Maxim Gorki
Die alte Isergil und andere Erzählungen
Maxim Gorki

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Großvater Archip und Ljonka

Die Fähre erwartend, hatten sie sich beide in den Schatten der Uferböschung gelegt und blickten lange schweigend auf die schnellen trüben Wellen des Kubans zu ihren Füßen. Ljonka war eingeschlummert, aber Großvater Archip fühlte einen dumpfen, drückenden Schmerz in der Brust und konnte nicht einschlafen.

Auf dem dunkelbraunen Erdhintergrund hoben sich ihre zusammengekrümmten zerlumpten Gestalten kaum ab – zwei elende Klümpchen, das eine größer, das andre kleiner; und ihre abgespannten, staubigen, sonnengebräunten Gesichter hatten dieselbe Farbe wie die graubraunen Lumpen.

Großvater Archips lange knochige Gestalt streckte sich quer über einen schmalen Sandstreifen, der sich zwischen Abhang und Fluß wie ein gelbes Band am Ufer entlangzog; der eingeschlafene Ljonka lag wie ein Kalatschbrötchen an der Seite des Großvaters. Ljonka war klein und zerbrechlich und sah in seinen Lumpen wie ein gekrümmtes Ästchen aus, abgebrochen vom Großvater – einem alten vertrockneten Baum, den die Wogen des Flusses hergebracht und auf den Sand geworfen hatten.

Der Großvater hatte den Kopf auf den Ellenbogen gestützt und blickte zum gegenüberliegenden sonnenbeschienenen Ufer, das kümmerlich mit Weidengebüsch eingefaßt war; aus dem Gebüsch sah der schwarze Bord der Fähre hervor. Dort war es öde und leer. Ein grauer Wegstreif führte zum Fluß in die Steppe; er war irgendwie schonungslos gerade und nüchtern und stimmte verzagt.

Seine greisenhaft trüben und entzündeten Augen mit den roten geschwollenen Lidern blinzelten unruhig, und sein mit Runzeln übersätes Gesicht war wie erstarrt in einem Ausdruck quälender Schwermut. Ab und zu hustete er unterdrückt und hielt mit einem Blick auf seinen Enkel die Hand vor den Mund. Sein erstickender heiserer Husten zwang ihn, von der Erde aufzustehen, und preßte große Tränentropfen aus seinen Augen.

Außer seinem Husten und dem leisen Plätschern der Wellen auf dem Sande war kein Laut in der Steppe zu hören . . . Sie erstreckte sich zu beiden Seiten des Flusses, riesengroß, braun, von der Sonne ausgedörrt; nur fern am Horizont, den alten Augen kaum sichtbar, wogte üppig ein goldenes Weizenmeer, und mitten hinein fiel der blendende helle Himmel. Drei schlanke Gestalten entfernt stehender Pappeln hoben sich von ihm ab; es sah aus, als würden sie bald größer, bald kleiner und als schwankten der Weizen und der Himmel darüber, sich hebend und senkend. Und plötzlich verschwand alles hinter dem glänzenden Silberschleier einer Luftspiegelung.

Wogend kam dieser lichte trügerische Schleier aus der Ferne manchmal bis dicht an den Fluß und schien dann selbst ein Fluß zu sein, der dem Himmel entströmte, ebenso rein und ruhig wie er.

Da mit dieser Erscheinung nicht bekannt, rieb sich Großvater Archip die Augen und dachte bekümmert, daß diese Hitze und die Steppe ihm nun auch noch das Sehvermögen nähmen, wie sie ihm die letzte Kraft aus den Beinen genommen hatten.

Heute ging es ihm noch schlechter als sonst in der letzten Zeit. Er fühlte, daß er bald sterben werde, und obwohl er sich dazu ganz gleichgültig und gedankenlos verhielt wie zu einer unumgänglichen Notwendigkeit, so wäre er doch gern in der fernen Heimat, nicht hier gestorben, und stärker noch bedrückte ihn der Gedanke an seinen Enkel . . . Was sollte aus Ljonka werden?

Er stellte sich diese Frage mehrmals am Tage, und dann wurde ihm so eng, kalt und übel, daß er am liebsten gleich nach Hause, nach Rußland zurückgekehrt wäre . . .

Aber – es ist weit nach Rußland zu gehen . . . Er würde doch nicht mehr hinkommen, er würde irgendwo unterwegs sterben. Hier am Kuban werden großmütig Almosen gegeben; es ist ein wohlhabendes Volk, wenn auch schwerfällig und spottlustig. Sie mögen Bettler nicht, weil sie reich sind . . .

Er richtete seinen tränenfeuchten Blick auf den Enkel und streichelte ihm vorsichtig den Kopf mit seiner rauhen Hand.

Der begann sich zu regen und richtete seine blauen Augen auf ihn, groß und tief und unkindlich gedankenvoll, und so erschienen sie noch größer in seinem pockennarbigen, mageren Gesichtchen mit den blutlosen dünnen Lippen und der spitzen Nase.

»Kommt sie?« fragte er, schirmte die Augen mit der Hand und blickte auf den Fluß, der die Sonnenstrahlen widerspiegelte.

»Nein, sie kommt noch nicht. Sie steht. Was soll sie hier? Niemand ruft sie, da steht sie eben . . .«, sagte Archip langsam, indem er dem Enkel weiter den Kopf streichelte. »Hast du geschlafen?«

Ljonka machte eine unbestimmte Kopfbewegung und streckte sich auf dem Sand aus. Sie schwiegen.

»Wenn ich schwimmen könnte, würde ich baden«, erklärte Ljonka, unverwandt auf den Fluß blickend. »Wie schnell er ist! Solche Flüsse gibt es bei uns nicht. Weshalb treibt er so schnell? Läuft, als hätte er Angst, zu spät zu kommen . . .«

Und Ljonka wandte sich unzufrieden vom Wasser ab.

»Weißt du was«, sagte der Großvater nach einigem Nachdenken, »wir wollen unsre Gurte abnehmen und zusammenbinden, ich mach sie dir am Bein fest, und du kannst ins Wasser steigen und baden . . .«

»Nu-u!« sagte Ljonka besonnen. »Was du dir ausgedacht hast! Denkst du denn, er zieht dich nicht hinein? Dann ertrinken wir beide.«

»Das ist wohl wahr; er könnte mich hineinziehen. Sieh, wie schnell er treibt! . . . Wahrscheinlich überschwemmt er alles im Frühling – o du! . . . Und Wiesen gibt es hier – ein Elend! Wiesen ohne Ende!«

Ljonka hatte keine Lust zu sprechen und ließ die Worte des Großvaters ohne Antwort; er nahm ein Klümpchen trockenen Lehm in die Hand und zerrieb es langsam mit ernstem, nachdenklichem Gesicht zwischen den Fingern zu Staub.

Der Großvater sah ihn an und dachte mit zusammengekniffenen Augen über etwas nach.

»Sieh mal . . .«, begann Ljonka leise und eintönig, indem er den Staub von den Händen klopfte. »Diese Erde hier . . ., ich hab sie in die Hand genommen und zerrieben, und es ist Staub geworden . . ., winzige Stückchen, kaum zu sehen . . .«

»Nun, was meinst du damit?« fragte Archip, fing an zu husten und sah durch die aufsteigenden Tränen in die trocken glänzenden großen Augen des Enkels. »Warum sagst du das?« fügte er hinzu, als er ausgehustet hatte.

»Nur so . . .« Ljonka wiegte den Kopf. »Weil sie überhaupt so ist!« Er winkte mit der Hand über den Fluß hin. »Und alles ist auf ihr erbaut . . . Durch wieviel Städte sind wir gekommen! Schrecklich! Und wieviel Leute überall!«

Ljonka verstand seinen Gedanken nicht auszusprechen, er blickte um sich und fiel wieder in schweigendes Sinnen.

Der Großvater schwieg auch ein Weilchen, dann sagte er freundlich, indem er dicht an den Enkel heranrückte: »Du bist mein kluger Junge! Ganz richtig hast du das gesagt – Staub ist alles . . . Städte und Leute und wir beide – nichts als Staub. Ach, Ljonka, Ljonka! Wenn du lesen und schreiben lernen könntest! Du würdest es weit bringen . . . Was wird nur aus dir werden?«

Der Großvater drückte den Kopf des Enkels an sich und küßte ihn.

»Warte . . .!« rief Ljonka ein wenig lebhafter aus, indem er seine Flachshaare aus den zitternden runzligen Fingern des Großvaters befreite. »Was sagst du? Staub? Städte und alles?«

»Das hat Gott so eingerichtet, Täubchen. Alles ist Erde, und die Erde selbst – Staub. Und alles auf Erden muß sterben . . . Siehst du! Und deshalb soll der Mensch in Arbeit und in Demut leben. Und ich sterbe auch bald . . .«, sprang der Großvater zu etwas anderem über und fügte bekümmert hinzu: »Wo wirst du dann ohne mich hingehen?«

Diese Frage hatte Ljonka oft vom Großvater gehört, und er hatte es satt, das Thema vom Tode zu erörtern, deshalb wandte er sich schweigend zur Seite, riß ein Hälmchen ab, steckte es in den Mund und fing langsam an zu kauen.

Aber dies war des Großvaters wunder Punkt.

»Was schweigst du denn? Was, sag ich, soll aus dir ohne mich werden?« fragte er leise, indem er sich zu dem Enkel niederbeugte und wieder hustete.

»Ich hab's ja schon gesagt . . .«, erwiderte Ljonka unwillig und zerstreut, dem Großvater einen Seitenblick zuwerfend.

Diese Gespräche gefielen ihm auch deshalb nicht, weil sie oft mit einem Streit endeten. Der Großvater pflegte sich des längeren über die Nähe seines Todes auszulassen. Ljonka hatte zuerst aufmerksam zugehört, die Vorstellungen einer ihm neuen Lage hatten ihn erschreckt, und er weinte dann, aber allmählich ermüdete es ihn: er hörte dem Großvater nicht mehr zu und überließ sich seinen Gedanken; und der Großvater, der das bemerkte, wurde ärgerlich und beklagte sich, daß Ljonka den Großvater nicht liebe, seine Fürsorge nicht schätze, und kam schließlich dahin, Ljonka vorzuwerfen, er wünsche des Großvaters baldigen Tod.

»Was habe ich denn gesagt? Du bist noch dumm und verstehst nichts vom Leben. Wie alt bist du denn? Erst elf Jahre. Und schwächlich bist du, du taugst nicht zur Arbeit. Wo wirst du hingehen? Du denkst, gute Leute werden dir helfen? Wenn du Geld hättest, dann würden sie dir helfen, es durchzubringen – so ist es. Und Almosen zu sammeln ist auch für mich Alten nicht süß. Vor jedem verbeuge dich, jeden bitte. Du wirst beschimpft, geschlagen, fortgejagt . . . Denkst du denn, sie halten einen Bettler für einen Menschen? Keiner. Zehn Jahre geh ich so durch die Welt – ich weiß es. Ein Stück Brot halten sie tausend Rubel wert. Geben sie es, gleich denken sie, daß sich ihnen die Paradiestür auftut. Du fragst, weshalb sie überhaupt geben? Um ihr Gewissen zu beruhigen; deshalb, Freund, und nicht aus Mitleid! Steckt er dir ein Stück zu, dann braucht er sich doch nicht zu schämen, selbst zu essen. Der satte Mensch ist – ein wildes Tier. Und er wird nie den Hungrigen bedauern. Sie sind Feinde – der Satte und der Hungrige; ewig werden sie einander ein Dorn im Auge sein, weil es ihnen unmöglich ist, einander zu verstehen und zu bedauern . . .«

Zorn und Kummer hatten den Großvater aufgemuntert. Seine Lippen zitterten, die trüben Greisenaugen flogen schnell hin und her in der roten Umrahmung der Lider und Wimpern, und schärfer traten die Runzeln aus dem dunklen Gesicht hervor.

Ljonka mochte ihn so nicht und hatte ein wenig Angst vor irgend etwas.

»Darum eben frage ich dich, wie wirst du mit der Welt fertig werden? Du – ein schwaches Kind, und die Welt – ein wildes Tier. Es verschlingt dich mit einem Male. Und das will ich nicht . . . Ich habe dich doch lieb, Kindchen! . . . Ich habe nur dich, und du nur mich . . . Wie soll ich denn sterben? Ich kann nicht sterben und dich allein lassen . . . Bei wem? . . . Herrgott, warum hast du deinen Knecht nicht lieb? Ich kann nicht leben, und sterben darf ich nicht, weil ich – das Kind . . . behüten muß. Sieben Jahre hab ich's gehalten . . . mit meinen alten Händen . . . Hilf mir, mein Gott!«

Der Großvater setzte sich und fing an zu weinen, indem er den Kopf zwischen die zitternden Knie steckte.

Der Fluß rollte eilfertig in die Ferne und plätscherte laut am Ufer, als wolle er mit diesem Geplätscher das Schluchzen des Alten übertönen. Hell lachte der wolkenlose Himmel, sengende Glut ausströmend, und lauschte ruhig dem rastlosen Rauschen der trüben Wellen . . .

»Hör auf, Großvater, weine nicht!« sagte Ljonka rauh, zur Seite blickend, dann wandte er sich zum Großvater um und fügte hinzu: »Wir haben ja schon über alles gesprochen. Ich werde nicht umkommen. Ich geh in Dienst in ein Gasthaus, ganz gleich, wo . . .«

»Sie werden dich schlagen . . .«, stöhnte der Großvater unter Tränen.

»Vielleicht auch nicht. Und wenn sie mich nicht schlagen«, rief Ljonka herausfordernd, »was dann? Ich werde mich nicht von jedem schlagen lassen . . .

Aber da brach Ljonka plötzlich aus irgendeinem Grunde ab und verstummte. Dann sagte er leise: »Oder ich geh ins Kloster . . .«

»Wenn du ins Kloster gingst!« seufzte der Großvater auf, lebhafter geworden, und krümmte sich wieder in einem erstickenden Hustenanfall.

Über ihren Köpfen erschallte ein Ruf und Räderknarren . . .

»Fäh-ähre! Heda! Fähre!« erschütterte eine mächtige Stimme die Luft.

Sie sprangen auf die Füße und ergriffen ihre Stöcke und Quersäcke.

Mit durchdringendem Knarren kam eine Arba über den Sand gefahren. Ein Kosak stand darin, den Kopf mit der auf ein Ohr geschobenen zottigen Mütze zurückgeworfen, machte er sich zu einem lauten Schrei bereit, die Luft durch den weitgeöffneten Mund einziehend, wobei seine breite gewölbte Brust sich noch mehr vorwölbte. Hell blitzten seine weißen Zähne aus dem seidigen schwarzen Bart, der bei den Augen begann, die blutunterlaufen waren. Unter dem aufgeknöpften Hemd und der nachlässig über die Schultern geworfenen Jacke sah man seinen sonnverbrannten behaarten Körper. Seine große, derbe Gestalt wie auch das muskulöse, unförmig große, scheckige Pferd und die hohen Räder der Arba mit den dicken Reifen atmeten Sattheit, Gesundheit und Kraft.

»Heda! . . . Heda!«

Großvater und Enkel zogen die Mütze und verbeugten sich tief.

»Guten Tag!« sagte der Ankömmling laut und sah, nachdem er zum jenseitigen Ufer hinübergeblickt hatte, wo die schwarze Fähre langsam und plump aus dem Gebüsch hervorkroch, die Bettler unverwandt an. »Aus Rußland?«

»Daher, Wohltäter!« antwortete Archip mit einer Verbeugung.

»Hungersnot habt ihr bei euch, wie?« Er sprang von der Arba und machte sich am Geschirr zu schaffen.

»Selbst die Schaben sterben vor Hunger.«

»Hoho! Selbst die Schaben sterben? Das heißt, nichts ist mehr da, alles ist verzehrt? Ihr könnt tüchtig essen. Aber wahrscheinlich arbeitet ihr schlecht. Denn wenn man gut arbeitet, gibt's keine Hungersnot.«

»Wohltäter, die Hauptursache ist – die Erde. Sie gibt nichts mehr her. Wir haben die Erde ausgesogen.«

»Die Erde?« schüttelte der Kosak den Kopf. »Die Erde gibt immer, dazu ist sie dem Menschen ja gegeben. Ich sage: nicht die Erde, sondern die Hände. Die Hände taugen nichts. Tüchtigen Händen schlägt sogar der Stein nichts ab und gibt etwas her.«

Die Fähre kam heran.

Zwei kräftige Kosaken mit roten Gesichtern treckten sie, daß sie krachend ans Ufer stieß, wobei sie sich mit den dicken Beinen gegen den Fährboden stemmten; sie schwankten, warfen das Seil aus und sahen einander keuchend an.

»Heiß?« fletschte der Ankömmling die Zähne, indem er sein Pferd auf die Fähre führte und mit der Hand an seine Mütze faßte.

»E-he!« antwortete der eine der Fährleute und ging, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, an die Arba heran, sah hinein und schnupperte, indem er tief die Luft einzog.

Der andere setzte sich auf den Boden und zog ächzend einen Stiefel aus.

Der Großvater und Ljonka gingen auf die Fähre, lehnten sich an die Bordwand und sahen den Kosaken zu.

»Nun, fahren wir!« kommandierte der Besitzer der Arba.

»Und du nimmst dir nichts zu trinken mit?« fragte ihn der Fährmann, welcher die Arba besichtigt hatte. Der andere hatte seinen Stiefel ausgezogen und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Stiefelschaft.

»Ach wo. Was denn? Ist im Kuban nicht Wasser genug?«

»Wasser! . . . Ich spreche nicht von Wasser.«

»Branntwein? Branntwein nehme ich nicht mit.«

»Warum denn nicht?« sagte der Frager nachdenklich, die Augen auf den Fährboden gerichtet.

»Nun, nun, fahren wir!«

Der Kosak spie in die Hände und ergriff das Seil. Der Fahrgast half ihm.

»Großvater, warum hilfst du denn nicht?« wandte sich der Fährmann, der sich mit seinem Stiefel zu schaffen machte, an Archip.

»Wie kann ich, mein Lieber!« sagte dieser in kläglichem Ton und schüttelte den Kopf.

»Ist auch nicht nötig, ihnen zu helfen. Sie werden allein damit fertig!«

Und als wolle er den Großvater von der Wahrheit seiner Worte überzeugen, ließ er sich schwer auf die Knie nieder und legte sich auf das Verdeck.

Sein Gefährte schimpfte träge auf ihn, und da er keine Antwort bekam, stampfte er laut mit den Füßen auf, während er sich gegen das Deck stemmte.

Von der Strömung zurückgeworfen, die dumpf an ihre Seiten plätscherte, erbebte und schaukelte die Fähre; dann bewegte sie sich langsam vorwärts.

Während Ljonka auf das Wasser blickte, überkam ihn ein süßer Schwindel, und die Augen fielen ihm schläfrig zu, ermüdet von den raschen Wellen. Großvaters dumpfes Geflüster, das Knarren des Seils und das kräftige Plätschern schläferten ihn noch mehr ein; er wollte sich in Schlummermattigkeit auf dem Deck niederlassen, doch plötzlich wurde er derart geschaukelt, daß er hinfiel. Weit öffnete er die Augen und sah sich um. Die Kosaken lachten ihn aus, während sie die Fähre an einem angekohlten Baumstumpf am Ufer befestigten.

»Was, bist du eingeschlafen? Du bist schwächlich. Setz dich auf die Arba, ich nehme dich bis zum Dorf mit. Und du, Großvater, steig auch auf.«

Nachdem er dem Kosaken mit eintöniger, näselnder Stimme gedankt, kletterte der Alte ächzend auf die Arba. Ljonka sprang auch hinauf, und sie fuhren durch Wolken feinen schwarzen Staubes, so daß der Großvater vor beständigem Husten keine Luft bekam.

Der Kosak stimmte ein Lied an. Er sang eigenartig: mittendrin brach er ab und pfiff weiter. Es war, als wickle er die Töne wie Fäden von einem Knäuel ab und risse sie entzwei, wenn er einen Knoten fand.

Kläglich knirschten die Räder, Staub wirbelte auf. Der Großvater, dem der Kopf zitterte, hustete ohne Unterlaß, und Ljonka dachte daran, daß sie bald im Dorf sein und dann mit näselnder Stimme unter den Fenstern singen würden: »Herrgott, Jesus Christus« . . . Wieder werden ihn die Kosakenjungen necken und die Weiber mit Fragen über Rußland langweilen. Und es ist nicht schön, den Großvater anzusehen, der dann noch öfter hustet und sich noch tiefer krümmt, so daß es ihm selbst unbequem ist und weh tut; und dann spricht er mit so kläglicher Stimme, wobei er in einem fort schluchzt und erzählt, was nie gewesen ist . . . Er sagt, daß die Leute in Rußland auf der Straße sterben und hinfallen und keiner da sei, sie fortzuschaffen, weil alle Leute vor Hunger den Verstand verloren hätten. Nie haben sie beide derartiges gesehen. Und alles geschieht nur, damit mehr gegeben wird. Aber wo soll man hier mit den Almosen hin? Zu Hause – da kann man sie immer für vierzig Kopeken oder sogar für einen halben Rubel das Pud verkaufen, doch hier kauft niemand. Dann müssen diese oft sehr wohlschmeckenden Sachen aus dem Sack in die Steppe geworfen werden.

»Geht ihr betteln?« fragte der Kosak und sah sich nach den beiden zusammengekauerten Gestalten um.

»Gewiß doch, Ehrenwerter!« antwortete ihm Großvater Archip mit einem Seufzer.

»Steh auf, Großvater, ich zeig dir, wo ich wohne – ihr könnt bei mir übernachten.«

Der Großvater versuchte aufzustehen, aber er fiel wieder hin, wobei er sich die Seite an der Wagenwand stieß, und stöhnte dumpf.

»Ach, du Alter . . .!« knurrte der Kosak mitleidig. »Nun, dann guck nicht; wenn es Zeit ist, ins Nachtquartier zu gehen, frage nach Tschjornyj, Andrej Tschjornyj, das bin ich. Jetzt steig ab. Lebt wohl!«

Großvater und Enkel befanden sich vor einer Gruppe Pappeln. Durch ihre Stämme waren Dächer und Zäune zu sehen, und rechts und links erhoben sich überall ebensolche Grüppchen gen Himmel. Ihr grünes Laub war mit grauem Staub bedeckt und die Rinde der dicken geraden Stämme vor Hitze geborsten.

Die Bettler standen vor einer engen Gasse, die zwischen zwei Bretterzäunen geradeaus führte, und sie gingen die Gasse entlang mit dem lässigen Schritt von Leuten, die viel zu Fuß gehen.

»Nun, Ljonka, wie gehen wir – zusammen oder einzeln?« fragte der Großvater und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Zusammen ist besser – dir geben sie zu wenig. Du verstehst nicht zu bitten . . .«

»Aber wozu brauchen wir denn viel? Wir können es ja doch nicht aufessen . . .«, antwortete Ljonka verdrießlich und blickte sich um.

»Wozu? Du bist wunderlich! . . . Und mit einem Male ist ein Mensch da und kauft? Da hast du's – wozu! . . . Es gibt Geld dafür. Und Geld ist etwas Großes; mit Geld brauchst du nicht zu befürchten, zugrunde zu gehen, wenn ich sterbe.«

Und freundlich lächelnd strich der Großvater dem Enkel mit der Hand über den Kopf.

»Weißt du, wieviel ich schon zusammengespart habe? He?«

»Wieviel denn?« fragte Ljonka gleichgültig.

»Elf und einen halben! . . . Siehst du?«

Aber auf Ljonka machte diese Summe und der frohlockende Ton des Großvaters keinen Eindruck.

»Ach du, mein Kleiner, mein Kleiner!« seufzte der Großvater. »Wir gehen also einzeln?«

»Ja . . .«

»Nun . . . Komm dann an die Kirche, da werde ich sein.«

»Gut.«

Der Großvater bog links ein, und Ljonka ging weiter. Nach zehn Schritten hörte er den wimmernden Ruf: »Wohltäter und Ernährer!« . . . Dieser Ruf klang, als ob man mit der Handfläche über eine verstimmte Gusli von der tiefsten zur höchsten Saite striche. Ljonka erbebte und ging schneller. Immer wenn er das Bitten des Alten hörte, stimmte es ihn unbehaglich und traurig, und wurde er abgewiesen, hatte er sogar Angst, daß der Großvater gleich losweinen werde.

Immer noch drangen die zitternden, kläglichen Töne der großväterlichen Stimme an sein Ohr, die über das schläfrige, schwüle Dorf hin irrten. Ringsum war alles still wie in der Nacht. Ljonka setzte sich in den Schatten eines Kirschbaums, dessen Zweige über einen geflochtenen Zaun auf die Straße herabhingen. Irgendwo summte eine Biene . . .

Ljonka warf den Sack von der Schulter und legte sich mit dem Kopf darauf, blickte eine Weile durch die Zweige über sich zum Himmel auf und schlief fest ein, vor den Blicken der Vorübergehenden durch dichtes Steppengras und den gitterartigen Schatten des Zaunes verborgen.

Er wachte auf, von sonderbaren Lauten geweckt, die in der durch den nahenden Abend frischer gewordenen Luft zitterten. Unweit von ihm weinte jemand. Es war ein kindliches Weinen – heftig und gar nicht zu beschwichtigen. Das Schluchzen erstarb in einem dünnen Mollton und setzte, immer näher kommend, plötzlich wieder mit neuer Stärke ein. Er hob den Kopf und blickte durch das Gras auf den Weg.

Ein hübsches kleines Mädchen von sieben Jahren kam gegangen, reinlich gekleidet, mit rotem verweintem Gesicht, das es in einem fort mit dem Saum seines weißen Kattunrockes abtrocknete. Es ging langsam, mit nackten Füßen scharrend, wodurch sich dicker Staub erhob, ohne offenbar zu wissen, wohin es ging und weshalb. Die Kleine hatte große schwarze Augen, die jetzt gekränkt, traurig und tränenfeucht dreinblickten, und kleine zarte rosige Ohren, die mutwillig aus den kastanienbraunen Haarsträhnen hervorsahen, welche ihr zerzaust über Stirn, Wangen und Schultern fielen.

Sie erschien Ljonka sehr komisch trotz ihrer Tränen – komisch und lustig . . ., und dreist war sie gewiß auch . . .

Als sie neben ihm war, stand er auf.

»Warum weinst du?«

Sie fuhr zusammen, blieb stehen und hörte sofort zu weinen auf, aber noch immer leise schluchzend. Als sie ihn einige Sekunden betrachtet hatte, zuckten ihre Lippen wieder, ihr Gesicht verzog sich komisch, die Brust hob und senkte sich, und laut schluchzend ging sie weiter.

Ljonka fühlte, daß sich etwas in ihm zusammenpreßte, und plötzlich ging er ihr nach.

»Weine doch nicht! Bist doch schon groß . . ., schäm dich . . .!« begann er, als er noch nicht neben ihr war, und als er sie eingeholt hatte, sah er ihr ins Gesicht und fragte noch einmal: »Nun, warum weinst du denn so?«

»Ja-ja . . .!« sagte sie gedehnt, »wenn dir . . .«, und plötzlich ließ sie sich auf dem Wege in den Staub nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte verzweifelt los.

»Na!« Ljonka winkte geringschätzig mit der Hand ab. »Ein Weib! . . . Ein richtiges Weib. Pfui doch! . . .«

Aber das half weder ihr noch ihm. Als Ljonka sah, wie ein Tränchen nach dem andern durch ihre schmalen rosigen Finger rann, wurde er auch traurig und hätte am liebsten geweint. Er beugte sich über sie, hob vorsichtig die Hand und berührte ganz leise ihr Haar; doch erschrocken über seine Kühnheit zog er die Hand gleich wieder zurück. Aber sie weinte ununterbrochen und sagte nichts.

»Hör doch . . .«, begann Ljonka nach einer Pause wieder, da er das dringende Bedürfnis fühlte, ihr zu helfen. »Warum weinst du denn so? Hast du vielleicht Schläge bekommen? . . . Das geht doch vorüber! Oder ist es etwas anderes? Sag doch, Mädchen . . ., wie?«

Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, und endlich antwortete sie langsam unter Schluchzen mit zuckenden Schultern: »Ein Tuch . . . hab ich verloren! . . . Väterchen hat's vom Markt mitgebracht . . ., ein blaues, mit Blümchen, ich hab's umgebunden . . . und verloren.« Und sie weinte wieder heftiger und lauter, wobei sie schluchzend und stöhnend ein sonderbares »Oh, oh, oh!« ausstieß.

Ljonka fühlte sich ohnmächtig, ihr zu helfen, und blickte, schüchtern von ihr abrückend, traurig und nachdenklich in den dunkler werdenden Himmel. Ihm war schwer ums Herz, und das Mädchen tat ihm sehr leid.

»Weine nicht! . . . Vielleicht findet es sich noch . . .«, flüsterte er, aber da er merkte, daß sie seine Beschwichtigungen nicht anhörte, rückte er noch weiter von ihr ab und dachte, sicher werde sie zu Hause vom Vater für den Verlust Schläge bekommen. Und gleich stellte er sich vor, wie der Vater, ein großer schwarzer Kosak, sie schlägt und wie sie tränenreich am ganzen Leibe vor Furcht und Schmerz zitternd ihm zu Füßen stürzt . . .

Er stand auf und ging fort; aber nach fünf Schritten machte er kurz kehrt, blieb an den Zaun gedrückt vor ihr stehen, bemüht, sich etwas besonders Liebes und Gutes einfallen zu lassen . . .

»Geh doch vom Wege, Mädchen! Und hör schon auf zu weinen! Geh nach Hause und sage alles, wie es kam. Sag, du hast es verloren! . . . Was ist denn dabei?«

Er hatte leise und mitleidig zu sprechen begonnen, und als er mit dem aufwieglerischen Ausruf geendet hatte, freute er sich zu sehen, daß sie von der Erde aufstand.

»Das ist schön!« fuhr er ermunternd lächelnd fort. »Nun geh auch. Wenn du willst, komm ich mit und erzähle alles. Ich steh dir bei, hab keine Angst!«

Und Ljonka blickte um sich und bewegte stolz die Schultern.

»Du brauchst nicht . . .«, flüsterte sie, indem sie langsam und immer noch schluchzend den Staub vom Kleid schüttelte.

»Sonst . . . komm ich mit!« erklärte Ljonka laut voller Bereitwilligkeit und schob die Mütze aufs Ohr.

Er stand breitbeinig vor ihr, und die Lumpen, die er anhatte, sträubten sich mutig. Er stieß den Stock fest auf die Erde und sah sie unverwandt an, und seine großen traurigen Augen leuchteten stolz und kühn.

Das Mädchen sah ihn von der Seite an, während es die Tränen über sein Gesicht wischte, und sagte wieder seufzend: »Du brauchst nicht . . . mitzukommen . . . Mama mag keine Bettler.«

Und sie ging und sah sich noch zweimal um.

Ljonka wurde traurig. Unmerklich, mit langsamen Bewegungen änderte er seine entschlossene, herausfordernde Haltung, krümmte sich wieder und beruhigte sich, und während er seinen Sack, der bis dahin am Arm hing, über den Rücken warf, rief er dem Mädchen noch nach, als sie schon um die Ecke bog: »Leb wohl!«

Sie wandte sich im Gehen nach ihm um und verschwand.

Der Abend kam, und in der Luft lag jene besondere erstickende Schwüle, die ein Gewitter verkündet. Die Sonne stand schon tief, und die Wipfel der Pappeln schimmerten rot. Durch die Abendschatten, die ihre Zweige umhüllten, sahen die Hohen, Regungslosen noch dichter und höher aus . . . Der Himmel über ihnen wurde auch dunkler, samtartig, und schien sich tiefer auf die Erde zu senken. Irgendwo weit weg sprachen Leute, und noch weiter, aber an der andern Seite, wurde gesungen. Und auch diese leisen, tiefen Laute waren wie von Schwüle durchtränkt.

Ljonka wurde noch trauriger, und eine unbestimmte Angst ergriff ihn. Er wollte zum Großvater, er sah sich um und ging schnell die Gasse entlang. Er hatte keine Lust, um Almosen zu bitten. Er ging und fühlte, daß sein Herz in der Brust so schnell klopfte, so schnell, und er wollte gar nicht gehen und denken . . . Aber das Mädchen kam ihm nicht aus dem Sinn, und er mußte daran denken, was sie jetzt wohl mache. Wenn sie aus reichem Hause war, würde sie Schläge bekommen; alle Reichen waren Geizhälse; war sie aber arm, dann vielleicht nicht . . . In armen Häusern wurden die Kinder mehr geliebt, weil von ihnen Arbeit erwartet wurde. Zudringlich regte sich ein Gedanke nach dem andern in seinem Kopf, und das quälende und beklemmende Gefühl der Trauer, das wie ein Schatten alle seine Gedanken begleitete, wurde schwerer und beherrschte ihn immer mehr.

Die Abendschatten wurden dichter und bedrückender. Kosaken, Männer und Frauen, kamen Ljonka entgegen und gingen vorüber, ohne ihn zu beachten, sie waren an den Andrang von Hungerleidenden aus Rußland gewöhnt. Auch er streifte ihre satten großen Gestalten träge mit verdunkeltem Blick und ging schnell auf die Kirche zu, deren Kreuz zwischen den Bäumen vor ihm erglänzte.

Der Lärm einer heimkehrenden Herde drang ihm entgegen. Und da ist die Kirche, niedrig und breit, mit fünf Türmen, blau angestrichen, von Pappeln umstanden, deren Wipfel die Kreuze überragen, die in der untergehenden Sonne rötlichgolden durch das Grün leuchten.

Und dort geht der Großvater, unter der Bürde des Sackes gebeugt, zu den Treppenstufen und sieht sich nach allen Seiten um, die Hand an die Stirn gelegt.

Hinter dem Großvater schreitet mit wuchtigem Gang ein Dorfbewohner, die Mütze tief in die Stirn gerückt und einen Stock in der Hand.

»Was, dein Sack ist leer?« fragte der Großvater und trat auf den Enkel zu, der ihn an der Kirchenmauer erwartete. »Sieh, wieviel ich habe!« Und er warf ächzend seinen vollgepfropften Leinensack von der Schulter zu Boden. »Ach! . . . Hier wird reichlich gegeben! Reichlich! . . . Nun, warum bist du denn so mürrisch?«

»Mir tut der Kopf weh . . .«, sagte Ljonka leise und ließ sich neben dem Großvater auf die Erde nieder.

»Na? . . . Du bist müde . . . Erschöpft! . . . Wir gehen gleich ins Nachtquartier. Wie hieß doch der Kosak? He?«

»Andrej Tschjornyj.«

»Wir fragen also: Wo wohnt hier Andrej Tschjornyj? Da kommt ein Mann auf uns zu . . . Gute Leute sind das, und satt sind sie! Und essen nur Weizenbrot. Guten Tag, lieber Mann!«

Der Kosak kam dicht an ihn heran und antwortete auf den Gruß des Alten langsam: »Auch Euch guten Tag!«

Dann stellte er sich breitbeinig hin, richtete die ausdruckslosen großen Augen auf die Bettler und kratzte sich schweigend.

Ljonka sah ihn forschend an, der Großvater blinzelte fragend mit seinen alten Augen, der Kosak schwieg weiter und versuchte das Ende seines Schnurrbarts mit der halb ausgestreckten Zunge zu erhaschen. Nachdem diese Operation glücklich ausgeführt war, zog er den Schnurrbart in den Mund, kaute darauf, stieß ihn dann wieder mit der Zunge heraus und unterbrach endlich das Schweigen, das schon drückend wurde, indem er nachlässig sagte: »Nun . . ., kommt mit in die Kanzlei.«

»Weshalb?« fuhr der Großvater auf.

Ljonka erbebte innerlich.

»Es muß sein . . . Es ist befohlen. Los!«

Er wandte sich ab und wollte schon gehen, blickte aber noch einmal zurück, und da er sah, daß sich beide nicht von der Stelle rührten, rief er wieder und nun schon ärgerlich: »Was denn noch?!«

Da gingen sie schnell hinter ihm her.

Ljonka blickte hartnäckig den Großvater an, und da er merkte, wie sein Kopf und seine Lippen zitterten und er, sich ängstlich umsehend, unter seinem Hemd herumsuchte, begann er zu ahnen, daß der Großvater wieder etwas angestellt hatte wie damals in Taman. Ihm wurde angst und bange, wenn er daran zurückdachte. Dort hatte der Großvater Wäsche vom Hof gestohlen, und sie wurden beide ergriffen. Sie wurden verspottet, beschimpft, sogar geschlagen und schließlich mitten in der Nacht aus dem Dorf gejagt. Er hatte mit dem Großvater irgendwo am Ufer der Meerenge im Sande genächtigt, und das Meer hatte die ganze Nacht drohend gerauscht . . ., der Sand hatte geknirscht, von den auflaufenden Wellen geschoben . . . Und der Großvater hatte die ganze Nacht gestöhnt und flüsternd zu Gott gebetet, wobei er sich einen Dieb nannte und um Verzeihung flehte.

»Ljonka!«

Ljonka fuhr von einem Stoß in die Seite zusammen und sah den Großvater an. Sein Gesicht war länger, hagerer und grauer geworden und bebte.

Der Kosak ging fünf Schritt vor ihnen, rauchte seine Pfeife, schlug mit dem Stock die Klettenköpfchen ab und drehte sich nicht nach ihnen um.

»Da hast du, nimm . . . und wirf's . . . ins Gras . . ., aber merk dir, wo du es hinwirfst! . . . Damit wir's nachher wiederfinden . . .«, flüsterte der Alte kaum hörbar, und indem er sich im Gehen dicht an den Enkel drängte, steckte er ihm einen zusammengeballten Lappen in die Hand.

Ljonka schob sich zur Seite, zitternd vor Furcht, die plötzlich sein ganzes Innere mit Kälte erfüllte, und ging näher an den Zaun, wo dichtes Gras stand. Gespannt auf den breiten Rücken des eskortierenden Kosaken blickend, streckte er die Hand seitwärts und warf mit einem Blick dahin den Lappen in das Gras . . .

Im Fallen hatte sich der Lappen auseinandergewickelt, und vor Ljonkas Augen schimmerte ein geblümtes blaues Tuch, das sogleich von dem Bild des weinenden kleinen Mädchens verdrängt wurde. Wie lebend stand sie vor ihm und verdeckte alles, den Kosaken, den Großvater, die ganze Umgebung . . . Ihr Schluchzen ertönte wieder deutlich in Ljonkas Ohren, und ihm war, als fielen helle Tränen vor ihm zur Erde.

In diesem fast unzurechnungsfähigen Zustand trat er hinter dem Großvater in die Kanzlei, hörte ein dumpfes Getöse, das er nicht unterscheiden konnte und mochte, sah wie durch einen Nebel, wie Großvaters Sack auf einen großen Tisch ausgeschüttet wurde, und die dumpf und weich fallenden Stücke polterten auf den Tisch . . . Dann beugten sich viele Köpfe in hohen Mützen darüber; die Köpfe und Mützen waren düster und finster, sie bewegten sich in einem Nebel hin und her und drohten ihm mit etwas Schrecklichem . . . Dann wand sich der Großvater plötzlich wie ein Kreisel in den Händen zweier handfester Burschen . . .

»Ungerecht ist das, Rechtgläubige! . . . Ich bin unschuldig, weiß Gott!« winselte der Großvater durchdringend auf.

Weinend ließ sich Ljonka auf den Boden nieder.

Da kamen sie auch zu ihm. Er wurde aufgehoben, auf eine Bank gesetzt und alle Lumpen, die seinen kleinen Körper bedeckten, durchwühlt.

»Die Danilowna lügt, das Teufelsweib!« donnerte jemand los, als versetzte er Ljonka mit seiner tiefen, zornigen Stimme einen Schlag an die Ohren.

»Vielleicht haben sie's auch irgendwo versteckt?« wurde noch lauter gerufen.

Ljonka hatte das Gefühl, als schlügen ihn alle diese Laute auf den Kopf, und es tat ihm so weh, daß er das Bewußtsein verlor, plötzlich glitt er in ein schwarzes Loch, das einen bodenlosen Abgrund vor ihm auftat.

Aber als er zu sich kam, lag sein Kopf auf den Knien des Großvaters, und Großvaters Gesicht, elender und runzliger denn je, neigte sich über sein Gesicht, und aus des Großvaters erschrocken blinzelnden Augen fielen auf seine Stirn kleine trübe Tränen, rannen von den Wangen zum Halse und kitzelten sehr . . .

»Ist dir besser, mein Lieber? . . . Wir wollen fortgehen von hier. Wir wollen gehen – die Verfluchten haben uns laufenlassen!«

Ljonka erhob sich mit einer Empfindung, als habe man ihm etwas Schweres in den Kopf gegossen und es werde ihm gleich von den Schultern fallen . . . Er nahm ihn zwischen die Hände und wiegte sich leise stöhnend hin und her.

»Tut dir das Köpfchen weh? Mein Liebling, du! . . . Gequält haben sie uns beide . . . Wilde Tiere sind das! Ein Dolch ist fort, siehst du, und ein Mädchen hat ein Tuch verloren, und da werfen sie sich auf uns! . . . Ach, Herr mein Gott! . . . warum strafst du mich so?«

Ljonka war zumute, als kratze ihn die knarrende Stimme des Großvaters, und er fühlte, daß sich in seinem Innern ein feines Fünkchen entzündete, das ihn zwang, von dem Großvater abzurücken. Er rückte zur Seite und sah sich um . . .

Er saß mit dem Großvater am Dorfausgang im dichten Schatten einer knorrigen Schwarzpappel. Es war schon Nacht, der Mond war aufgegangen, und sein milchig silbernes Licht, das die weite ebene Steppe bestrahlte, schien sie kleiner zu machen, als sie am Tage gewesen, kleiner und noch öder und trauriger. In der Ferne, wo die Steppe mit dem Himmel zusammenfloß, erhoben sich Wölkchen und kamen leise gezogen, den Mond bedeckend und dichte Schatten auf die Erde werfend. Die Schatten schmiegten sich an die Erde, krochen langsam und nachdenklich darüberhin und verschwanden plötzlich, als wären sie in die Erdspalten gesunken, welche die glühenden Sonnenstrahlen aufgerissen hatten . . . Aus dem Dorf tönten Stimmen herüber, und hier und da flammten Lichter auf, als blinkten sie und die hellgoldenen Sterne am Himmel einander zu.

»Wir wollen gehen, mein Lieber! . . . Wir müssen gehen«, sagte der Großvater.

»Laß uns noch sitzen!« erwiderte Ljonka leise.

Ihm gefiel die Steppe. Tags, wenn er ging, blickte er gern nach vorn, dahin, wo das Himmelsgewölbe sich auf ihre breite Brust zu stützen schien . . . Und dort stellte er sich wunderbar große Städte vor, von so guten Menschen bewohnt, wie er sie noch nie gesehen, die man nicht um Brot zu bitten brauchte – weil sie es ungebeten von selber geben . . . Und wenn dann die Steppe sich immer weiter vor seinen Augen ausbreitete und plötzlich ein Dorf aus sich hervortreten ließ, ihm schon bekannt und an Häusern und Menschen allen gleich, die er bisher gesehen, wurde er traurig, und die Enttäuschung kränkte ihn.

Auch jetzt blickte er gedankenvoll in die Ferne, woher langsam die Wolken herankrochen. Sie erschienen ihm wie der Rauch aus Tausenden von Schornsteinen in jener Stadt, die er so sehr zu sehen verlangte . . . Seine Betrachtungen wurden durch den trockenen Husten des Großvaters unterbrochen.

Ljonka blickte aufmerksam in das tränenfeuchte Gesicht des Großvaters, der begierig die Luft einsog.

Vom Mond beleuchtet und mit seltsamen Schatten bedeckt, die von der zerlumpten Mütze, von Bart und Brauen darauf fielen, war sein Gesicht mit dem krampfhaft bewegten Mund und den weit geöffneten Augen, die in einer Art verhaltenen Entzückens strahlten, schrecklich und jämmerlich zugleich und erweckte in Ljonka jenes neue Gefühl, das ihn zwang, vom Großvater noch mehr abzurücken . . .

»Nun, bleiben wir noch, bleiben wir noch!« murmelte er und suchte einfältig lächelnd hinter seinem Hemd.

Ljonka wandte sich ab und sah wieder in die Ferne.

»Ljonka! . . . Sieh mal!« schluchzte der Großvater plötzlich entzückt auf, und ganz zusammengekrümmt vor erstickendem Husten, reichte er dem Enkel etwas Langes und Glänzendes hin. »Von Silber! Das ist ja Silber! . . . Kostet wohl fünfzig Rubel . . .

Seine Hände und Lippen bebten vor Schmerz und Gier, und sein ganzes Gesicht verzog sich.

Ljonka fuhr zusammen und stieß seine Hand weg.

»Versteck es schnell! . . . Ach, Großvater, versteck es!« flüsterte er flehend und blickte sich hastig um.

»Nun . . ., was ist dir, du Närrchen? Hast du Angst, mein Lieber? . . . Ich sah in ein Fenster, da hing er . . ., ich griff rasch danach und unter den Schoß . . ., nachher hab ich ihn im Gebüsch versteckt. Als wir aus dem Dorf gingen, ließ ich meine Mütze fallen, bückte mich und nahm ihn . . . Narren sind sie! Das Tuch hab ich auch genommen . . ., da ist es!«

Er zog mit zitternden Händen das Tuch aus seinen Lumpen und schüttelte es vor Ljonkas Gesicht.

Vor Ljonkas Augen zerriß ein Nebelvorhang, und ein Bild erstand vor ihm: Der Großvater und er gehen, so schnell sie können, eine Dorfstraße entlang, den Blicken der Vorübergehenden ausweichend, sie gehen furchtsam, und es ist Ljonka, als habe jeder das Recht, sie beide zu schlagen, anzuspeien und zu beschimpfen . . . Die ganze Umgebung – Zäune, Häuser und Bäume – schwankt in einem seltsamen Nebel, wie vom Winde bewegt . . ., und rauhe, zornige Stimmen sind zu hören . . . Dieser schwere Weg ist endlos lang und der Ausgang ins Feld nicht zu sehen vor der dichten Masse wankender Häuser, die sich bald nähern, als wollten sie ihn erdrücken, bald entfernen und ihm mit den dunklen Flecken ihrer Fenster ins Gesicht lachen . . . Und plötzlich schallt es hell aus einem Fenster: Diebe! Diebe! Diebe, kleiner Dieb . . .! Ljonka wirft einen verstohlenen Blick hin und erblickt das Mädchen im Fenster, das er eben weinend gesehen hatte und beschützen wollte . . . Sie fängt seinen Blick auf und zeigt ihm die Zunge, und ihre blauen Augen funkeln böse und scharf und stechen Ljonka wie Nadeln.

Dieses Bild erstand im Gedächtnis des Knaben und war augenblicklich wieder verschwunden, ein böses Lächeln hinterlassend, das er dem Großvater zuwarf.

Der Großvater redete noch immer, redete, vom Husten unterbrochen, winkte kopfschüttelnd mit der Hand ab und wischte sich den Schweiß, der in großen Tropfen auf sein runzliges Gesicht trat.

Eine schwere, zerzauste und zerfetzte Wolke bedeckte den Mond, und Ljonka konnte des Großvaters Gesicht kaum sehen . . . Er rief sich das Bild des weinenden Mädchens zurück, stellte es neben ihn und maß sie beide gleichsam in Gedanken. Der kraftlose, heisere, gierige und zerlumpte Großvater erschien ihm neben der Gekränkten, Weinenden, die so schön, frisch und gesund war, unnütz und fast so böse und schlecht wie der Böse im Märchen. Wie konnte er? Weshalb hat er sie gekränkt? Er ist doch nicht mit ihr verwandt . . .

Und der Großvater knarrte: »Wenn ich hundert Rubel zusammenbringen könnte! . . . Dann könnt ich ruhig sterben . . .«

»Nun!« loderte es plötzlich in Ljonka auf. »Schweig du schon! Könnt ich sterben, könnt ich sterben . . . Und stirbst doch nicht . . . Du stiehlst ja!« jammerte Ljonka und sprang plötzlich am ganzen Leibe zitternd auf. »Du alter Dieb! . . . Uh-uh!« Er ballte seine kleine magere Faust und schüttelte sie vor dem Gesicht des plötzlich verstummten Großvaters; dann ließ er sich wieder schwer auf die Erde nieder und stieß durch die Zähne hervor: »Ein Kind hast du bestohlen . . . Ach, das ist recht! . . . Alt, und doch . . . Das wird dir nicht verziehen in jener Welt . . .

Plötzlich kam die ganze Steppe in Bewegung und weitete sich, von blendend blauem Licht umspannt; der Nebel, der sie bedeckt hatte, erbebte und verschwand augenblicklich. Ein Donnerschlag erdröhnte und rollte über die Steppe, erschütterte die Erde und den Himmel, über den jetzt schnell ein dichter Haufen schwarzer Wolken zog und den Mond ertränkte.

Es wurde dunkel. Irgendwo in der Ferne blitzte es noch schweigend und drohend auf, und nach einer Sekunde donnerte es schwach . . . Dann trat eine Stille ein, die kein Ende zu nehmen schien.

Ljonka bekreuzigte sich. Der Großvater saß regungslos und schweigend, als sei er mit dem Baumstamm verwachsen, an den er sich mit dem Rücken gelehnt hatte.

»Großvater . . .!« flüsterte Ljonka, in qualvoller Angst einen neuen Donnerschlag erwartend. »Wir wollen ins Dorf gehen!«

Der Himmel erbebte wieder, und nachdem er von neuem in blauer Flamme aufgelodert war, schleuderte er einen wuchtigen metallischen Schlag zur Erde, als ob Tausende von Eisenplatten aneinanderklirrend auf die Erde geschüttet würden . . .

»Großvater!« schrie Ljonka auf.

Sein Schrei, den der Nachhall des Donners verschlang, klang wie der Schlag einer kleinen zersprungenen Glocke.

»Was denn . . . Hast du Angst . . .? Ah . . .!« sagte der Großvater heiser, ohne sich zu regen.

Große Regentropfen begannen zu fallen, und ihr Rauschen klang so geheimnisvoll, als bereite es etwas vor . . . In der Ferne steigerte es sich zu einem einzigen weiten Laut, wie eine Riesenbürste, die über die trockene Erde streicht; hier bei Großvater und Enkel aber klang jeder zur Erde fallende Tropfen kurz und abgebrochen und erstarb ohne Echo. Die Donnerschläge kamen immer näher, und der Himmel flammte häufiger auf.

»Ich geh nicht ins Dorf! Mag mich alten Hund und Dieb . . . hier der Regen ertränken . . . und der Donner erschlagen!« sagte der Großvater schwer atmend. »Ich gehe nicht! . . . Geh allein . . . Da ist das Dorf . . . Geh! . . . Ich will nicht, daß du hier sitzt . . ., geh! Geh, geh! . . . Geh!« schrie der Großvater dumpf und heiser.

»Großväterchen . . .! Verzeih!« bat Ljonka, an ihn heranrückend.

»Ich geh nicht . . ., ich verzeih nicht . . . Sieben Jahre hab ich dich gewartet! Alles für dich . . ., und gelebt . . . für dich. Brauch ich denn was? . . . Ich sterbe ja . . . Ich sterbe . . ., und du sagst – Dieb . . . Weshalb bin ich ein Dieb? Für dich . . ., für dich ist das alles . . . Da nimm . . ., nimm . . ., nimm . . . Für dein Leben, für alles . . . hab ich gespart . . ., nun, und gestohlen . . . Gott sieht alles . . . Er weiß . . ., daß ich gestohlen hab . . ., er weiß . . . Er wird mich strafen . . . Er – begnadigt mich alten Hund nicht . . . für den Diebstahl. Er hat mich schon gestraft . . . Herrgott, du hast mich gestraft! . . . ah? Hast du gestraft? . . . Durch die Hand des Kindes tötest du mich! Das ist gerecht, Herrgott! . . . Das ist richtig! . . . Du bist gerecht, o Herr! Sende nach meiner Seele . . . Ach!«

Die Stimme des Großvaters steigerte sich zu durchdringendem Gewimmer und flößte Ljonka Entsetzen ein.

Die Himmel und Erde erschütternden Donnerschläge krachten jetzt laut und eilig, als wolle jeder von ihnen der Erde etwas unbedingt Notwendiges sagen, einander jagend dröhnten sie fast ohne Unterbrechung. Der von Blitzen zerrissene Himmel bebte, es bebte die Steppe, bald aufflammend in blauem Licht, bald versinkend in kalter, schwerer, beengender Finsternis, die sie seltsam verkleinerte. Dann und wann wurde die Ferne von einem Blitz erhellt. Und es war, als liefe diese Ferne hastig vor dem Lärm und Donner davon . . .

Der Regen strömte, und seine beim Leuchten der Blitze wie Stahl glänzenden Tropfen verdeckten die freundlich winkenden Lichtlein des Dorfes.

Ljonka erstarrte vor Angst, Kälte und einer Art bangen Schuldgefühls, das der Aufschrei des Großvaters in ihm erweckt hatte. Die weitaufgerissenen Augen vor sich hin gerichtet, fürchtete er sich selbst dann zu blinzeln, wenn die Wassertropfen von seinem regendurchnäßten Kopf herab ihm in die Augen rannen, und lauschte angsterfüllt der Stimme des Großvaters, die in einem Meer gewaltiger Laute versank.

Ljonka fühlte, daß der Großvater unbeweglich dasaß, aber es war ihm, als könne er ihm abhanden kommen, davongehen und ihn hier allein lassen. Sich selbst nicht bewußt, rückte er immer näher an den Großvater heran, und als er ihn mit seinem Ellenbogen berührte, fuhr er in Erwartung von etwas Furchtbarem zusammen . . .

Den Himmel zerreißend, beleuchtete ein Blitz sie beide, zusammengekrümmt nebeneinander, klein, überschüttet von den Wasserströmen, die von den Zweigen des Baumes kamen . . .

Der Großvater fuchtelte mit der Hand in der Luft und murmelte noch immer etwas, schon erschöpft und schwer atmend.

Nach einem Blick in sein Gesicht schrie Ljonka laut auf vor Angst . . . Beim blauen Schein des Blitzes erschien es ihm wie tot, und die auf ihn gerichteten trüben Augen waren wie irr.

»Großvater! . . . Wir wollen gehen!« weinte er auf, indem er seinen Kopf auf des Großvaters Knie fallen ließ.

Der Großvater beugte sich über ihn, umfing ihn mit seinen knochigen, dürren Armen, drückte ihn fest an sich und wimmerte plötzlich durchdringend laut auf wie ein Wolf in der Falle.

Durch diesen Schrei fast wahnsinnig gemacht, riß sich Ljonka von ihm los, sprang auf die Füße und flog wie ein Pfeil vorwärts, die Augen weit geöffnet, von Blitzen geblendet, fallend und wieder aufstehend, immer tiefer in das Dunkel hinein, das bald vom blauen Schein eines Blitzes zurückwich, bald von neuem den vor Entsetzen irrsinnigen Knaben umfing.

Der fallende Regen rauschte so kalt, eintönig, bang . . . Und es schien, als sei in der Steppe nie etwas gewesen außer dem Rauschen des Regens, dem Funkeln der Blitze und dem zornigen Krachen des Donners.

Am Morgen des andern Tages kamen die Dorfjungen, die in die Steppe gelaufen waren, gleich wieder zurück und setzten das Dorf in Aufregung durch die Meldung, daß sie unter einer Pappel den gestrigen Bettler gesehen hätten und daß er wahrscheinlich getötet worden sei, da ein Dolch neben ihm liege.

Als aber die alten Kosaken hinkamen, um zu untersuchen, ob es so sei, ergab es sich, daß es nicht so war. Der Alte lebte noch. Als sie an ihn herantraten, versuchte er sich von der Erde zu erheben, aber er konnte nicht. Er hatte die Sprache verloren, suchte mit tränenden Augen in der Menge und schien etwas zu fragen, aber er fand nichts und erhielt keine Antwort.

Gegen Abend starb er, und er wurde begraben, wo er gefunden worden war, unter der Pappel, da man meinte, es gehöre sich nicht, ihn auf dem Kirchhof zu begraben; erstens sei er ein Fremder, zweitens ein Dieb, und drittens sei er ohne Buße gestorben. Neben ihm im Schmutz wurden der Dolch und das Tuch gefunden.

Und nach zwei oder drei Tagen fand man auch Ljonka.

Krähenschwärme kreisten unweit des Dorfes über einer Steppenschlucht, und als man nachsah, fand man den Knaben, der, die Arme ausgebreitet, mit dem Gesicht nach unten in dem dünnen Schmutz lag, der nach dem Regen auf dem Grunde der Schlucht zurückgeblieben war.

Zuerst wollten sie ihn auf dem Kirchhof beerdigen, weil er noch ein Kind war; doch dann überlegten sie es sich und legten ihn neben den Großvater unter die Pappel. Ein Erdhügel wurde aufgeschüttet und ein rohes Steinkreuz daraufgestellt.

 


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