herb – »Ich liebe reine Luft um mein Kind!«
»Ich merke nur, daß du schon wieder eine ganze Weile nicht mehr an der Luft warst,« entgegnete Wilhelm fast schroff, »so unnatürlich und krankhaft klingt, was du soeben gesagt hast.«
»Dann ist unsere ganze Moral krank,« erwiderte Annemarie fest.
»Vielleicht. Insofern sie nicht mehr in unsere Zeit paßt!«
Annemarie legte Messer und Gabel nieder und starrte den Gatten an, der mit höhnisch gesenkten Mundwinkeln vor ihr saß und nervös in seinem Teller herumstocherte.
»Wilhelm!« bat sie leise. »Das sagst du doch bloß, weil dieser Mensch dein Freund ist.«
»Das sag' ich, weil er zuerst ein Mensch ist und mir alles Menschliche nahegeht. Wie – na, meinetwegen und wenn du willst, wie eine Krankheit. Aber doch wie eine, die heut oder morgen auch dich und mich befallen kann.«
Annemarie schüttelte leise das Haupt.
»Für mich steh' ich gut.«
»Solange du mich liebst. Die Frage ist eben, wie es wäre, wenn –«
Sie legte die Hand auf seinen Mund.
»Auch nicht aussprechen, bitte!«
Sie fühlte, wie sich seine Lippen unter ihrer Hand verzogen.
»Na ja,« sprach er nach einer Weile sarkastisch. »So seid ihr! Die einen kommen über den Hennen- und Kükenstandpunkt nie hinaus. Und die anderen –«
»Sind Dirnen!« klang es scharf zurück. »Auch deiner Meinung nach. Oder ich habe nie recht gehört, was du die ganze Zeit über von Mela gesprochen hast.«
»In dieser Sache handelt es sich eben um einen ganz besonderen Fall. Mein Freund ist nicht nur Arzt, er ist auch Künstler, wie du eben gehört hast. Eine durch und durch ästhetische Natur –«
»Daß ihr doch immer die Kunst zur Kupplerin macht!« entgegnete Annemarie unwillig.
»Laß mich ausreden! Anatols Frau hat ihn nie verstanden, ihm nie folgen können. Ein solches Verhältnis wird zuletzt unleidlich, bricht in sich selbst zusammen. Der Mensch braucht Temperament, Geist, sprühendes Leben um sich ... ein Weib, das nie aufhört, eine Geliebte zu sein. Die Wiegenlieder, die er anderen so schön vorspielt – er selbst mag sie eben nicht in seinem Hause. Aber –,« und er stürzte hastig ein Glas Wein hinunter, um sich selbst Schweigen zu gebieten ...
»Nun hat er aber auch seine Geliebten schon einige Male gewechselt, wie Onkel Paul mir sagte,« rief Annemarie.
»Und doch ist dein Onkel der Richtige, ihn zu verstehen!«
»Nicht von Amts wegen, wie er gesagt hat,« wehrte Annemarie die Zumutung des Gatten ab, die sich vielleicht schon im nächsten Augenblick in eine Bitte um ihre Fürsprache verwandeln konnte. »Und der eigentliche Grund soll sogar eine recht unsaubere Angelegenheit sein –«
»Verleumdungen der Frau!«
»Die oft genug verziehen hat. Also nicht erst zu verleumden braucht.«
Er setzte das Glas nieder, lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück. »Du könntest ein – ein solches Abirren also durchaus nicht verzeihen, Annemarie?« kam es durch die plötzliche Stille leis und wie tastend auf sie zu.
»Nicht einmal verstehen!« rief Annemarie mit blitzenden Augen.
Er sah zur Seite. »Dann hätt' es natürlich keinen Sinn, wenn ich dich bitten wollte, dieser – dieser fremden Sache bei deinem Onkel vielleicht –,« er zögerte, forschte in ihrem Antlitz – »vielleicht doch ein Wort zu sprechen –?«
»Nein!« entschied Annemarie mit einem stolzen Aufleuchten ihres ganzen Wesens. »Und selbst wenn Onkel zugänglich sein sollte. Doch er selbst darf ja nicht. Dem Gesetz ist – meine Moral noch heilig!«
»Immer diese Pathetik!« wehrte Wilhelm mit einem spöttischen Lächeln ab. »Ja, aber, daß ich nicht vergesse ... da ist wieder einmal eine Karte von deiner Freundin gekommen und zufällig in meine Hände geraten. Sie ist nun allein, wenn man ihr glauben darf.«
Er erhob sich, ließ die Karte auf den Tisch fallen ...
Wie ein blau leuchtender Fleck lag sie auf dem hell schimmernden Damasttuch.
Das Meer, in violenfarbigem Purpurglanz um zwei rötlich-gelbe, einsame Felsen brandend. In der Luft, wie eine silbrige Wolke, das seidige Weiß einer Möwe ...
»Capri,« stand gedruckt darauf.
Schief unten, in Melas steiler Schrift: »Ich bin allein – am Meere!«
»Also Gott sei Dank, noch recht ferne von uns!« lächelte Annemarie.
»Und du – glaubst ihr das?« kam es wie forschend aus dem Erker herüber.
»Warum nicht? Da sie uns auch bisher nicht im unklaren gelassen hat?«
Er schwieg und neigte sich tief über das Buch, das er vorgenommen.
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Immer sonniger gedieh unterdes das Kind. Wenn sich Annemarie eine Meile entfernt hatte – welch eine Freude war es ihr da bei ihrer Rückkehr, die großen blauen Augen ihres Jungen voll gespannter Aufmerksamkeit auf die Türe gerichtet zu sehen, durch die sie wieder eintreten mußte! Welch eine Musik ihrem Mutterherzen der helle Vogelschrei, mit dem er sie begrüßte! Süßestes Gekose das weiche Tasten der kleinen Händchen, die so jäh, so zärtlich nach ihr griffen.
Ein köstliches Fest für ihren Mutterstolz aber war das tägliche Bad. Zu sehen, wie drall und stramm der kleine Kerl sich schon aufsetzte, wie patzig die Fingerchen zuweilen nach dem Schwamm langten, als gält' es, mitzuhelfen; wie überlegen, und gleichsam jeden weiteren Versuch entschieden ablehnend, er Annas gelegentliches Eingreifen sofort zurückwies, das war ebenso süß wie drollig. Dabei quiekte er, meist guter Laune, schon munter allerlei Unverständliches vor sich her – weiche, ungeduldige Schnalz- und Kehllaute, die Nestsprache des jungen Menschen.
Wilhelm, der bei dieser Gelegenheit auch zuweilen in der Kinderstube erschien, nannte es zwar »die Sprache der Ahnen« und verwies Annemarie zu näherem Vergleich an den Käfig der jungen Affen in Schönbrunn. War es aber die etwas erregtere Art, in der er diese seine Meinung zur Geltung zu bringen suchte oder irgendein besonderer Ausdruck seines Blickes dabei – Klein-Wilhelms Augen, der stramm aufrecht in der Wanne saß, wurden immer größer, immer dunkler, und zuletzt stieß er einen solch lauten und zornigen Schrei aus, daß es wie ein einziger Protest des Jungen klang, dem bloß die Sprache zu fehlen schien, um zu sagen, daß er sich jeden weiteren Vergleich nach dieser Richtung entschieden verbitte.
Das Kindermädchen lachte hell auf, selbst des Vaters Ernst wich für eine Weile einem lächelnden Staunen. Annemarie aber hob ihr Kind aus dem Wasser und hielt es einen Augenblick hoch in die Sonne empor – »Von Gott bist du gekommen – sein bleibst du!«
Wilhelm zuckte wie nachsichtig die Achseln ... »Kinderstube der Menschheit!« Und ging hinaus.
Noch merkwürdiger schien Annemarie, was einige Tage später geschah. Eine häusliche Angelegenheit zwang sie, Anna mit dem Bad des Kindes zu betrauen, wenigstens mit den Vorbereitungen. Als der Handwerker, dem sie die nötigen Anleitungen für die vorzunehmende Reparatur gegeben, sich entfernt hatte, eilte sie sofort nach der Kinderstube. Ein mächtiges Geschrei empfing sie – ein Geschrei, in dem etwas wie die Seele eines lauten Hilferufes vibrierte.
Was war geschehen?
Nichts.
Das Mädchen hatte es bloß versucht, den Kleinen in das Wasser zu setzen. Weil sie es aber zum ersten Male tat und er in ihre etwas schußlige Art kein Vertrauen zu haben schien, mußte sich in seiner Vorstellung die Empfindung irgendeiner Gefahr für sein Leben ausgelöst haben. Totenblaß, mit weit und schreckhaft geöffneten Augen klammerte er sich mit beiden Händchen an den Arm des Mädchens fest und starrte fast entgeistert in das durch seine lebhaften Bewegungen in heftiges Schwanken geratene Wasser.
Und eine tiefe Rührung überkam Annemarie bei diesem Anblick; eine Rührung, die zuletzt fast Ehrfurcht wurde. Schon fühlte sich die kleine Kreatur als ein noch hilfloses Einzelgeschöpf: bangte, ja rang um ihr scheinbar bedrohtes Leben, mit einer Kraft, die nicht bloß ein dunkler Erhaltungstrieb war, der auch etwas Heiliges innezuwohnen schien, wie eine ferne, ferne Erinnerung an irgendeine Verantwortung.
Und wieder dachte sie: »Gott!«
Vielleicht griff sie fehl – war es doch nichts, als der kindische Eigensinn, der sich gegen das Ungewohnte wehrte! Aber dieses Wehren selbst blieb ihr lange in der Erinnerung und regte alle möglichen Fragen in ihrer Seele an. Zuletzt einen ganzen Sturm von Gefühlen, der sich mit heftigem Abscheu wider jene Weiber kehrte, die, bloß um das Leben zu genießen, nichts anderes sein wollten als die Geliebten ihrer Männer – so lange wie möglich jung und begehrenswert – Hetären! Rom und Griechenland war an diesen Weibern zugrunde gegangen. Ganze Völker. Bis der Erlöser selbst das Kind wieder auf seine Arme genommen und es mit göttlichen Worten hoch, hoch über die Verderbnis jener Tage emporgehoben hatte.
Junge, reine, natürliche Völker hatten das Erbe einer entarteten Kultur angetreten; sich vermehrt und über die Erde verbreitet. Und ein Volk – das auserwählte Gottes, hielt noch immer den Kindersegen heilig und hoch ...
Seither war die Welt wieder verderbt und alt geworden. Schon riefen in Frankreich Dichter und Priester die entarteten Weiber vergeblich zu ihrer Pflicht zurück.
»Und bei uns?« fragte sich Annemarie.
Sie kannte nicht bloß die eine Mela.
Wenn man Ärzten und gewissenhaften Hebammen glauben durfte, nahmen die Verbrechen gegen das keimende Leben einen immer bedrohlicheren Umfang an. Und wenn in vielen Fällen vielleicht auch Leichtsinn und Genußsucht die eigentliche Schuld trugen – so war doch auch viel böser Wille mit am Werk.
Annemarie erschauerte, so oft sie das bedachte und sich zugleich der Heftigkeit erinnerte, mit der Klein-Wilhelm sich um sein scheinbar bedrohtes Leben wehrte.
Wußte man aber wirklich so genau, wann diese Lebensempfindung schon Bewußtsein war oder nicht? Und war das bloße Leben an sich nicht für immer im Bewußtsein des Schöpfers verankert, dem noch niemand in seine heilige Werkstätte geschaut hatte?
Tausend Fragen – und sie seufzte leise auf, wenn sie bedachte, daß sie sich nicht über eine einzige im Einverständnis mit ihrem Gatten befand.
*
Der Winter neigte seinem Ende zu. Schon guckten Primeln und Leberblümchen zwischen dem Efeu in Annemaries Garten hervor, und die ersten wurden in Bubis Stube gebracht.
»Blume–le ... Blume–le!« sagte Anna ihm endlos vor, und er quiekte und riß sie mit heftigem Griff an sich, aus großen, lachenden Augen bestaunend, was es sonst noch gab auf dieser Welt außer ihm.
»Wenn es Gott gefällt, macht er im blühenden Garten seine ersten Schritte!« lächelte die glückliche Mutter bei diesem Anblick. Drum mußten die zwei sich jetzt schon kennenlernen!
Der Garten und ihr Kind ... O ja, die zwei gehörten zusammen! Unverrückbar wie ein einziges, heiliges Erinnern stand noch jener Abend vor ihr, da sie inmitten all des sommerlichen Blühens zum erstenmal für sein heiliges Werderecht gekämpft hatte.
»Wie weit ich auch von Gott vielleicht abgeirrt bin seither,« sagte sie sich im stillen – »das hat er mir gelohnt!«
So schien ihr die Natur selbst wieder in ihrem Kinde aufzublühen.
Tag für Tag wurde nun Klein-Wilhelm mit seinem Wägelchen in den Garten hinabgetragen und zwischen den knospenden Büschen hin und her geführt. Und schon schien er selbst diese tägliche Freiluftstunde als einen Genuß zu empfinden – lachte froh auf, und mitten in all den Glanz hinein, wenn es hinab ging, begann in langendem Begehren nach den kätzchengeschmückten Weidenzweigen zu greifen, schüttelte mit behaglichem Krähen ein ums andere Mal das schon dicht behaarte, goldige Köpfchen.
Flog eine Amsel mit süßem Lockruf über ihm weg, schnalzte er laut auf, und Bijuttis Eifer, eine über seinen Kopf hinweggeworfene Gerte zu apportieren, riß ihn immer wieder zu demselben hellen Lachen hin, wobei er mit Händchen und Füßchen so lebhaft zu zappeln begann, daß es dem Stolz der Mutter und der Erfahrung Annas wirklich nur mehr eine Frage der nächsten Zeit schien, wann ihr Goldjunge den ersten selbständigen Schritt machen, das erste wirkliche Wort lallen werde. Wurde er aber dann wieder in die Wohnstube gebracht und samt seinem Wägelchen in den sonnenüberfluteten Erker hineingeschoben, mitten zwischen Vater und Mutter, dann konnte er, das kleine Fingerchen im Mund, wohl soundso oft mal das drollige Köpfchen hin und her wenden, bald den Vater anlächelnd, bald Annemarie – mit einem Blick, der so süß und schalkhaft war, daß es oft schien, als müsse er jetzt und jetzt auch in Worten zu fragen beginnen: »Ist sie's? Ist er's? Sind's alle beide?« Um nach einer möglichst eingehenden Vergewisserung süß und müde und todzufrieden endlich einzuschlummern.
Leise, ganz leise, rollte ihn dann Annemarie selbst in seine Stube zurück.
Nach einer solchen Ausfahrt war es und knapp vor Tisch, daß Annemarie, aus der Kinderstube zurückkehrend, plötzlich eine weiche Frauenstimme aus ihrem kleinen Salon herüberklingen hörte – zugleich ein gedämpftes, halb spöttisches, halb triumphierendes Lachen.
»Mela!« fuhr es ihr durch den Sinn.
Wie kam's, daß man ihr den Besuch noch nicht gemeldet hatte?
Aber freilich, sie besann sich. Wilhelm war noch einmal in den Garten hinabgestiegen! Da war sie ihm wohl von der Straße her gleich entgegengekommen und von ihm selbst ins Haus geleitet worden.
Ruhig und doch rascher, als es sonst ihre Art war, trat Annemarie ein.
Dem großen Empirespiegel gegenüber, der zwischen den Fenstern stand, saßen die beiden, und Mela lachte noch immer: leis gurrend, mit halbgeschlossenen Augen, den Blick halb wohlgefällig, halb forschend auf den Spiegel gerichtet, der ihr reizendes Bild wie ein silberner Rahmen umfing und ihr zugleich den Blick über das ganze Zimmer freiließ und nach der Türe, durch die man eintreten mußte, daß sie auch Annemarie sofort bemerkte.
»Und da ist auch des Hauses Herrin!« begrüßte sie, noch immer lächelnd, die Nahende. »Grüß Gott, Annemarie!«
»Daß du uns so gar nicht von deiner Heimkehr verständigt hast, Mela?« erwiderte Annemarie, die sich entsann, erst vor kurzer Zeit eine Karte mit dem Poststempel »Genua« erhalten zu haben.
Mela sah sie einen Augenblick zwischen den gesenkten Lidern hervor an – halb forschend, halb belustigt: »Wozu? Ich komm' noch immer für alle zu früh!«
Annemarie tat, als hätte sie nicht gehört. Dann ließ sie sich langsam nieder. »Du hast unterdes viel Schönes gesehen? Italien, die ganze Riviera –?«
Melas Lider waren noch immer halb geschlossen, und Annemarie glaubte zu bemerken, daß der Blick, der ihr heute nicht von Aug' zu Aug' standhalten konnte, heimlich und fast tückisch durch den Spiegel an sie heranschlich.
»Du hast es natürlich nicht der Mühe wert gefunden, mir mehr als eine Karte zu beantworten,« sagte Mela endlich wie schmollend. »Immer gerade nur das Notwendigste!«
Annemarie war im Innersten gut und einem jähen Angriff gegenüber fast immer wehrlos. So war es natürlich, daß sie unwillkürlich nach irgendeiner Entschuldigung suchte. Wenn es auch eine Lüge war.
»Verzeih', aber ich dachte, daß Wilhelm dies einige Male in meinem Namen besorgt habe –«
»In – deinem Namen?« wiederholte Mela, fast verblüfft. Gleich darauf aber lachte sie auf, laut, hell, daß die ganze Stube förmlich zu klingen begann von diesem Lachen: »Na dann, weißt du – dann hat er entweder dich oder mich vergessen! Oder vielleicht gar alle – beide?« wandte sie sich an Wilhelm: »Sie! Sie –?!«
»Ich habe nicht immer genug Zeit, alle Aufträge meiner Frau auszuführen!« entgegnete der Gelehrte mit einer Verbeugung.
Es klang wie ein artiges Ausweichen, doch in seinem Antlitz stieg eine jähe Röte auf.
War es nur diese Verlegenheit, die Mela so belustigte? Wie ein silberner Quell sprang ihr Lachen empor, und während der Finger drohte, glitt ihr Blick mit einem Ausdruck seltsamer Befriedigung über Annemarie hin. Es klang ja alles harmlos, ganz harmlos ... und doch: sie wußte nicht, warum ihr mit einem Male war, als hätte jedes der Worte, das nun gesprochen wurde, noch eine andere Bedeutung gehabt und auch Melas Lachen einen anderen Grund.
Doch sofort erschrak Annemarie über ihren Verdacht: Ich tu' ihnen unrecht! besann sie sich in einer fast erregten Abwehr. Ich war es ja selbst, die zuerst gelogen hat! Dann hat Wilhelm meine Lüge weitergesponnen. Nun tut sie, als ob sie daran glauben wollte, und lacht doch darüber hinweg. Nur – Und wieder stieg es wie ein ganz leises, ganz fernes Mißtrauen in ihr empor. Warum legen wir plötzlich all diesen Dingen solch eine Wichtigkeit bei? Sie und er und – ich? Und, auch das war nicht zu leugnen, Mela war heute koketter als je!
Die Art, wie sie dasaß – das eine Bein leicht über das andere geschlagen, daß der enge, faltenlose Rock jede Linie des geschmeidigen Körpers nachzeichnete. Das fast lüstern irritierte Gestreichel, mit dem ihre Rechte immer wieder die Zobelschweifchen der kostbaren Stola durch die Finger gleiten ließ ... das wohlberechnete Heben und Senken der langbefransten Lider – das Auf- und Abtippen des zierlichen Fußes – der um einen Ton noch tiefer angesetzte, herrliche Alt ihrer Stimme ... So und so viele Einzelheiten und doch jede für sich eine schlau ins Treffen geführte Waffe der unersättlichen Gefallsucht einer sieggewohnten Frau!
Selbst die Luft, die um sie war, schien erregt zu zittern.
Buhlerin! dachte die junge Mutter mit einem Anflug feindlicher Verachtung.
Doch als sich Mela erhob, um Abschied zu nehmen, mußte sich Annemarie gestehen, daß ihr alles gelungen war, was sie sich in der flüchtigen Rachsucht für die unbeantworteten Karten etwa vorgenommen.
Selbst sie hatte Mela aufs neue bezaubert.
*
Der Mai war ins Land gezogen, und Bubis Sprechversuche hatten sich allmählich zu einer Lautbildung verdichtet, die dem zärtlichen Ohr der Mutter schon wie ein ganz korrektes »Papa« und »Mama« klang. Und was dem kleinen Mund noch nicht recht gelingen wollte, begann Bubis Wille aus eigener Kraft zu leisten – des jungen Menschen erste und vielleicht wichtigste Tat: sich eines Tages auf die Beine zu stellen! Ganz prächtig gelang ihm das schon, und nun hieß es doppelt achthaben auf das geliebte Leben!
Erst hatte Klein-Wilhelm es versucht, sich an dem Arm der Mutter oder Annas emporzuziehen, und wenn es gelungen war, eine Weile mit einem breiten und fröhlichen Lachen dazustehen:
»Na seht ihr – es ist gar nicht so schwer!«
So ungefähr klang dieses Lachen.
Und mit dem Gelingen kam bald die fröhliche Zuversicht und der Wunsch, es immer wieder zu versuchen.
Als der kleine Kerl seine Absicht zum erstenmal allein ausführte, war Annemarie gerade zugegen. Und ein seliges Entzücken überströmte ihr Herz. Wie lange noch, und ihr Kindchen würde auf sie zuschreiten können wie all die anderen auch! Nur Bijutti erschrak. Ihm, der auch Klein-Wilhelm solange nur auf allen Vieren herumkriechen gesehen hatte, schien das, was vor seinen treu besorgten Augen geschah, so unerhört und entsetzlich, daß er mit einem förmlichen Warnungsschrei auf Bubi zustürzte, ihn bei einem Zipfel des weißen Schlitzkleidchens packte und mit aller Gewalt wieder auf »alle Viere« bringen wollte, was nach Bijuttis Erfahrung nun einmal das sicherste war!
Das waren Ereignisse und Tage, die Annemarie mit leuchtenden Augen in ihr »Erstlingsbuch« schrieb. Wobei sie sich nur ärgerte, daß der Vater, trotz aller Freude, noch immer seine wissenschaftliche Ruhe bewahrte und ihr mit seinem herablassenden Lächeln erklärte, daß dies ein Wunder wäre, das sich nicht bloß in ihrem Haus ereignete.
Um seine »Konsequenz« nicht bis zu dem lächelnden: »Die Menschenaffen haben das zuerst getan« zu reizen, schwieg Annemarie. Frau Krüger aber, die gerade an diesem Tag herausgekommen war, bewog Annemarie sofort, dies große Ereignis in Bubis Leben auch Edwin mitzuteilen, der noch immer am San stand. Schon zwei Tage später lief seine Antwort ein:
»Nun ist dein Kind ganz Gottes. Es kann emporschauen!«
Wie so anders das klang!
»Und was ist damit gesagt?« fragte Wilhelm mit seinem überlegenen Lächeln. »Aber ich bin objektiv genug, zu begreifen, daß eine Mutter lieber an Märchen glaubt als an die Wahrheit!«
Es schien ihm offenbar ganz unmöglich, ihr auf diesem Weg nur ein bißchen entgegenzukommen. Daß Annemarie zuletzt jeden Versuch aufgab und in einer fast abergläubischen Scheu vermied, seinen Unglauben zu weiteren Äußerungen zu reizen. Um nichts in der Welt wollte sie das Schicksal herausfordern. Und das stand nun einmal auch in Gottes Hand! Ein Märchen, das noch keiner ergründet hatte, mit allem Wissen der Welt. –
Sonst – ja, sie konnte sich nicht entsinnen, daß Wilhelm jemals liebevoller und gütiger gegen sie gewesen wäre als gerade jetzt. Mit einem Kuß auf ihre Stirne schied er, mit einem fröhlichen Gruß und irgendeinem Geschenk für Bubi kam er wieder heim. Schon lange nicht hatte sein Lachen so hell geklungen, seine Augen so fröhlich geleuchtet!
›Was ich wollte, könnt' ich von ihm haben,‹ dachte Annemarie zuweilen. Und dann war ihr, als müsse sie beten, daß es so bliebe. Ganz leise, heimlich und fast verschämt.
Es schien ihr wieder einmal zu groß – ihr Glück!