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Graue Wolken standen unbeweglich über der Stadt; auf die schmutzige Erde sprühte träge ein feiner Regen, der die Straßen in einen trüben zitternden Schleier hüllte.
Von einer geschlossenen Polizeikette umgeben, zog eine dichtgedrängte Schar Männer und Frauen langsam auf dem Bürgersteig dahin; sie drückte sich an die feuchten Häuserwände, und ein dumpfes, undeutliches Murmeln wogte über ihr.
Graue, finstere Gesichter, aufeinandergepreßte Kiefer, mürrisch zu Boden gesenkte Augen. Der und jener lächelte verwirrt und versuchte, ungezwungen zu scherzen, bemüht, das kränkende, bedrückende Bewußtsein der Ohnmacht dahinter zu verbergen. Gelegentlich ertönte ein halb unterdrückter Schrei der Empörung, aber er klang nur matt und unsicher, als sei sich der Mann nicht schlüssig, ob es schon an der Zeit oder bereits zu spät war, sich aufzulehnen.
Die müden Gesichter der Polizisten blickten besorgt und verbissen drein. Matt glitzerten auf den Mützen und Schnurrbärten die Regentropfen. Und zusammen mit den Regentropfen gingen große klebrige Schneeflocken auf die ohne Kampf besiegten Menschen nieder; finstere Trauer sank auf sie herab.
»In den Hof mit ihnen!« rief jemand mit heiserer Stimme.
Gedränge entstand, die Leute ergossen sich, eng aneinandergedrückt wie Schafe, in dunklem Strom in den Hof. Ihre Entrüstungsschreie wurden lauter, erregter, man hörte scharfe Ausrufe der Erbitterung; in den hohen Stimmen der Frauen klangen Tränen.
Mischa Malinin, Student im ersten Semester, ein fröhlicher, gutmütiger, kraftstrotzender Bursche, schritt in der Mitte der Schar dahin und blickte sich mit seinen naiven blauen Augen mitleidig unter den blassen, erbitterten und verwirrten Gesichtern in seiner Umgebung um. Die Schreie der Frauen, das nervöse Lachen, das dumpfe Murren erregten ihn; außer Atem von der Enge, von bedrückendem Schamgefühl erfüllt, im Begriff, vor Empörung in Tränen auszubrechen, war er bemüht, sich zwischen den Leuten in seiner Umgebung hindurchzuzwängen und möglichst rasch in den Hof zu gelangen, um sich dort zu verstecken, von den anderen abzusondern und allein zu sein. Plötzlich klammerten sich irgendwessen kleine Hände an seinem Mantelärmel fest – er sah ein blasses Gesicht mit großen feuchten Augen vor sich. Dieses Gesicht, das naß von Tränen oder vom Regen war, blickte zu ihm auf, und leuchtend rote, krampfhaft verzerrte Lippen zuckten und flüsterten heiß: »Ich gehe nicht! Ich kann nicht, ich will nicht! Er hat mich gestoßen . . ., das darf er nicht . . . Sagen Sie's ihm!«
Das junge Mädchen atmete heftig, schüttelte den Kopf, und ihre schwarzen Locken fielen ihr rebellisch in die hohe weiße Stirn und über die nassen Wangen.
»Er hat kein Recht dazu!« rief sie plötzlich, das Gemurmel übertönend, schwenkte den Arm und richtete sich kerzengerade auf; ihre Augen funkelten.
Auch in Mischas Brust flammte ein Feuer auf, ergoß sich versengend durch die Adern, brannte die Scham aus und erfüllte sein Herz mit jugendlichem Wagemut. Mischa stürzte vor, und die schwarze Masse trat unter seinem Ansturm auseinander wie Schlamm, in den ein Stein fällt. Er erblickte einen hochgewachsenen Mann in grauer Uniform vor sich und schrie ihn mit lauter Stimme an: »Sie haben kein Recht, die Leute zu schlagen!«
»Ach was! Wer schlägt denn jemand?« entgegnete der Mann in der grauen Uniform und winkte gereizt ab. Eine verächtliche Grimasse verzog sein müdes Gesicht mit dem roten Schnurrbart; er legte die Hand auf Mischas Schulter und sagte:
»Also bitte, gehn Sie schon hinein!«
Mischa sah die Grimasse und fühlte einen scharfen Stich der Kränkung in seinem Herzen.
»Ich gehe nicht!« rief er wütend. »Wir gehen nicht . . ., wir sind keine Herde! Genug der Gewalt!«
All die schönen und starken Worte von der Freiheit und der Würde des Menschen, die er gehört hatte, brachen gleich einem heißen Quell aus seiner Brust hervor und flammten über den Leuten, bei diesen Zorn, bei jenen Furcht erregend. Berauscht vom Klang seiner Stimme, betäubt vom Wirbelsturm der Schreie, schoß er in der Menge umher wie ein Funke in einer schwarzen Rauchwolke und bemerkte nicht, wie man ihn ergriff und aus dem Gedränge hervorzerrte; er kam erst in einer Mietsdroschke zu sich.
Er atmete mit weit geöffneten Augen gierig die Luft ein und zuckte hin und wieder zusammen, von gesunder, freudiger Erregung erfüllt, noch ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, was geschehen war. Neben ihm saß, den Arm um seine Taille gelegt, ein Revieraufseher; es war ein junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und einer Schramme auf der rechten Wange. Sein Gesicht war finster; er blickte, die Lippen fest aufeinandergepreßt, mit zusammengekniffenen Augen nach vorn und befühlte in einem fort mit seiner linken Hand die Wange.
»Wohin . . . bringen Sie mich eigentlich?« fragte Mischa gutmütig.
»Z-zum Revier«, gab er durch die Zähne zur Antwort, und ein schmerzliches Zucken ging über sein Gesicht.
»Haben Sie was abbekommen?« erkundigte sich Mischa teilnehmend.
»Ich habe Z-zahnschmerzen . . ., verdammt!« brummte der Polizeioffizier, stieß den Droschkenkutscher mit der Faust in den Rücken und plärrte mit ärgerlicher, hysterischer Stimme: »So fahr schon zu . . ., hol dich der Teufel!«
Der Droschkenkutscher, ein grauhaariger kleiner alter Mann, drehte sich zu ihm um und sagte, freundlich mit den geröteten, tränenden Augen zwinkernd: »Wir kommen noch zeitig genug hin, Euer Wohlgeboren . . ., im Gefängnis ist das nicht wie in der Kirche, da kommt man nie zu spät . . .«
»Ich werde dir z-zeigen!« zischte der Revieraufseher.
Der Droschkenkutscher zog erschrocken an der Leine und brummte, zum Pferd gewandt: »He, du . . ., hü!«
In der Straße huschten hastig die dunklen Gestalten der Fußgänger vorüber; es schien, als hätten sie sich in diesem grauen feuchten Nebel verlaufen, stürzten lautlos und trübsinnig hin und her und wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Dumpf lärmend und kreischend jagten Straßenbahnwagen dahin, unter den Rädern sprühten böse blaue Funken, und im Innern saßen schwarze Gestalten. Ununterbrochen klapperten mit müdem Klang Hufeisen über die Pflastersteine und tauchten die gelben Lichter der Straßenlaternen auf; sie flimmerten verloren, ohne etwas zu beleuchten, und verschwanden, als habe sie der Nebel verschlungen. Die Reifen der Droschke schnellten auf dem holprigen Fahrdamm auf und nieder, und auch in Mischas Brust begann etwas hastig und unangenehm zu zittern.
Am Tor des Polizeireviers sagte jemand, der klein, dick und grau war wie der Nebel, mit heiserer, gleichgültiger Stimme: »Oho! Sie bringen noch einen her? Wir haben keinen Platz mehr! Seine Wohlgeboren haben befohlen: sollen sie sie von mir aus gleich ins Gefängnis schaffen . . .«
»Hol's der Teufel!« stöhnte der Polizeioffizier, drehte sich mit schmerzlich verzogener Duldermiene zu Mischa um und klagte: »Da haben Sie es, Herr Student . . ., hm-ja! Und da sagen Sie noch: Wir sind für das Volk! Und dabei . . ., dabei muß ein kranker Mann Sie spazierenfahren . . . ohne Rücksicht auf seinen Zustand!«
Und er wandte sich brüsk von ihm ab und rief dem Droschkenkutscher zu: »Los, du! In das Gouvernementsgefängnis!«
Mischa wäre am liebsten in Lachen ausgebrochen, nahm sich jedoch zusammen, um den »kranken Menschen« nicht zu beleidigen, schwieg eine kleine Weile und bemerkte schließlich in freundlichem Ton: »Sie sollten es mit Kreosot versuchen . . .«
Der Polizeioffizier gab keine Antwort. Und erst an der Gefängnismauer erwiderte er, während er aus der Droschke stieg: »Auch mit Kreosot habe ich es versucht . . ., es hilft nicht! Bitte!«
Im Gefängnis gab es, wie sich herausstellte, ebenfalls keine freien Plätze, und man sperrte Mischa in eine kleine Zelle für Strafgefangene. Ein grauhaariger hochgewachsener Aufseher mit langem Gesicht, spitzem Bärtchen und unbeweglichen farblosen Augen schloß dröhnend die dicke schmutzige Tür hinter ihm ab, beugte sich zu dem runden Guckloch vor, das in sie eingeschnitten war, und sagte mit gleichmäßiger, tonloser Stimme wie in ein Sprachrohr: »Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich . . .«
Der junge Mann sah sich in der Zelle um. An der Tür trat auf der linken Seite in Gestalt eines wuchtigen Dreiecks der Ofen hervor, und an ihn schloß sich unmittelbar eine schräge schmutzige Pritsche für vier Personen an; sie zog sich die ganze Wand entlang bis an das Fenster, das durch ein dickes eisernes Gitter gesichert war. Zwischen der Pritsche und der rechten Wand befand sich ein freier Raum von etwa anderthalb Arschin Breite, und außer der Pritsche gab es in dieser schmutzigen, düsteren Zelle nichts. Das von Rissen durchzogene steinerne Gewölbe bildete einen schweren Bogen, der an der linken Wand fast bis an die Pritsche herunterreichte. Am höchsten Punkt des Deckengewölbes brannte eine mit Staub bedeckte Glühbirne; sie beleuchtete die Wände, auf denen man die Flecken von zerdrückten Wanzen und irgendwelche Inschriften sah.
Neben dem Ofen waren über der Pritsche – offenbar mit einem Nagel – Kolonnen von Zahlen eingeritzt, die jemand addiert, multipliziert und dividiert hatte, um so die Leere der hier verbrachten Tage auszufüllen. Auf einem wieder getrockneten dunklen Schimmelfleck stand in großen Buchstaben geschrieben:
»Einbrecher aus Wjasma, streifen
Wir zu zweien durch die Lande,
Wenn wir einen Groschen greifen,
Kaufen wir vom Brot 'ne Kante,
Und wir spachteln.«
Mischa lächelte und fragte sich, was das wohl bedeuten könnte: »Wir spachteln«?
Vermutlich – wir schlingen, entschied er sich und sah sich die ungleichmäßigen, fröhlich über der Wand verstreuten Buchstabenreihen näher an. Er stellte sich die beiden »Einbrecher« als tolle Spaßvögel vor. Mischa überlas die Verse noch einmal und brach in Lachen aus.
Hinter der Tür der Zelle erklangen schlurfende Schritte, und eine dumpfe Stimme fragte ärgerlich: »Was haben Sie?«
Mischa fuhr zusammen und drehte sich um: durch das Guckloch in der Tür starrte ihn kalt und unbeweglich ein Auge an.
»Haben Sie gerufen?«
»Nein, ich habe gelacht.«
Das Auge schnellte irgendwohin nach oben, und eine ausdruckslose, wohl auch gekränkte Stimme sagte: »Hier wird nicht gelacht.«
Vor Mischa tauchten das eingefallene, lange Gesicht, die runden, farblosen Augen, die zottigen grauen, gewölbten Brauen, die breite, von faltiger gelber Haut überzogene Stirn des Gefängniswärters auf.
Der Student seufzte und wandte sich wieder den Inschriften zu. An der Decke, dort, wo man, auf der Pritsche liegend, leicht hinlangen konnte, hatte jemand sehr sorgfältig in Druckschrift hingemalt: »Hier hat Jakoff Ignatiw Ussof gesessen. Wegen Totschlags an seiner Frau und Saschka Gryslow, wegen ihrer Niedertracht. Das hat sich im Januar 1900 ereignet. Ich habe ihnen die Bäuche aufgeschlitzt.«
Erneut fuhr Mischa zusammen. Er war zwar auch vom Inhalt, noch mehr jedoch von der Sorgfalt betroffen, mit der die Inschrift ausgeführt war; man fühlte, daß Ussow fest von seinem Recht überzeugt war, Menschen töten zu dürfen.
Er versuchte, sich diesen Ussow vorzustellen, fand aber keine menschliche Gestalt für ihn; dieser gelassene Mörder erschien in seiner Phantasie als formloser, unheildrohender Fleck, in dessen Zentrum mit gleichmäßiger Helligkeit eine trübe blutrote Flamme brannte.
Hinter der Tür hallten schwere Schritte, und eine laute Stimme rief: »Achtung!«
Dann hörte man das Rasseln von Eisen, die Tür öffnete sich, und zwei Gefängnisaufseher und der zweite Stellvertreter des Gefängnisdirektors, klein von Wuchs, mit einem dunklen spitzen Schnäuzchen und ängstlichen Mäuseäuglein, betraten die Zelle. Der stellvertretende Gefängnisdirektor maß den Studenten aus den Augenwinkeln mit einem Blick und wandte sich schweigend von ihm ab. Einer der beiden Aufseher, rothaarig, dick, mit vorgewölbtem Bauch, trat an das Fenster und betastete prüfend das Gitter; der andere, der Mischa bereits bekannte hochgewachsene Alte, stand unbeweglich im Türrahmen und starrte dem jungen Mann mit leblosen Augen ins Gesicht. An seinen Beinen vorbeihuschend, brach – wie ein Zug kalter Winterluft – die graue Gestalt eines Kriminalverbrechers in die Zelle ein, stieß rasch einen dick mit Teer bestrichenen hölzernen Kübel unter die Pritsche und verschwand. Auch die Obrigkeit ging, diese mit lauten Schritten. Man hörte das Kreischen des schweren Riegels, dann das geräuschvolle Verschließen mit dem Schloß; worauf sich alles unter kaltem hartem Schlüsselgerassel den Gang entlang entfernte.
»Achtu-ung!« hallte es aufs neue gedämpft bis in Mischas Zelle.
Irgendwo kreischte gedehnt ein Flaschenzug, dann knallte eine Tür, der Laut, der an einen Schuß erinnerte, erschütterte die Luft, und wieder ertönte das schwere Knirschen von Eisen und hallten deutlich feste gemessene Schritte; noch einmal hörte Mischa den rauhen Ruf: »Achtu‑ung!«
Und plötzlich wurde es still, als hätte jemand das ganze Gefängnis in ein weiches, für Laute undurchdringliches Gewebe gehüllt.
Malinin glaubte auf einmal, Zahnschmerzen zu spüren, schämte sich aber gleich darauf des leise bohrenden Schmerzes, warf den Kopf in den Nacken, vergrub die Hände in den Hosentaschen und schritt unter lautem Pfeifen in seiner Zelle auf und ab.
Im Guckloch erschien das starre Auge des Aufsehers, und seine trockene Greisenstimme verkündete ungerührt: »Pfeifen ist nicht gestattet!«
»Ist nicht gestattet?« wiederholte Mischa und blieb stehen.
»Nein.«
»Also gut!« entgegnete Mischa mit spöttischem Lächeln und zuckte mit den Schultern.
Das Auge blinkte noch einige Sekunden im Guckloch und glitt schließlich langsam nach oben. Weiche Schritte klangen hinter der Tür. Bei den Zuchthäuslern in der Zelle nebenan tönte ein dunkles, einförmiges Summen. Vermutlich betete jemand, oder er erzählte ein Märchen . . . Mischa trat ans Fenster, stieg auf das Fensterbrett und starrte, die Stirn an das kalte Eisengitter gedrückt, in die nächtliche Finsternis hinaus. Die Nacht war so dunkel, daß es schien, streckte man die Hand aus dem Fenster, sie würde sich mit einem feuchten Belag überziehen und schwarz werden wie Ruß.
In der Stille, die den Lauten gleichsam auflauerte, um sie unbarmherzig aufzudecken, fühlte Mischa, wie in ihm der Stolz auf sich selbst wieder wuchs.
Er allein hatte unter Hunderten von Menschen den Mut gefunden, der Gewalt tapfer entgegenzutreten! Ihm fielen die feuchten, verschleierten Augen des Mädchens ein. Vielleicht erzählte sie jetzt in ihrem Kämmerlein den Freundinnen, wie ein hochgewachsener Student eine Rede gehalten und zum Widerstand gegen die Gewalt aufgerufen hatte.
Hoch am schweren Himmel flimmerten kleine, schrecklich ferne Sterne – sie waren durch die schmutzigen Fensterscheiben schlecht zu erkennen.
Mischa blickte, ohne zu zwinkern, zu ihnen empor, und seine Gedanken kreisten in langsamem Reigen und lösten einander ab.
Ach, wie angenehm es sein wird, vom Gefängnis zu erzählen, wenn man wieder in Freiheit ist! Er schloß die Augen, dachte nach und flüsterte kurz darauf mit erregter Stimme:
»Hoch vom Himmel blicken Sterne
Durch die Fenster mit Gefängnisgittern.
Ach, durch Fenster mit Gefängnisgittern
Blicken hier in Rußland selbst die Sterne . . .«
Der Vierzeiler erschien ihm schön und geistvoll. Er freute sich darüber, sprang vom Fensterbrett, ging in der Zelle auf und ab und deklamierte, aufgeregt lächelnd, mit lauter Stimme:
»Ach, durch Fenster mit Gefängnisgittern
Blicken hier in Rußland selbst die Sterne!«
»Sprechen ist verboten!« hörte er ziemlich laut und beunruhigt flüstern.
Mischa blieb stehen und sah mehrere Sekunden schweigend ins Auge des Gefängniswärters, das in der Türmitte blinkte.
»Ja, warum denn?« fragte er schließlich, unwillkürlich mit gedämpfter Stimme.
»Es ist eben verboten!«
Mischa schien, das Auge sei plötzlich zum Leben erwacht und spiegele etwas wie Schrecken wider.
»Und warum?« fragte Mischa leise und trat an die Tür. »Außer Ihnen hört es niemand . . ., und Sie kann es doch wohl kaum stören?«
Er beugte sich zur Tür vor, und zugleich mit dem warmen Atem schlugen ihm die seltsamen, strengen Worte entgegen: »Warum spotten Sie, Herr Student? Glauben Sie vielleicht, Sie sind zum Spaß eingesperrt?«
»So sagen Sie mir doch . . .«, begann Mischa.
Doch das Auge des Gefängnisaufsehers verschwand, und hinter der Tür lag wieder die Stille auf der Lauer.
»Achtung!« erklang vor dem Fenster eine dumpfe, heisere Stimme.
Man hörte das Klirren eines bei Fuß gestellten Gewehrs. Der Wachtposten murmelte halblaut und hastig: »Zwölf Fenster . . ., zwei Schilderhäuschen . . .«
»Hör zu, Tschuwasche! Wenn du siehst, daß einer den Kopf oder die Hand aus dem Fenster steckt, dann schieß nicht gleich!«
»Zu Befäll!«
»Na also! Sonst knallst du wieder darauflos wie neulich! Bykow, setz ihm das auseinander!«
In der Stille blitzt jedes Wort auf wie ein Funke im Dunkeln.
»Wenn du siehst, es schaut einer aus dem Fenster, dann schieß nicht gleich! Hast du verstanden?«
»Zu Befäll . . .«
Sein Radebrechen klingt ängstlich und traurig.
»Wenn aber einer aus dem Fenster klettert und hierher gelaufen kommt oder, sagen wir, dorthin . . ., verstehst du?«
»Zu Befäll . . .«
»Dann rufst du sogleich: Wer da? Und zwar einmal und dann noch einmal, und erst beim dritten Male schießt du, aber auch da nur in die Luft, zur Abschreckung. Erst dann schießt du auf ihn, auf diesen Flüchtling also . . ., oder du schlägst ihn mit dem Gewehrkolben nieder oder du spießt ihn aufs Bajonett . . ., wie es gerade kommt, verstanden?«
»Zu Befäll . . .«
»So, und jetzt geh auf und ab von hier bis dorthin und schau auf die Fenster . . ., und daß du nicht pennst!«
»Zu Befäll!«
»Na also, du Ölgötze! Und dann erkläre mir: Wann mußt du schießen?«
»Wenn er auf mich zukommt . . .«
»Und wenn er nun direkt über die Mauer will?«
Man hört, wie Füße ungeduldig auf der feuchten Erde stampfen.
»Was dann, zum Teufel?«
»Dann zuschlagen«, ertönt eine verschüchterte, leise Stimme.
»Und wenn sich ein Kopf am Fenster zeigt, was dann?«
Schweigen. Das Rasseln eines Gewehrs. Jemand spuckt ärgerlich aus.
»Was dann, du Klotz?«
Laut hallt ein zensurwidriges Schimpfwort, dann etwas, das sich anhört, als klatsche jemand mit der flachen Hand auf Teig . . .
»Dann ist nichts . . .«, kommt wie ein Seufzer kaum hörbar die Antwort.
»Quatsch!« brüllt die Baßstimme. »Dann mußt du sagen: Zieh den Kopf ein! Hast du verstanden? He, du Kröte! Abtreten!«
Mischa schmiegte sich an das Gitter, bemüht, den Wachtposten zu erkennen, der so traurig und schüchtern sprach. Der schmale Raum zwischen der Gefängniswand und der hohen steinernen Mauer war von tiefer Dunkelheit erfüllt, und eine kleine graue Gestalt bewegte sich langsam und fast geräuschlos mit hochgerecktem Kopf darin auf und ab. Der schmale Streifen des Bajonetts blitzte in der Finsternis hier und da auf und erinnerte an einen Fisch im Wasser.
»Nimm den Kopf rein!« erscholl ein hastiger, erschrockener Zuruf.
Mischa stieg leise vom Fensterbrett und blickte sich um. In der Zelle war es stickig.
Ein zynisches Schimpfwort sprang ihm in die Augen, das mit Bleistift und in großer Schrift auf dem grauen Grund der Wand hingemalt war. Er las es, schwieg eine Weile und wiederholte es plötzlich mit lauter Stimme. Dann schaute er auf die Tür, legte sich auf die Pritsche und schloß die Augen.
Sogleich blitzte in der Tür das trübe Fischauge auf . . .
Mischa lag, auf der Pritsche ausgestreckt, in tiefem Schlaf; ihm träumte, er laufe durch eine schmale dunkle Gasse, und jemand, der unsichtbar blieb, jage hinter ihm her, packte ihn an den Schultern und rufe ihm das unverständliche barsche Wort zu: »Appell!«
Er öffnete die Augen und hob den Kopf; neben der Pritsche stand der dicke rothaarige Aufseher und zupfte ihn am Jackenschoß, während der hochgewachsene Gehilfe des Gefängnisdirektors ihn mit krummem Rücken spöttisch aus grauen Augen anblickte und sagte: »Stehen Sie gefälligst zur Zeit auf, Sie sind hier nicht bei Mamachen!«
»Ja, gleich«, entgegnete Mischa mit gutmütigem Lächeln und sprang rasch von der Pritsche.
Der Gehilfe des Gefängnisdirektors sah ihm ins Gesicht, wandte sich zur Tür und bemerkte, nun schon weicher: »Sie sollten sich Papier geben lassen und nach Hause schreiben . . ., wegen des Bettzeugs und so weiter . . .«
Dann ging Mischa ans Ende des Ganges zum Waschen; hier ragte über einem breiten und langen eisernen Trog eine Reihe von Kupferhähnen aus der Wand, aus denen in dickem rundem Strahl kaltes Wasser floß. Auf dem Gang eilten graue Häftlinge mit blechernen Teekesseln hin und her; und von Zeit zu Zeit ertönte der Ruf: »Teewasser holen, he!«
Ein großer, schlanker Zuchthäusler mit blassem, von einem dichten blonden Bart umrahmten Gesicht kam, mit den Ketten klirrend, an Mischa vorbei; er sah den Studenten an, blinzelte ihm zu und fragte lächelnd: »Was ist, Herrensöhnchen, haben sie dich erwischt?«
Der rothaarige Aufseher brachte Mischa einen Becher mit warmem dünnem Tee und ein großes Stück Schwarzbrot.
Das Gefängnis summte wie ein Wespennest. Man hörte Lachen, Schimpfen, das Bruchstück eines Liedes und die rauhen Anschnauzer der Aufseher; auf dem Gang raschelten weich die Bastbesen, Wasser gluckste, und Mischa lauschte, von heftigem Interesse für das Leben der Menschen erfüllt, die man in diesem alten Gebäude aus Stein und Schmutz eingesperrt hielt, angespannt auf das dröhnende Lärmen.
Er hatte wenig gelesen und noch weniger gesehen; bis zur Universität war sein Leben eintönig im strengen Hause seiner Schwester und ihres Mannes abgelaufen, und er hatte sich unter jenen Studenten, die frei und hitzig in der schwer verständlichen Sprache von Buchgelehrten über gesellschaftliche Fragen stritten, nicht eben wohl gefühlt. Zwar war auch seine Seele von der allgemeinen Welle der Unzufriedenheit mit dem Leben nicht unberührt geblieben und hatte ein undeutliches, aber gesundes Bedürfnis des Protestes in ihr erweckt, aber er war sich noch nicht im klaren darüber, wogegen sich dieser Protest eigentlich richten müsse. Jetzt, da er sich als Held fühlte, sog er die neuen Eindrücke gierig in sich ein, die riesige Aufnahmefähigkeit seiner jungen Seele mit ihnen erfüllend.
Nachdem er seinen Tee getrunken hatte, stieg er auf das Fensterbrett. Auf einem Pfad entlang der hohen Mauer, die das Gefängnisgelände umgab, ging, die Hände auf dem Rücken, ein breitschultriger, schwarzhaariger Mann, der eine kurze dicke Jacke und eine Schirmmütze trug, mit raschen Schritten auf und ab. Gelegentlich warf er mit einer kraftvollen Bewegung den Kopf zurück und sah, ohne stehenzubleiben, mit einem raschen Blick über die Fenster hin. Mischa fühlte mehrmals, wie der aufmerksame Blick seiner ausdrucksvollen Augen über sein Gesicht hinglitt. Er wollte diesem Mann etwas sagen, ihm seinen Familiennamen nennen, ihn fragen, weswegen er im Gefängnis sitzt, und rief ihm, als er an seinem Fenster vorbeikam, mit gedämpfter Stimme zu: »Hören Sie!«
Unter dem Fenster hervor tauchte plötzlich der Wachtposten auf, drohte mit dem Finger und sagte in barschem Ton: »He . . ., das ist verboten!«
Der Mann mit der Schirmmütze zuckte mit den Schultern, lächelte Mischa zu und ging weiter. Mischa sprang vom Fensterbrett.
Gegen Mittag trat ein gertenschlanker junger Aufseher mit einem von Pockennarben entstellten Gesicht bei ihm ein. Er blieb an der Tür stehen und sagte leise, ohne den Häftling anzusehen: »Bitte zum Spaziergang . . .«
Auf dem Gefängnishof blinkte Wasser, das keinen Abfluß fand; drei Häftlinge gingen auf dem Hof umher und fegten es träge zum Tor; aber es sickerte, nun schon trüb und mit dickem Schlamm vermischt, immer wieder zwischen die Steine zurück.
Der Aufseher führte Mischa hinter eine Ecke des Gefängnisbaus und sagte gedämpft: »Gehen Sie hier zwischen der Ecke und der Mauer auf und ab; mit den anderen Gefangenen zu sprechen ist verboten!«
Und hier, unter dem blauen, grenzenlos hohen Himmel, griff das Wort »verboten« Mischa zum erstenmal ans Herz, und er fühlte auf einmal etwas Erniedrigendes aus seinem Klang heraus. Er sah dem Aufseher mit gerunzelten Brauen in das gleich einer Maske unbewegliche, an Kinn und Backenknochen mit Büscheln von hellem Haar bedeckte Gesicht; die Augen in diesem Gesicht erschienen ihm nicht dazugehörig und fremd; dunkel und mandelförmig, blickten sie, überschattet von langen Wimpern, freundlich drein und wirkten irgendwie schüchtern und fassungslos.
»Gehen Sie auf und ab!« sagte der Aufseher. »Stehenbleiben ist verboten . . .«
Mischa setzte sich langsam in Bewegung, und der Aufseher, der sich nach allen Seiten umsah, folgte ihm in einigem Abstand und etwas seitlich.
»Warum rebelliert ihr in einem fort?« sagte er leise, den Blick zu Boden gesenkt. »Ihr solltet lieber lernen . . ., um eines Tages stellvertretender Staatsanwalt zu werden . . ., als wenn das nichts ist! Aber nein, ihr rebelliert! Und dabei sind Sie ein so junger und hübscher Bursche . . . Sie haben doch eine Mama?«
Mischa war durch diese Worte gerührt, blieb stehen, lachte, legte die Hand an die Brust und wollte seinerseits etwas Freundliches, Schlichtes zu ihm sagen, doch der Aufseher sprang erschrocken beiseite, schaute sich um und flüsterte hastig: »Gehen Sie weiter, gehen Sie weiter! Wenn man es sieht, werde ich für die Unterhaltung bestraft!«
Er verschwand hinter der Ecke des Gefängnisses, und der Student begann, erfüllt von einem zwiespältigen Gefühl, das zwischen Betrübnis und Neugier schwankte, entlang der hohen Gefängnismauer auf und ab zu gehen.
Über dem niedrigen, schmutziggrauen Gefängnisgebäude mit den vier Ecktürmen wölbte sich, reingewaschen vom Herbstregen, schweigend der mattblaue, ausgeblaßte Himmel.
Wie lange ich hier wohl sitzen werde? fragte sich Mischa und sah sich nach allen Seiten um. Ihm schien, er würde, wenn man ihn jetzt entließe, schon manches Interessante vom Gefängnis zu erzählen haben.
Er bemerkte nicht, wie rasch die Zeit des Spaziergangs verging, und als der pockennarbige Aufseher auf ihn zutrat und sagte: »Bitte in die Zelle!«, rief er erstaunt aus: »Schon?«
Der Aufseher nickte nur. Auf dem Gang teilte er ihm leise mit: »Meine Mutter ist, wissen Sie, im Armenhaus . . .«
Und er senkte schuldbewußt den Kopf.
»Ach was! Nun, das macht nichts!« entgegnete Mischa, der keine passendere Antwort fand, mit einem Lächeln. Dann fiel aufs neue die schwere Zellentür hinter ihm zu; laut und böse dröhnten Schloß und Riegel . . .
So begann denn sein Leben dahinzufließen, Tag für Tag, einförmig, regelmäßig und farblos.
Der Appell ist längst zu Ende, und das Gefängnis liegt in schwerem Schlaf. Durch das Guckloch dringen seltsame Laute herein. Irgendwer flüstert im Traum, ein anderer scheint zu phantasieren. Leise schlurren die Schritte des Aufsehers hinter der Tür; die Wache hat heute der Alte mit dem unbeweglichen Blick. Er geht auf dem Gang langsam hin und her und murmelt, während Mischa auf der Pritsche liegt, nachdenkt und hellhörig lauscht.
Der Pockennarbige hat ihm heute während des Spaziergangs seine Geschichte erzählt. Er ist der Sohn eines Offiziers, der seine Mutter, eine Näherin, verführte und sitzenließ, mit einem Foto und dem Kind von ihm als Andenken. Die junge Frau umsorgte vierzehn Jahre lang den Sohn und arbeitete unermüdlich, da sie nichts anderes im Leben hatte als ihn. Sie schickte ihn erst auf die Gemeinde-, dann in die Stadtschule, aber dort zog ein Lehrer den Jungen an den Haaren, und die Mutter, die ihrem Sohn nie ein böses Wort gesagt hatte, holte ihn nach Hause zurück. Später verschaffte sie ihm die Stellung eines Schreibers bei einem Untersuchungsrichter, wobei jedoch auch sie weiterarbeitete – sie nähte, stellte künstliche Blumen her und strickte Strümpfe. Der junge Mann mußte zum Militär, und dort vermochte er, der von der liebenden Mutter erzogene und in sie verliebte Sohn, die Spötteleien des Unteroffiziers nicht zu ertragen und gab dem Vorgesetzten eine Ohrfeige. Er wurde ohne Anrechnung der Dienstzeit für drei Jahre in ein Strafbataillon versetzt, während seine Mutter sich weitermühte und das Los ihres Sohnes beweinte. Nachdem er sieben Jahre als Soldat gedient hatte, kehrte er zerquält und verschüchtert nach Hause zurück und fand seine Mutter beinahe erblindet vor – sie konnte nicht mehr arbeiten und bettelte auf den Treppenstufen vor den Kirchen. Aber auch da noch schenkte sie ihm einen selbstgestrickten Schal, das letzte Werk ihrer müden Finger und ihrer halberblindeten Augen, das letzte Sinnbild ihrer schwachen, ohne Murren für den Sohn aufgeopferten Kräfte. Er konnte mehrere Monate keine Arbeit finden und lebte von den Almosen, die seine Mutter sammelte. Sie erblindete schließlich völlig; er bekam endlich eine Anstellung als Gefängnisaufseher, brachte die blinde alte Frau im Armenhaus unter, und dort strickte sie jetzt Socken für ihn . . .
Was für eine Frau, dachte Mischa, wieviel Liebe, wieviel schlichte, rührende Schönheit!
Er rief sich die verängstigten, verlegenen Augen, die leise Stimme des Pockennarbigen in Erinnerung.
»Was hat denn ihre Arbeit für einen Sinn gehabt, wenn ihr Sohn trotz allem . . .«
»Herr Malinin!« hört er laut flüstern.
Mischa sprang von der Pritsche – das Auge des Gefängnisaufsehers blinkte beunruhigt durch das Guckloch.
»Was reden Sie da?« fragte der Alte.
»Ich? Ich rede doch gar nicht«, entgegnete Mischa verdutzt.
»Aber ich habe es doch gehört!«
»Das muß wohl . . ., das hat nichts zu bedeuten . . .«
»Na also . . . Nehmen Sie sich zusammen!«
Das Auge des Aufsehers verschwand für eine kurze Weile, tauchte dann aber wieder auf, und der Alte begann in warnendem Flüsterton: »Genauso hat hier ein anderer . . . in einem fort mit sich selbst geredet . . ., um ehrlich zu sein – mein Neffe.«
»Nein, wirklich?« fragte Mischa rasch.
»Nun ja, sie haben ihn dann ins Irrenhaus gebracht . . .«
»Ihren Neffen?«
Das Auge des Aufsehers schnellte sonderbar auf und nieder – offenbar nickte er bejahend.
»Und er hat hier gesessen?« erkundigte sich Mischa leise.
»Ja, in Zelle neun.«
»Und Sie haben ihn . . . waren Sie denn damals schon hier?« fuhr Mischa zögernd fort.
»Ich bin seit siebzehn Jahren hier«, entgegnete der alte Mann gelassen.
Mischa blickte in sein trübes Auge, auf seine lange, knorplige Nase und wollte schon fragen: Sie haben also tatsächlich Ihren Neffen genauso bewacht wie mich?
Er fürchtete jedoch, den Alten zu kränken, unterließ es und meinte nur: »Eine lange Zeit . . .«
»Warten Sie mal, ich hole mir einen Stuhl«, flüsterte der Alte und zwinkerte ihm zu, »das Bücken fällt mir schwer, ich bekomme Rückenschmerzen davon . . .«
Er entfernte sich, Mischa stand an der Tür, horchte auf das Schlurfen seiner Schritte und dachte: Wenn der Mensch eine Seele hat, muß die Seele dieses Alten genauso dunkel, verschrumpelt und vertrocknet wie sein Gesicht sein . . .
Der Alte kam zurück, stellte den Stuhl geräuschlos neben die Tür, und wieder erschienen im Guckloch sein Auge und die zottige, graue, hochgewölbte Braue.
»So ist's schon besser«, meinte er. »Schlafen kann ich ja doch nicht – die Knochen tun mir weh . . . Und Sie schlafen ja auch nicht . . ., da können wir uns ein bißchen unterhalten. Nachts kann man das; am Tage ist es nicht möglich, aber nachts – wer erfährt etwas davon? Am Tage verstelle ich mich, als ob ich streng mit euch bin, denn anders geht es nicht, die Obrigkeit verlangt es! In der Nacht aber kann man auch mit euch ein paar Worte reden. Außerdem, was sind Sie schon für ein Verbrecher? Ach! Sie tun mir leid. Da lachen Sie und freuen sich, als hätte man Sie befördert . . ., ja, die Jugend! Sie sollten sich der Obrigkeit lieber fügen . . .«
Das Gespräch wurde Mischa unangenehm. Er beugte sich nervös zur Tür und fragte den Alten: »Was war Ihr Neffe von Beruf?«
Und wieder knisterte die trockene, farblose Stimme durch die Zelle: »Schlosser. Er erschoß einen Ingenieur. Über ihn haben sogar die Zeitungen geschrieben . . ., jawohl! Er selber hat mir aus dieser Zeitung vorgelesen . . ., sie war ihm zufällig in die Hände gefallen, und gerade da stand etwas über ihn drin. Er las es mir vor und lachte . . . geradeso wie Sie! War ein hitziger Bursche. Seine Mutter, also meine Schwester, hat geheult und geheult. Aber Blut läßt sich durch Tränen nicht abwaschen. Da fragte ich manchmal: Nun, Fjodor, wie fühlst du dich hier, im Gefängnis? Er prustete nur . . . Anfangs schwieg er immerfort, er war eben erbittert. Aber später fing er an, mit sich selbst zu reden, und redete sich schließlich ins Irrenhaus . . .«
»Was sagte er denn?« erkundigte sich Mischa leise.
»Ach, allerlei . . ., wer findet sich da zurecht? Sind Sie nicht aus Kaluga?«
»Ja.«
»Na eben! Den Familiennamen kenne ich doch! Es hat da in Kaluga einen Postmeister Malinin gegeben . . .«
»Es war mein Vater.«
»Da! Auch ich bin aus Kaluga . . ., ja doch! Ist Ihr Vater denn gestorben?«
»Ja.«
»Soso . . .! Nun, sterben müssen wir alle!«
Sie sprachen beide im Flüsterton, und ihre Stimmen raschelten in der Stille wie trockenes Herbstlaub. Dumpf stapfte vor dem Fenster, als zähle er die verrinnenden Minuten, der Wachtposten mit gleichmäßigem Schritt auf und ab.
»Ist es hier nicht trübselig für Sie?« wollte Mischa wissen.
»Das ist es für alte Leute überall«, entgegnete die Flüsterstimme hinter der Tür.
»Und . . . hat Ihnen Ihr Neffe, als er hier saß, nicht leid getan?«
»Warum sollte er das, wo er doch einen Menschen auf dem Gewissen hatte? Die Schwester tat mir leid . . . Hat aber einer einen Menschen auf dem Gewissen . . .«
Der Alte hielt plötzlich inne, und sein Gesicht verschwand, als wäre es heruntergerutscht. Mischa blickte zum Guckloch und wartete.
Das Gesicht des Alten tauchte wieder auf neben dem seinen, und er sagte, langsam die schmalen Lippen des großen, von Büscheln grauer Haare umgebenen Mundes bewegend, nickend und, wie es schien, spöttisch:
»Ich habe geschwindelt . . ., der Fedjka tut mir leid . . ., aber er war noch sehr jung . . . und auch er ein braver Bursche. . . .«
Plötzlich zerriß gleich einem Windstoß, der über einem verschlafenen Teich hinfährt, ein wildes, erschütterndes Geheul die Stille des Ganges: »Nicht schlagen . . ., Freunde . . ., erbarmt euch!«
»Was ist das? Was ist denn?« rief Mischa und zuckte zusammen.
»Schsch!« zischte der Alte. »Hat nichts zu sagen! Er schreit im Traum . . ., das tun sie öfter. Hat schließlich jeder so etwas wie ein Gewissen . . . Und nun schlafen Sie! Mit Gott! Legen Sie sich hin! Es hat schon zwölf geschlagen.«
Er stand auf und ging; seine Füße schlurrten über den Fußboden hin, als schleife er etwas Großes, Weiches und sehr Schweres hinter sich her.
Mischa trat auf die Pritsche zu, legte sich hin und heftete die traurigen Augen auf das schmutzige Steingewölbe, das stumm über seinem Kopfe hing.
Mischa war seiner kleinen, wenig bemerkenswerten Vergangenheit gleichsam irgendwohin entrückt, und das Hervorstechendste in ihr, seine »Heldentat«, meldete sich in seiner Erinnerung nicht mehr so oft zu Wort. Er fühlte aus dem sonderbaren Gefängnisleben eine versteckte Anspielung auf etwas heraus, das seinem Bewußtsein zunächst noch unerreichbar war.
Die Gefängnisleitung behandelte ihn mit Nachsicht und einem leichten Spott – offenbar war sie durch Mischas offenes Gesicht, das gutmütige Lächeln der prallen roten Lippen, durch seine frischen Wangen, seine naiven blauen Augen, den wohlklingenden Brustton seiner Stimme und seine kräftige, ein wenig unbeholfene Statur für ihn eingenommen.
»Nun, Herr Malinin, wie gefällt es Ihnen bei uns?« erkundigte sich eines Tages der erste Stellvertreter des Gefängnisdirektors bei ihm.
»Es ist hier, wissen Sie, interessant!« entgegnete Mischa lächelnd.
Der Stellvertretende lachte unfroh, dann senkte sich seine von tiefen Falten durchfurchte Stirnhaut bis an die Augen, und er erklärte: »Ach Sie, Sie bescheidener Beobachter! Ihr Spaziergang wird auf eine halbe Stunde verlängert . . .«
»Danke!« sagte Mischa.
»Keine Ursache!« entgegnete aus irgendeinem Grunde der Mann von der Gefängnisleitung trocken und verließ die Zelle.
Der pockennarbige Aufseher – er hieß Ofizerow – erzählte Mischa folgende Geschichte von ihm. Ihm, den stellvertretenden Gefängnisdirektor, sei eines Tages der Verdacht gekommen, sein Dienstmädchen habe seiner Frau einen Ring gestohlen; er ließ das Mädchen den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht foltern, um ein Geständnis von ihr zu erpressen. Er bestellte zwei Häftlinge zu sich, die ihn auf irgendwelche Weise geärgert hatten, befahl ihnen, das Stubenmädchen auszuziehen, nackt an einen Tisch zu binden und zu kitzeln. Wenn sie ohnmächtig wurde, ließ er ihr Wasser geben und sie weiterquälen. Es endete damit, daß der eine Häftling die Folter nicht länger zu ertragen vermochte, die Nerven verlor und das Mädchen in Gegenwart des Vorgesetzten und seines Gefährten in einem wilden Anfall von Sinnesgier vergewaltigen wollte. Er wurde verprügelt und in den Karzer gesperrt; als die Spuren der Schläge nicht mehr zu erkennen waren, brachte man ihn in eine Nervenheilanstalt.
»Das ist alles!« fügte Ofizerow leise hinzu, nachdem er seine Erzählung beendet hatte, blickte sich scheu nach allen Seiten um und verbarg die schüchternen Augen hinter den Wimpern. Mischa empfand, solange er zuhörte, Abscheu gegen den Peiniger, stellte jedoch, als er ihn noch am selben Tage in seiner Zelle wiedersah, zu seiner Verwunderung fest, daß in seiner Seele diesem Menschen gegenüber keine anderen Gefühle vorhanden waren als heftige Neugier und ein leichter Ekel.
Mischa sah aus seinem Fenster, daß außer dem schwarzhaarigen Mann in der dicken Jacke weitere sechs politische Gefangene zum Spaziergang hinausgeführt wurden. Es schienen Arbeiter zu sein; sie waren stämmig, kräftig gewachsen, schlecht gekleidet und blickten streng und finster drein. Wenn ihre Augen auf Mischas Gesicht haften blieben, fühlte er sich aus irgendeinem Grunde unbehaglich und wäre am liebsten vom Fensterbrett gesprungen. Ihre mageren, ausgehungerten Gesichter waren von einem Ausdruck fester Entschlossenheit geprägt. Einige von ihnen lächelten ihm zu und machten ihm irgendwelche Zeichen. Mischa beantwortete beides auf dieselbe Art. Er empfand Interesse für sie und Achtung vor ihnen und bemerkte, daß auch die Kriminalverbrecher sie mit demselben Interesse musterten. Manchmal machten sich die grauen Gestalten der Kriminellen eine Unachtsamkeit des Wachtpostens zunutze, stürzten auf die Politischen zu und erbaten von ihnen eine Zigarette oder zogen sie rasch in ein leises Gespräch.
Gelegentlich stimmten die Kriminellen nach dem Mittagessen im Speiseraum unter Mischas Zelle ein Lied an, und dumpfe, matte Klänge drangen dann durch den Fußboden an sein Ohr. Die Worte konnte Mischa aus dem dichten Stimmengewoge nicht heraushören, und nur einmal verstand er, wie jemand mit: hoher, sehnsuchtsvoller Tenorstimme klagte und sang:
»Meer, du blauendes,
Meer, du stürmisches . . .
Wind, du heulender,
Nicht eben freundlicher . . .«
Häufiger sangen die Häftlinge jedoch irgendwelche fröhlichen, unbekümmerten Lieder, zu denen Pfiffe und wilde Schreie gehörten; diese Lieder erfüllten die Gefängnismauern mit den verwegenen Lauten einer ungestümen Kraft. Mischa schien es dann, das Gefängnis bebe vor Entrüstung, und neue Risse zeigten sich in seinem Mauerwerk, durch die sich unsichtbar, aber beunruhigend tiefe Erbitterung über die Menschen ergoß. Von allen Seiten eilten Aufseher herbei, um diesen aus der Trübsal geborenen Freudenausbruch zu ersticken. Mischa sah, daß sich die Aufseher zu den Kriminellen unterschiedlich verhielten: die Willensschwachen, die sich leicht in alles fügten, verachteten und knechteten sie, während die Kühnen, die ihre menschliche Würde zu behaupten wußten, fast von der gesamten Obrigkeit mit Vorsicht und manchmal sogar freundlich behandelt wurden; nur wenige erlaubten sich, die Macht, die sie über sie besaßen, offen und feindselig unter Beweis zu stellen. Auf die Politischen aber blickten die Aufseher – so jedenfalls schien es Mischa – mit einem lauernden, heimlichen Interesse, aus dem man Mißtrauen und die müde Erwartung von etwas Besonderem, Außerordentlichem herausfühlte.
Eines Tages flüsterte Ofizerow Mischa, den er auf dem Spaziergang begleitete, zu: »In dieser Nacht haben sie weitere drei von den Euren hergebracht.«
»Studenten?«
»Sagen Sie, Ofizerow, wissen Sie, wofür man sie ins Gefängnis sperrt?« erkundigte sich Mischa.
Der Aufseher überlegte, blickte sich um und erwiderte mit weit geöffneten Augen und einem unterdrückten Seufzer: »Jeder will auf seine Art leben . . ., und da geraten sie eben aneinander!«
Aber dann fügte er nach einem kurzen Schweigen hinzu:
»Sie sind dagegen . . .«
»Wogegen?«
»Gegen alles . . ., sie sind einfach dagegen.«
Fast jede Nacht trat der alte Gefängnisaufseher – er hieß Kornej Danilowitsch – während seiner Wache an die Tür der Zelle und erzählte Mischa mit der Geschwätzigkeit des alten Mannes, das dunkle Gesicht am runden Rahmen des Gucklochs, irgendwelche zusammenhanglose Geschichten. Kornej hatte viel gesehen und viel erlebt, doch die Eindrücke vom Leben hatten sich in seinem Gedächtnis zu einem riesigen Knäuel von Unglück, sinnloser Arbeit, Erniedrigung und irgendwelchen unbewußten Handlungen verwirrt. Diese Handlungen erschienen Mischa manchmal gut und rührten ihn, meistens jedoch waren sie unsinnig und schlecht und stets unerklärlich, zufällig, als hätte der Mensch nicht aus eigenem Antrieb gehandelt, sondern, gedankenlos und ohne zu murren, immer nur die Befehle eines ihm unbekannten und unverständlichen fremden Willens ausgeführt.
»Das ist . . . so fünfzehn Jahre her«, flüsterte er, das Fischauge unbeweglich auf Mischas Gesicht gerichtet, »da sah ich, er wurde nachdenklich . . ., mein Sohn nämlich, der Alexej. In die Kirche ging er nicht mehr, in die Kneipe auch nicht. Ich beobachtete ihn . . ., und was war? Er hatte sich mit den Stundisten eingelassen . . ., nun ja . . . Als erstes schimpfte ich ihn aus – paß auf, dir werde ich's zeigen, sagte ich. Er ließ sich jedoch nicht davon abbringen. Da beklagte ich mich beim Geistlichen. Nun, er kam also vom Geistlichen zurück, und ich merkte schon, er war so richtig verärgert. Ich machte mich über ihn lustig: ›Was ist, hat er es dir gegeben?‹ Hier stieß er ein böses Schimpfwort gegen den Geistlichen aus, Gott verzeih ihm! Ich sagte: ›Ach du, daß dich der und jener, was nimmst du dir heraus?‹ Da putzte er auch mich herunter. Nun ja, ich geriet in Wut und warf ihm einen Topf mit Grütze an den Kopf. Hab ihm die Schnauze zerschlagen. Und er ging auf und davon. Seither ist er spurlos verschwunden . . ., alles aus . . . Da sieht man, was ihr Jungen für Dickköpfe seid . . ., hm – ja . . .«
»Jetzt tut es Ihnen wohl leid?« erkundigte sich Mischa leise.
Der Alte antwortete nicht gleich. Er schwieg, hüstelte und murmelte einige Sekunden vor sich hin; erst dann entgegnete er gelassen: »Manchmal schon. Alle tun mir leid. Kommt vor, sogar ein Mörder! Es mordet schließlich nicht jeder unbedacht, hat manchmal auch seine Gründe. Bei manchem sollte man sich vielleicht sogar bedanken . . . Beim Henker, zum Beispiel, Er tötet ja nicht zum Spaß, sondern zum Nutzen der Allgemeinheit. Und einen Unmenschen zu töten ist keine Sünde, aber glauben Sie etwa, daß es dem Henker leichtfällt?«
Mischa neigte sich rasch zum Guckloch vor; er wollte wissen, was das Gesicht des Mannes in diesem Augenblick ausdrückte, der, unerfindlich warum, den eigenen Sohn verstoßen hatte und dabei fähig war, einen Henker zu bemitleiden. Doch das Gesicht glich wie immer einem von Rissen durchzogenen Stein; die Augen blinkten wie zwei trübe Glasscherben.
»Weshalb starren Sie mich so an?« fragte der Alte.
»Ach . . . das hat weiter nichts zu bedeuten«, entgegnete Mischa leise. »Sagen Sie, warum hat es Ihnen mißfallen, daß Ihr Sohn Bekanntschaften mit Stundisten unterhielt?«
»Weil man sich von diesen Stundisten erzählte, daß sie ein schlechtes Volk sind. Aber dann haben hier, so vor drei Jahren, viere von ihnen gesessen . . ., und nichts zu sagen, alles sehr ordentliche Kerle. Alle konnten lesen und schreiben, an ihrer Führung ließ sich nichts aussetzen. Waren angenehme Gefangene . . . Ich habe mich bei ihnen nach Alexej erkundigt; ›den kennen wir nicht‹, sagten sie. ›Wir sind zu viele.‹ Das wird wohl auch stimmen – es sitzen hier öfter welche von ihnen.«
Er machte eine Pause und fuhr fort:
»Die Verbrecher werden neuerdings immer mehr. Früher gab es bei uns nur Diebe, Räuber und Mörder . . ., heute sind die Studenten, die Arbeiter, die Politischen, die Stundisten und allerlei andere dazugekommen. Die sittliche Ordnung verfällt!«
»Das sollten Sie aber nicht sagen!« begann Mischa hastig und voller Leidenschaft. »Sie wollen nur das Leben ändern, es besser machen, und zwar für alle . . .«
Hinter der Tür erklang ein leises, trockenes Lachen; dann räusperte sich der Alte und sagte: »Das kenne ich . . ., ja! So haben viele geredet . . .«
Er erhob sich und ging, offenbar unzufrieden und sogar verärgert davon.
Und eines Tages erzählte er folgende Geschichte:
»Ich habe ein weiches Herz . . ., ich kann die Menschen verstehen! Da saß bei mir im Gang ein ausgebrochener Zuchthäusler. Ein Bild von einem Mann, ein hünenhafter, liebenswürdiger Bursche . . . War zwar ein Bauer, konnte aber lächeln wie so ein richtiger Herr . . . Da lächelte er einen manchmal an, und man war außerstande, ihm etwas abzuschlagen. ›Danylitsch!‹ sagte er, ›besorg mir ein bißchen Tabak!‹ Und ich beschaffte ihm welchen. Nun, eines Tages stibitzte er irgendwo ein Messer, stellte daraus eine kleine Säge her, brachte ein Stück Speck beiseite und machte sich daran, das Fenstergitter zu bearbeiten. Ich merkte es sofort . . ., und er tat mir schrecklich leid. Ach, dachte ich bei mir, das wird dir nie gelingen, mein Bester! Aber ich störte ihn nicht, soll er sich unterhalten, sagte ich mir, wenigstens langweilt er sich nicht mehr so! Er mühte sich eine ziemliche Zeit damit ab . . ., es werden drei Wochen gewesen sein. Und ich beobachtete ihn. Freu dich nur, von mir aus . . .«
Kornej Danylitsch brach in ein gutmütiges Lachen aus.
»Nun ja, und als er die Arbeit dann beendet hatte, meldete ich's der Obrigkeit . . .«
»Aber weshalb denn?« rief Mischa aus.
»Was sollte ich anderes tun?« fragte der Alte.
»Sie hätten es ihm selber sagen sollen, diesem Zuchthäusler!«
»Komischer Kauz!« spottete Kornej. »Und das Gitter? Es war doch durchgesägt!«
»Sie hätten es gleich damals sagen können, als er damit anfing!«
»Hm . . ., meinen Sie? Ja, das hätte ich allerdings können . . . Aber so, wie ich es gemacht habe, war es schon besser – der Mann hat wenigstens seine Beschäftigung gehabt.«
»Aber er ist doch dafür bestraft worden?«
»Ja, was denn sonst? Ohne das geht's nicht.«
»Und schwer?«
»Das weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall hat er einen Monat im Karzer gesessen . . ., und vor Gericht haben sie ihm, wenn ich nicht irre, auch noch was aufgebrummt . . ., genau kann ich mich nicht erinnern.«
»Was für ein Blödsinn!«
Das dunkle Gesicht des Alten schaukelte hinter dem Guckloch hin und her, und er entgegnete langsam, schwer zu sagen, ob seufzend oder gähnend: »Hm-ja . . . das Leben ist nun mal nicht zu ändern!«
Mit solchen Gesprächen verbrachten der Alte und der junge Mann ganze Stunden, der eine gleichgültig und kalt, der andere befremdet und von ohnmächtiger Entrüstung erfüllt. Zwischen ihnen befand sich die dicke, mit rostigem Eisen beschlagene Tür, und durch die kleine Öffnung darin überschüttete der schlaflose, geschwätzige Gefängnisbewohner die Seele des Jünglings mit dem finsteren Wust seiner Erinnerungen. Mischa fühlte, wie in seinem Innern allmählich etwas Schweres, Dunkles aufkeimte.
Eines Tages fragte er Ofizerow: »Sagen Sie, gefällt es Ihnen hier?«
»Wär nicht das Prügeln – es ginge . . .«, entgegnete der Pockennarbige mit seiner leisen, weichen Stimme.
»Man schlägt Sie? Ja, wer denn?«
»Mich schlägt man selten . . . Ich spreche im allgemeinen, von allen! Die Häftlinge prügeln sich untereinander . . ., und schrecklich. Und auch die Aufseher schlagen auf sie ein . . ., sie schlagen nicht jeden . . ., es gibt welche, die man nicht schlagen kann! Aber die, die man schlagen kann – die um so unbarmherziger!«
Er zuckte ängstlich mit den Schultern, blickte sich um und fuhr, die schönen Augen weit offen, fort: »Ich kann das nicht mit ansehen.«
Sie standen hinter der Ecke eines Gefängnisturmes, neben einem Haufen Kehricht, Steinschutt und irgendwelcher Holzabfälle. Über ihnen zogen langsam und majestätisch die Wolken dahin, der Wind trug aus der Stadt vereinzelte, abgerissene Laute herbei.
»Entschuldigen Sie«, begann Ofizerow in erregtem Flüsterton, wobei er rasch hintereinander mit den Augen zwinkerte, als schaute er in etwas blendend Helles, »entschuldigen Sie, es kommt vielleicht nur von meiner großen Dummheit . . .«
»Worum handelt es sich denn?« fragte rasch, erregt und mit gedämpfter Stimme, der Student.
Ofizerow trat näher an ihn heran und sagte mit bebender Stimme: »Es handelt sich um Gott . . . Glauben Sie an Gott?«
Mischa senkte den Kopf und erwiderte nach einigem Schweigen mit leiser Stimme: »Ich . . . weiß es nicht . . .«
»Ich weiß es auch nicht!« fiel der Gefängnisaufseher hastig ein. »Ich denke sehr viel über ihn nach . . . Warum herrscht, wenn es ihn wirklich gibt, überall so viel Schreckliches? Und so viel Grausamkeit? Sie sind ein gebildeter Mensch . . . Weshalb dieses Schreckliche, weshalb all diese Grausamkeit?«
In seine Augen traten große trübe Tränen, er schüttelte sie mit einer Kopfbewegung ab und ging, ohne sich umzusehen, rasch davon.
Mischa schritt erregt in seiner Zelle auf und ab, und in das Halbdunkel, das ihn umgab, drang ein leises, klägliches Lied, das sich in dünnem Strahl durch die Lüftungsklappe ergoß, ein unschönes Lied, das an das ferne Heulen eines hungrigen Wolfes erinnerte: »A-a-ah! O-o-oh! Eh-oh . . .«
Und alles, was der junge Mann in der letzten Zeit erlebt hatte, stieg nach und nach, durch dieses eintönige Stöhnen heraufbeschworen, hartnäckig und eigensinnig in der Erinnerung vor ihm auf, gleichsam eine Erklärung von ihm verlangend
Seine »Heldentat« kam ihm jetzt glanzlos und schlecht verständlich vor wie ein altes, mit Staub und Ruß bedecktes Bild; und sich selbst sah er nun als komischen, albern mit den Händen fuchtelnden Studenten inmitten einer Schar durch ihre Ohnmacht, durch die Leichtigkeit beschämter Menschen, mit der sie von einer stumpfsinnigen, mechanischen, aber organisierten Kraft besiegt worden waren. Die müden, bösen, unbeteiligten Gesichter der Polizisten, die verächtliche Grimasse des Offiziers, dem Mischa seine Worte ins Gesicht geschrien hatte, der Revieraufseher mit dem schmerzenden Zahn – all das tauchte als Alptraum in der Erinnerung vor ihm auf und lastete auf seinem Hirn.
Wahrscheinlich schämten sie sich, daß wir so hilflos vor ihnen dastanden, dachte Mischa, sah aber gleich ein, daß diese schnurrbärtigen finsteren Landsknechte, die es gewohnt, die darauf gedrillt waren, Menschen wie Vieh zu behandeln, gar nicht die Fähigkeit besaßen, sich zu schämen, und nichts zu empfinden vermochten als die physische Gewalt, die sie versklavt hatte und nach Belieben hin und her schob. Er mußte an den Droschkenkutscher denken – wie erschrocken er an der Pferdeleine zog, als der Revieraufseher ihn anschnauzte. Dann hörte er die gleichgültige Stimme des Mannes vor dem Revier, der von den Menschen sprach wie von Holzklötzen oder Ziegelsteinen. Er erinnerte sich an Ofizerows Mutter, die keine Einwände erhob, als man ihrem Sohn einen Familiennamen gab, der auf den Stand des Vaters hinwies, obwohl sie doch wissen mußte, daß er die Ursache boshafter, kränkender Spötteleien über ihren Sohn bilden würde. Mag sein, daß Ofizerow nur darum die drei Jahre im Strafbataillon verbracht hatte. Er mußte an das Stubenmädchen des stellvertretenden Gefängnisdirektors denken, das die Schmach, die man ihr angetan hatte, für zehn Rubel verzieh . . . Dieser Ofizerow, der für sein ganzes Leben durch die Grausamkeit der Menschen verschüchtert war . . ., dieses sinnlose Mitleid des alten Kornej, der sich widerspruchslos einem fremden Willen fügte und den Leuten seit achtzehn Jahren immer dasselbe stumpfsinnige: Das ist verboten! entgegenhielt, ohne sich je zu fragen: Warum eigentlich?
Selbst im Traum noch sahen und fühlten die Menschen, daß man sie schlug, und schrien – von Grauen erfaßt – entsetzt auf: »Nicht schlagen! Erbarmt euch!«
Mischa blieb mitten in der Zelle stehen; das widerwärtige Gefühl einer irgendwie klebrigen, zähen Wehmut erfüllte seine Brust. Vor dem Fenster wogte es trübselig fort: »A‑ah, oh . . .«
Mischa schien, diese Trübsal, dieser Schmerz, diese bittere Scham über die Menschen woge und stöhne in ihm, in seiner eigenen Brust.
»Hören Sie zu«, drang ein leises Flüstern in seine Zelle. Mischa trat beinah freudig an die Tür; durch das Guckloch blitzten ihn freundlich die schönen Augen Ofizerows an.
»Was haben Sie?« fragte Mischa.
»Sie schlafen nicht?«
»Nein.«
»Im Gefängnis schlafen sehr viele schlecht. Hören Sie sich ein paar Verse an . . ., wenn es Sie interessiert . . .«
»Bitte! Sprechen Sie!«
»Nur glaube ich, es sind verbotene . . . Sie waren im Turm im zweiten Stock mit Bleistift an die Wand geschrieben.«
Ofizerows Augen verschwanden für kurze Zeit aus der kreisförmigen Öffnung in der Tür, dann tauchten darin statt ihrer seine Lippen auf, und ein leises, geheimnisvolles Flüstern, durchdrungen von Furcht und tiefempfundener Traurigkeit, erfüllten den Raum:
»Lebte einst ein Mann, der war
Nur der Wahrheit Freund und Diener,
Und um dieser Freundschaft willen
Hatt' ihn niemand, niemand lieb . . .
Alle sprachen über ihn
Nur mit Haß und voller Schrecken,
Und der Mann fand nirgends Zuflucht,
Nirgends ein Asyl für sich . . .
Einsam und für alle fremd,
Starb er still in seiner Zelle,
Niemand gab ihm das Geleit
Bis zum Friedhof, bis zum Grabe . . .
Niemand kennt das Grab des treuen
Freundes der verfolgten Wahrheit,
Nur mein Herz weiß das Geheimnis,
Doch es wahrt es, und es schweigt . . .«
In der runden Öffnung der alten, eisenbeschlagenen Tür bewegte sich etwas Dunkles, Weiches, Lebendiges, das wehmütig zitternde, leise Worte gebar. Mischa stand mit weit geöffneten Augen und vorgeneigtem Kopf lauschend daneben, und ihm schien, das Holz der Tür selber habe, gesättigt von den schweren Seufzern, der vielen Trübsal und den einsamen Gedanken der Menschen, das menschliche Leid in eine traurige Legende verwandelt und raune sie ihm jetzt geheimnisvoll zu. Und dieser Legende sekundierte, kaum hörbar seufzend in der Dunkelheit vor dem Fenster, das endlose stöhnende Lied.
Im Guckloch verschob sich etwas, dann blitzten wieder mit warmem Leuchten die lächelnden Augen Ofizerows in ihm auf.
»Hat es Ihnen gefallen?« flüsterte er.
Mischa hatte eine trockene Kehle, seine Brust rang nach Luft. Er blickte unverwandt in die schönen Augen, und plötzlich schien ihm, diese Verse müsse der Gefängnisaufseher selber verfaßt haben, bestimmt er selber! Er entgegnete erst nach einer Pause und mit leiser Stimme: »Ja . . . Und warum glauben Sie, daß es verbotene Verse sind?«
»Wie wäre es anders möglich . . ., es sind doch Verse von der Wahrheit!«
»Schreiben Sie vielleicht selber welche?«
»Ich?« fragte Ofizerow verwundert. »Nein . . ., wie könnte ich das? Ich habe nur ein Gebet für mich erfunden – damals, als ich Soldat war . . .«
»Und was für eins? Sagen Sie es her!«
Einige Sekunden Stille, dann ging aufs neue ein Raunen von schlichten, innig gesprochenen Worten durch die Gefängniszelle: »Herrgott im Himmel! Warum ist so viel Grausamkeit und Bosheit unter den Menschen? Mein Gott – warum?«
Diese Frage stieß Mischa weich, aber doch fühlbar vor die Brust, umfing und überwältigte ihn. Er trat geräuschlos einen Schritt zurück, setzte sich auf den Pritschenrand und starrte, den Rücken fest an die Ofenecke gedrückt, zur Tür, als warte er auf etwas.
Ofizerow aber fuhr ruhig fort: »Es war ziemlich lang . . ., und ich habe es längst vergessen . . . Wissen Sie, ich liebe Verse . . ., weil sie so ganz anders sind als alles, was die Menschen sonst reden . . .«
Mischa sah, daß die Augen des Gefängnisaufsehers ihn aufmerksam betrachteten; er hörte das Rascheln hinter der Tür und die eintönig verzagten Laute des Liedes vor dem Fenster. Der Ofen wärmte seinen Rücken, in seiner Brust aber war es eng und kalt.
»Ist Ihnen nicht wohl?« erkundigte sich der Aufseher. »Es ist ein so schlimmes Wetter . . .«
»Nein, nein, das macht mir nichts aus . . .«, erwiderte Mischa dumpf.
Ihm schien, in der Zelle sei es stickig, die Luft darin sonderbar gesättigt von dem schwermütigen, warmherzigen Flüstern, und es lasse sich kaum in ihr atmen.
»Strecken Sie sich aus«, riet Ofizerow. »Es wird Zeit, daß Sie sich schlafen legen.«
Und er fügte überraschend hinzu: »Neben Ihnen haben sie noch einen eingesperrt . . .«
Mischa gab keine Antwort. Ofizerows Augen blitzten auf und verschwanden.
An ihrer Stelle blieb nur die kleine runde Öffnung in der Türmitte übrig, durch die man ein lebloses, graues, von einem gleichmäßigen, unbeweglichen Licht erhelltes Stück Wand sah. Mischa blickte mit schmerzlich gerunzelter Stirn zu ihm hin und wiederholte leise die Verse:
»Und der Mann fand nirgends Zuflucht,
Nirgends ein Asyl für sich . . .«
Vor dem Fenster zitterte und wand sich kaum hörbar das Lied dahin, als irre es durch die Dunkelheit. Als könne der, der es angefangen hatte, nicht mehr aufhören, als habe er sich willenlos in seine Gewalt begeben und verströme in dieser monotonen Klage sein Herz.
Und schließlich traf ein unerklärliches, abgehacktes Klopfen Mischas Ohr . . ., es war, als gingen irgendwo ein paar Regentropfen nieder.
Malinin stieg rasch auf das Fensterbrett, drückte den Kopf an das eiserne Gitter, klopfte leise an die Wand und überlegte, von tiefer Unruhe erfüllt.
Draußen schmiegte sich tiefe nächtliche Finsternis an die Fensterscheiben und starrte schweigend in sein blasses, abgemagertes Gesicht. Vereinzelte trockene Schneeflocken, die sich für einen Augenblick aus dem Dunkel lösten, raschelten traurig über die Scheiben hin und verschwanden, versanken in der Finsternis.
In Mischas Gedächtnis klang deutlich die schüchterne Klage fort: »Herrgott im Himmel! Warum so viel Grausamkeit und Bosheit unter den Menschen? Mein Gott – warum?«
Fröhlich grienend, standen ihm die beiden »Einbrecher« aus Wjasma vor Augen; er erinnerte sich Jakow Ussows, der so fest von seinem Recht zu töten überzeugt war.
Und irgendwoher tauchten – gleich Lichtern in nächtlicher Finsternis – einsam und unerschrocken strenge, willensstarke Männer auf. Sie schritten an der Gefängnismauer auf und ab, »waren dagegen« und hingen, ohne sich stören zu lassen, ihrem großen, das ganze Leben umfassenden Gedanken nach.
Mischa sprang schwerfällig vom Fensterbrett und lief in der Zelle hin und her.
Hinter der Tür schwebte in der unbeweglichen Stille des Ganges langsam ein seltsamer Laut, der an das Sieden von Wasser erinnerte. Mischa blieb stehen und lauschte . . . In der Zelle gegenüber phantasierte jemand, jemand murmelte, sich überstürzend, hastig undeutliche Worte, und auch in diesen Worten klang eine Klage. Am Ende des Ganges unterhielten sich leise die Aufseher.
»Das war alles!« hörte Mischa einen nachdenklichen Ausruf Ofizerows.
Wieder vernahm er in seiner Zelle ein sonderbares Klopfen: einige rasche, durch ungleichmäßige Pausen getrennte Anschläge. Mischa sah sich mißmutig um; über den Fußboden huschte geräuschlos eine Maus – als rolle ein kleiner Wollknäuel über ihn hin – und verschwand unter der Pritsche. Und beharrlich erklang ein weiteres Mal das nervöse Klopfen. Mischa erriet, worum es sich handelte, zuckte zusammen, drückte aus irgendeinem Grunde die Hand fest an die Wand und fuhr auf dem rauhen Putz hin und her, als versuche er, das Klopfen anzufangen.
Ihm schien, die Zeichen entstünden an einer bestimmten Stelle; er kniete nieder, machte aus irgendeinem Grunde ein finsteres Gesicht, hob die Hand und . . . ließ sie ärgerlich sinken, hob sie erneut und trommelte sinnlos mit den Fingernägeln an die Wand. Dann horchte er; alles blieb still.
Er sprang auf, stürzte zur Tür, rief, die Lippen am Guckloch, erregt flehend, aber mit leiser Stimme: »Ofizerow! Aufseher!«
Und als Ofizerow an der Tür erschien, flüsterte ihm Mischa hastig und nervös zu: »Hören Sie, mein Lieber! Er klopft . . .«
»Der Nachbar?«
»Sagen Sie ihm . . ., flüstern Sie ihm zu – ich verstehe das nicht!«
»Ich fürchte mich . . .«
»Schon gut! Wir werden vorsichtig sein . . .«
»Wenn man davon erfährt, werden sie mich . . .«
»Nicht doch! Sagen Sie ihm, er soll mir das Alphabet . . ., ich kenne es nicht . . .«
Ofizerow fuhr von der Tür zurück, und aus dem Gang drang sein ergebenes Flüstern: »Also gut . . ., ich sage es ihm!«
Und er ging. Dann erschien er wieder, seine traurigen Augen blitzten, und er flüsterte: »Passen Sie auf . . .«
Mischa stürzte, ohne ein Wort zu erwidern, zur Wand, blieb mit angespannter Aufmerksamkeit vor ihr stehen und erstarrte, lächelnd, ganz erfaßt von dem zitternden Wunsch zu sprechen, sich mitteilen zu lernen!
Er verharrte, den Mund ein wenig geöffnet, vor der schweren grauen Fläche und blickte, bereit, sich vor ihr zu verneigen, mit gierig funkelnden Augen zu ihr hin.
Aus der Wand kamen, deutlich voneinander getrennt, leise, aber sichere Klopfzeichen auf ihn zu, eigensinnige, trockene Laute in Stein, und die Finger von Mischas rechter Hand zuckten unwillkürlich und wiederholten sie gehorsam.
Einige Tage danach stand Mischa, in eine Decke gehüllt, auf dem Fensterbrett, mit der Schulter an den Fensterpfosten gelehnt, und betrachtete mit gerunzelten Brauen die launenhaften Gebilde der Eisblumen an den Scheiben.
Hinter der Gefängnismauer ging am kalten Winterhimmel unsichtbar die Sonne auf; die grauen, trübseligen Wolken wurden heller und durchsichtiger. Es hatte geschneit; der Schnee lag als dünne Schicht auf der Erde, und der dunkle, gefrorene Schlamm durchbrach sein Weiß und starrte finster zum Himmel.
Mischa, der vor Kälte erschauerte, rief sich die trockenen, deutlichen Laute in Erinnerung, die ihm in dieser Nacht die alte, von Rissen durchzogene Wand seiner Zelle vermittelt hatte, und formte sie in Worte und Gedanken um.
Das Leben ist hart und erbarmungslos. Das Leben ist das Ringen der Geknechteten um ihre Freiheit und der Herren um ihre Macht, und es kann nicht weich und ruhig, nicht gut und schön sein, solange es Herren und Knechte gibt!
Was mag er für eine Stimme haben? dachte Mischa von seinem Nachbarn. Er entsann sich seiner mageren, schmalen Gestalt und entschied, seine Stimme müsse hoch, scharf und unangenehm sein, völlig bar jeder klangvollen Brusttöne, die in den Stimmen der Gutmütigen, der Weichherzigen schwingen. Und Mischa schielte nicht eben freundlich zu der Wand hinüber, hinter der dieser Mann, der an eine hell brennende Kerze in einer schmutzigen Laterne erinnerte, vermutlich schon schlief.
Im Gedächtnis des Studenten tauchten beständig die gleichmäßigen, strengen Reihen seiner unerschrockenen festen, eiskalten Worte auf, die sich zu kraftvollen Gedanken zusammenfügten.
Das Leben wird weder gerecht noch schön sein, solange seine Herren durch ihre Macht und die Knechte durch ihre Unterwürfigkeit verdorben werden. Das Leben wird voller Schrecken und Grausamkeiten bleiben, bis die Menschen begreifen, daß es gleichermaßen schädlich und schändlich ist, Knecht wie Herr zu sein.
Die Morgenkälte preßte Mischas Körper in ihre rauhe Umarmung. Rasch hintereinander mit seinen von der schlaflosen Nacht geröteten Augen zwinkernd, betrachtete Mischa die Eisblumen am Fenster und blickte sich hin und wieder zur Wand um, mit einem unguten Gefühl, das er nicht bemerken wollte, aber unwillkürlich bemerkte. In diesen wenigen Nächten hatte die Wand neben ihm seine Seele mit einer unübersehbaren Zahl von raschen, nervösen, selbstsicheren Klopfzeichen angefüllt, und jetzt, da er sie in Gedanken umsetzte, fühlte er, wie sich sein Herz mit ebensolchen Eisblumen bedeckte wie die Scheiben des Fensters.
Und zugleich glomm tief in seinem Inneren der wohltuende, erwärmende Gedanke auf: All das ist willkürlich und ungerecht . . . Kann man die Menschen denn in zwei feindliche Lager teilen? Und ich zum Beispiel? Ich bin, im Grunde genommen, doch weder Herr noch Knecht!
Aber kaum war dieser kleine, hinterlistige Gedanke wie ein Funke in seiner Seele aufgeblitzt, mußte er das Feld sogleich den anderen, den großen, harten, unerbittlichen Gedanken räumen. Sie stellten ihm die eiserne Forderung, lange, schwer und unauffällig zu arbeiten, die Forderung nach einer großen, von unerschütterlicher Tapferkeit und ruhiger Abfindung mit der einfachen, bescheidenen Rolle eines Handlangers verbundenen Arbeit, die das Leben durch das Feuer des Verstandes und des Herzens von dem faulen, morschen, häßlichen Plunder der Vorurteile und Voreingenommenheit des Autoritätsglaubens und der Gewöhnung reinigt.
Kann ich das? fragte sich Mischa und zuckte innerlich zusammen.
Und im gleichen Augenblick erkannte er voller Scham, daß er die Frage, von einer unbestimmten Furcht bewegt, mit Vorsatz anders gestellt hatte, als sie gestellt werden mußte.
Da faßte er sie ehrlicher und fragte sich: Will ich das?
Ein kalter, trüber Wintertag brach an. Das Gefängnis erwachte: laut rasselten auf dem Gang die eisernen Schlösser, die verrosteten Türangeln kreischten und klagten, rauh hallten die barschen Zurufe der Aufseher, dazwischen hörte man die bald verschüchterten und dumpfen, bald kühnen und gereizten Stimmen der Häftlinge.
In Mischas Erinnerung stiegen die stolzen Worte des Nachbarn auf, die durch die alten Steine der Gefängniswand den Weg zu ihm gefunden hatten.
Für den, der seinen Verstand aus dem Kerker der Vorurteile befreit hat, gibt es kein Gefängnis, zwingen wir doch die Steine – wie jetzt und hier – zu reden, und die Steine sprechen für uns.
Vor dem Fenster ging an der Gefängnismauer, kräftig die gefrorene Erde stampfend, nachdenklich der Wachtposten auf und ab; auf der Mauer saß eine Krähe; sie folgte ihm, den Kopf zur Seite geneigt, neugierig mit ihren runden schwarzen Augen.
Ende