Maxim Gorki
Die alte Isergil und andere Erzählungen
Maxim Gorki

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Die alte Isergil

I

Ich hörte diese Erzählungen in Bessarabien in der Gegend von Akkerman, an der Küste.

Einmal abends, als wir die Weinlese für diesen Tag beendet hatten, war der Trupp Moldawier, in dem auch ich arbeitete, hinunter an den Strand gegangen und ich mit der alten Isergil im dichten Schatten der Reben geblieben. Wir lagen auf der Erde, schwiegen und sahen zu, wie sich die Gestalten der zum Strand Gehenden allmählich im tiefen Dunkel der Nacht auflösten.

Sie sangen und lachten; die Männer dunkel wie Bronze, mit prächtigen, schwarzen Schnurrbärten und dichten Locken bis zu den Schultern, in kurzen Jacken und weiten Pluderhosen; Frauen und Mädchen frohgestimmt, geschmeidig, mit dunkelblauen Augen und gleichfalls bronzebrauner Haut. Ihr seidiges, schwarzes Haar war gelöst, der sanfte, warme Wind liebkoste es, so daß die hineingeflochtenen Münzen klimperten. Der Wind wehte gleichmäßig in einem breiten Strom, manchmal jedoch schien er über ein unsichtbares Hindernis zu springen und brachte einen kräftigen Windstoß hervor, so daß die Haare der Frauen wie phantastische Mähnen flatterten und sich um ihre Köpfe erhoben. Das ließ sie seltsam und märchenhaft erscheinen. Sie entfernten sich immer mehr, und die Nacht und die Phantasie kleideten sie immer prächtiger.

Jemand spielte auf einer Geige, ein Mädchen sang mit sanfter Altstimme, Lachen ertönte.

Die Luft war durchdrungen vom scharfen Geruch des Meeres und den fetten Dünsten der Erde, die sich bei einem starken Regen kurz vor Abend vollgesogen hatten. Auch jetzt strichen noch Wolkenfetzen über den Himmel, üppig wogend, von seltsamer Form und Färbung, hier weich wie Rauchwolken, aschgrau und hellblau, dort gezackt wie Felsgrate, mattschwarz oder dunkelbraun. Durch die Lücken lugte freundlich dunkelblauer Himmel, geschmückt mit goldglitzernden Sternen. All dies – Laute und Düfte, Wolken und Menschen – war seltsam schön und traurig und wirkte wie der Anfang eines wundersamen Märchens. Und alles schien im Wachstum innezuhalten und zu ersterben; das Stimmengewirr entfernte sich weiter, erlosch und ging in bekümmerte Seufzer über.

»Warum bist du nicht mit ihnen gegangen?« fragte die alte Isergil und wies mit einem Kopfnicken zum Strand.

Die Zeit hatte sie tief gebeugt, die einst schwarzen Augen glänzten matt und tränten. Ihre trockene Stimme klang seltsam knirschend, als spreche sie mit den Knochen.

»Ich will nicht!« antwortete ich.

»Ha! Ihr Russen kommt als Greise zur Welt. Seid alle so finster wie Dämonen. Unsere Mädchen fürchten dich. Dabei bist du jung und stark.«

Der Mond ging auf. Seine Scheibe war groß, blutig rot und schien den Tiefen dieser Steppe entstiegen, die im Laufe der Zeiten soviel menschliches Fleisch verschlungen und soviel Blut getrunken hatte. Wahrscheinlich war sie deshalb so fruchtbar und freigebig. Die Schatten vom Spitzengewirr der Blätter fielen auf uns und umstrickten mich und die Alte wie ein Netz. Links von uns glitten die Wolkenschatten über die Steppe, getränkt vom blauen Mondschein, und wurden zusehends durchsichtiger und heller.

»Sieh, dort kommt Larra!«

Ich blickte in die Richtung, in die die Alte mit krummen Fingern an zitternder Hand wies, und sah Schatten dahingleiten, viele waren es, und einer wirkte dunkler und dichter als die anderen und glitt schneller und tiefer dahin als seine Schwestern – er rührte von einem Wolkenfetzen her, der tiefer über die Erde strich und auch schneller als sie.

»Dort ist niemand!« sagte ich.

»Du kannst schlechter sehen als ich alte Frau. Schau doch, der Dunkle dort, er läuft durch die Steppe!«

Ich blickte nochmals hin und sah wieder nichts außer einem Schatten.

»Es ist ein Schatten! Warum nennst du ihn Larra?«

»Weil er es ist. Er ist nur jetzt zum Schatten geworden – kein Wunder! Er lebt Jahrtausende, die Sonne hat seinen Körper, sein Blut und die Knochen ausgetrocknet und der Wind sie in Staub verwandelt. So kann Gott mit einem Menschen verfahren, der allzu stolz ist.«

»Erzähl mir, wie das war!« bat ich die alte Frau, denn ich ahnte, daß sie gewiß eines der herrlichen Märchen im Sinn hatte, die die Steppe hervorgebracht hatte.

Und sie erzählte es mir.

 

»Viele Jahrtausende sind verstrichen, seit sich dies ereignete. Weit jenseits des Meeres, dort, wo die Sonne aufgeht, liegt das Land des großen Flusses, und in diesem Land gibt jedes Baumblatt, jeder Grashalm soviel Schatten, wie der Mensch braucht, um sich vor der Sonne zu schützen, die dort schrecklich heiß brennt.

So freigebig ist die Erde in jenem Land!

Dort lebte ein kraftvolles Menschengeschlecht, sie hüteten ihre Herden, übten sich auf der Jagd nach wilden Tieren in Kraft und Mut, feierten nach der Jagd festliche Gelage, sangen Lieder und spielten mit den Mädchen.

Einmal während eines solchen Gelages stieß plötzlich ein Adler vom Himmel und trug eine von ihnen weg. Sie war schwarzhaarig und sanft wie die Nacht. Die ihm von den Männern nachgesandten Pfeile fielen kraftlos auf die Erde zurück. Da machten sie sich auf die Suche nach dem Mädchen, aber sie fanden sie nicht, und sie vergaßen sie, wie man alles vergißt auf dieser Erde.«

Die Alte seufzte und schwieg. Ihre schnarrende Stimme klang, als murrten all die vergessenen, in ihrer Brust nun zu Schatten der Erinnerungen gewordenen Jahrhunderte. Das Meer untermalte still diesen Anfang einer der alten Legenden, die vielleicht an seinem Ufer entstanden waren.

»Nach zwanzig Jahren kam sie jedoch von selbst wieder, ganz erschöpft und abgezehrt, und mit ihr ein Jüngling, schön und stark, wie sie selbst vor zwanzig Jahren gewesen war. Als man sie fragte, wo sie gewesen sei, erzählte sie, der Adler habe sie ins Gebirge getragen und dort zu seiner Frau gemacht. Der Jüngling sei sein Sohn, der Vater lebe nicht mehr, als er alt und schwach wurde, habe er sich ein letztes Mal in die Lüfte geschwungen, die Flügel angelegt und sich auf einen scharfen Berggrat gestürzt. Dort sei er zerschellt.

Alle blickten den Adlerssohn erstaunt an und sahen, daß er keineswegs anders war als sie, nur seine Augen blickten kalt und stolz wie die des Königs der Vögel. Und sie redeten mit ihm, er aber antwortete, wenn er wollte, oder schwieg, und als die Ältesten des Stammes kamen, sprach er mit ihnen wie mit seinesgleichen. Das kränkte sie, und sie nannten ihn einen ungefiederten Pfeil mit stumpfer Spitze und sagten ihm, daß Tausende seinesgleichen und Tausende, die doppelt so alt seien wie er, sie ehrten und ihnen gehorchten. Er aber blickte sie furchtlos an und antwortete, seinesgleichen gebe es nirgends mehr. Und wenn alle sie ehrten – er gedenke es nicht zu tun. Da gerieten sie endgültig in Zorn. Erbost sagten sie:

»Für ihn ist kein Platz unter uns! Mag er gehen, wohin er will.«

Er lachte und ging, wohin er wollte – zu einem schönen Mädchen, das ihn fortwährend angeblickt hatte. Er trat zu ihr und umarmte sie. Sie war jedoch die Tochter eines der Ältesten, die ihn verurteilt hatten. Und obwohl er schön war, stieß sie ihn von sich, denn sie fürchtete ihren Vater. Sie stieß ihn von sich und ging weg, er aber schlug sie, und als sie zu Boden gestürzt war, setzte er ihr den Fuß auf die Brust, so daß das Blut aus ihrem Mund gen Himmel spritzte; das Mädchen seufzte, wand sich wie eine Schlange und starb.

Angst lähmte alle, die dies gesehen hatten – zum ersten Mal hatte man vor ihren Augen so eine Frau getötet. Und lange schwiegen alle, blickten sie an, die mit offenen Augen und blutigem Mund am Boden lag, und ihn, der neben ihr stand, einer gegen alle, und so stolz war – er hielt sein Haupt hoch erhoben, als wolle er die Strafe geradezu herausfordern. Als sie sich besonnen hatten, packten sie ihn und banden ihn, beließen es aber dabei, denn sie fanden, daß es zu einfach sei und sie nicht befriedigen würde, ihn gleich zu töten.«

Die Nacht wuchs und kräftigte sich und füllte sich mit seltsamen, verhaltenen Lauten. In der Steppe pfiffen traurig Zieselmäuse, im Blattwerk der Weinstöcke zitterte das gläserne Zirpen der Grashüpfer, das Laub seufzte und tuschelte, die ehedem blutrote Mondscheibe erblaßte, erhob sich von der Erde, wurde blasser und goß immer mehr bläuliche Dunkelheit auf die Steppe.

»Dann versammelten sie sich, um eine Strafe zu ersinnen, die dem Vergehen angemessen war. Zunächst wollten sie ihn von Pferden zerreißen lassen, aber das erschien ihnen zu gering; dann sollte jeder einen Pfeil nach ihm schießen, aber auch das wurde verworfen; einige schlugen vor, ihn zu verbrennen, aber der Rauch des Holzstoßes hätte verhindert, seine Qualen zu sehen; viele Vorschläge wurden gemacht – und sie fanden nichts, das allen zusagte. Seine Mutter aber kniete schweigend vor ihnen, sie fand weder Tränen noch Worte, um Erbarmen zu flehen. Lange sprachen sie miteinander, dann sagte ein Weiser nach langem Überlegen:

›Wollen wir ihn nicht fragen, warum er es getan hat?‹

Sie fragten ihn. Er antwortete:

›Bindet mich los! Ich werde nicht reden, wenn ich gefesselt bin.‹

Als sie die Fesseln gelöst hatten, fragte er:

›Was wollt ihr von mir?‹ Er fragte es, als wären sie Sklaven.

›Du hast es gehört‹, sagte der Weise.

›Warum sollte ich euch meine Taten erläutern?‹

›Damit wir sie begreifen. Hör zu, du Stolzer! Sterben wirst du so oder so. Also laß uns begreifen, was du getan hast. Wir bleiben am Leben und haben Nutzen davon, mehr zu wissen, als wir jetzt wissen.‹

›Gut, ich will es sagen, obwohl ich das Geschehene vielleicht selbst nicht richtig verstehe. Ich habe sie getötet, weil mir schien, daß sie mich von sich gestoßen hatte. Ich aber brauchte sie.‹

›Sie gehört dir doch nicht!‹ sagten sie ihm.

›Benutzt ihr etwa nur, was euch gehört? Ich sehe, daß jeder Mensch nur seine Rede, Arme und Beine hat – aber er besitzt Tiere, Frauen, Land – und vieles andere.‹

Man sagte ihm darauf, daß der Mensch für alles, was er nehme, mit etwas von sich bezahle: mit seinem Verstand, seiner Kraft, manchmal mit seinem Leben. Er aber antwortete, er wolle nichts von sich weggeben.

Lange redeten sie mit ihm, schließlich sahen sie, daß er sich als den Ersten auf Erden betrachtete und außer sich nichts weiter sah. Allen wurde ganz schrecklich zumute, als sie erkannten, zu welcher Einsamkeit er sich verdammt hatte. Er konnte weder einen Stamm, noch eine Mutter, noch Vieh, noch eine Frau sein eigen nennen und wollte all dies auch nicht.

Als die Menschen das sahen, überlegten sie wieder, wie sie ihn bestrafen könnten. Diesmal redeten sie aber nicht lange miteinander. Jener Weise, der erst still zugehört hatte, hub jetzt an: ›Haltet ein! Es gibt eine Strafe. Eine schreckliche Strafe, wie ihr sie in tausend Jahren nicht ersinnen könnt! Die Strafe liegt in ihm selbst! Laßt ihn, er soll frei sein. Das ist seine Strafe!‹

Da geschah etwas Erhabenes. Donner rollte über den Himmel, obwohl er wolkenlos war. Die Himmelskräfte bestätigten die Rede des Weisen. Alle verneigten sich und gingen auseinander. Jener Jüngling aber, der jetzt den Namen Larra erhielt, was bedeutet: Ausgestoßener, Verworfener, jener Jüngling lachte den Menschen, die ihn sich selbst überlassen hatten, laut hinterher, er lachte und blieb allein, frei, wie sein Vater gewesen war. Dieser aber war kein Mensch gewesen. Der Jüngling hingegen war einer. So lebte er frei wie ein Vogel. Er kam zu dem Stamm und raubte Vieh und Mädchen – was immer er wollte. Sie schossen auf ihn, aber die Pfeile konnten nicht in seinen Körper dringen, da er durch die unsichtbare Hülle der höchsten Strafe geschützt war. Er war geschickt, raubgierig, stark und grausam und trat den Menschen nie von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie sahen ihn nur von weitem. Und lange streifte der Einsame in ihrer Umgebung umher, lange – so manches Jahrzehnt. Einmal aber kam er ihnen nahe, und als sie sich auf ihn stürzten, wich er nicht von der Stelle und ließ auch nicht erkennen, daß er sich verteidigen wollte. Da erriet einer der Menschen seine Absicht und rief laut:

›Rührt ihn nicht an! Er will sterben!‹

Und alle blieben stehen, da sie das Los dessen nicht erleichtern wollten, der ihnen Böses angetan hatte, und ihn nicht töten wollten. Sie blieben stehen und lachten, lachten über ihn. Er aber zitterte, als er das Lachen hörte, suchte fortwährend etwas auf seiner Brust und krallte seine Finger hinein. Plötzlich hob er einen Stein und stürzte sich auf die Menschen. Sie aber wichen seinen Schlägen aus, ohne sie zu erwidern, und als er mit kläglichem Schrei zu Boden fiel, gingen sie beiseite und beobachteten ihn. Da erhob er sich, hob ein Messer auf, das jemand von ihnen beim Kampf mit ihm verloren hatte, und stieß es sich in die Brust. Aber das Messer brach ab, als sei es auf Stein gestoßen. Und wieder fiel er zu Boden und schlug lange mit dem Kopf auf die Erde. Diese aber wich vor ihm zurück und bildete eine Vertiefung, wo sein Kopf auftraf.

›Er kann nicht sterben!‹ frohlockten die Menschen.

Und sie gingen und überließen ihn sich selbst. Er lag auf dem Rücken und sah: Hoch am Himmel kreisten als dunkle Punkte mächtige Adler. In seinen Augen lag soviel Trauer, daß man alle Menschen der Welt damit hätte vergiften können. So blieb er von dieser Zeit an allein, frei, in Erwartung des Todes. Nun wandert er ruhelos umher. Du siehst ja, er ist schon zum Schatten geworden und wird es ewig sein! Er versteht weder die Rede der Menschen noch ihre Taten – gar nichts. Und er wandert suchend umher. Er hat kein Leben und kann nicht auf den Tod hoffen. Und er hat keinen Platz unter den Menschen. So wurde ein Mensch für seinen Stolz bestraft!«

Die Alte seufzte und schwieg, ihr Kopf sank auf die Brust und schwankte einige Male seltsam.

Ich blickte sie an. Der Schlaf hatte sie überwältigt, schien mir. Und sie tat mir plötzlich unendlich leid. Sie hatte die Erzählung in so erhabenem, drohendem Ton zu Ende gebracht, und dennoch hatte eine ängstliche, sklavische Note darin gelegen.

Am Strand wurde gesungen – es klang seltsam. Zuerst sang die Altstimme zwei, drei Noten, dann ertönte eine zweite Stimme, begann das Lied von vorn, und die erste schritt ihr voran. Eine dritte, vierte, fünfte Stimme fiel ein, und alle sangen das Lied in derselben Folge. Plötzlich hub ein Chor von Männerstimmen an und sang das Lied ebenfalls von Anfang an.

Jede Frauenstimme war deutlich herauszuhören, sie alle glichen verschiedenfarbigen Bächen, die mit hellem Schall über Felsvorsprünge sprangen und in den dichten Strom von Männerstimmen mündeten, der ihnen gleichmäßig entgegenfloß; sie versanken darin, lösten sich wieder heraus, übertönten ihn und stiegen eine nach der anderen klar und kräftig empor.

Die Stimmen übertönten das Rauschen der Wellen.

 

II

»Hast du irgendwo je solchen Gesang gehört?« fragte Isergil, hob den Kopf und lächelte mit zahnlosem Mund.

»Nein, niemals.«

»Den wirst du auch nirgends hören. Wir singen gern. Nur schöne Menschen können gut singen – Menschen, die das Leben lieben. Wir lieben es. Sieh nur, sind die, die dort singen, nicht vom Tagwerk ermüdet? Sie haben von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet, der Mond ist aufgegangen – und schon singen sie! Wer nicht zu leben versteht, hätte sich längst schlafen gelegt. Wer das Leben liebt, singt.«

»Aber die Gesundheit . . .« wollte ich einwenden.

»Gesundheit ist stets genug da fürs Leben. Gesundheit! Wenn du Geld hättest, würdest du es nicht ausgeben? Gesundheit ist so etwas wie Gold. Weißt du, was ich gemacht habe, als ich noch jung war? Ich hab von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Teppiche gewebt, fast ohne einmal aufzustehen. Ich war quicklebendig wie ein Sonnenstrahl und mußte dennoch reglos sitzen wie festgewachsen. Und ich saß, bis mir alle Knochen schmerzten. Aber wenn die Nacht kam, lief ich zu dem, den ich liebte, und wir küßten uns. Drei Monate lang lief ich zu ihm, solange, wie ich ihn liebte! In jener Zeit hab ich jede Nacht bei ihm verbracht. Nun sieh an, welches Alter ich erreicht habe – ich hatte Blut genug! Und wie oft ich geliebt habe! Wieviel Küsse ich gegeben und genommen habe!«

Ich sah ihr ins Gesicht. Ihre schwarzen Augen blickten dennoch matt, die Erinnerung belebte sie nicht. Der Mond schien auf ihre trocknen, rissigen Lippen, das spitze Kinn mit den grauen Haaren und die runzlige Nase, die gekrümmt war wie ein Eulenschnabel. Statt der Wangen hatte sie schwarze Gruben, in einer davon lag eine aschgraue Haarsträhne. Sie war unter dem roten Lappen hervorgeglitten, den sie sich um den Kopf gewickelt hatte. Die Haut ihres Gesichts, Halses und ihrer Hände war zerfurcht von Runzeln, ich hatte bei jeder Bewegung von ihr das Gefühl, die trockene Haut werde reißen, in Fetzen abfallen und vor mir das nackte Skelett mit mattglänzenden, schwarzen Augen erstehen.

Sie begann wieder mit schnarrender Stimme:

»Ich lebte mit meiner Mutter in der Nähe von Faltschi, dicht am Ufer des Byrlad, und war fünfzehn Jahre alt, als er in unserem Vorwerk erschien. Er war groß, gertenschlank, stets guter Dinge und hatte einen schwarzen Schnurrbart. In seinem Boot sitzend, rief er laut zu uns ins Fenster: ›He, hättet ihr vielleicht ein wenig Wein und etwas zu essen?‹ Ich blickte hinaus durch die Eschenzweige und sah: Der Fluß war hellblau vom Mondlicht, und der Mann trug ein weißes Hemd und einen breiten Gürtel, dessen Enden seitlich herabhingen, und stand mit einem Bein im Boot und mit dem anderen auf dem Ufer. Und er schaukelte und sang. Bei meinem Anblick sagte er: ›Was für eine Schönheit hier wohnt! Und ich weiß nichts davon!‹ Als kenne er alle schönen Mädchen außer mir. Ich gab ihm Wein und gekochtes Schweinefleisch. Und vier Tage später mich selbst. Nachts fuhren wir mit dem Boot spazieren. Er kam heran und pfiff leise wie eine Zieselmaus, ich schnellte wie ein Fisch aus dem Fenster und lief zum Fluß. Dann fuhren wir los. Er war ein Fischer vom Pruth und redete mir später, als meine Mutter dahinterkam und mich verprügelte, immer wieder zu, mit ihm in die Dobrudscha zu gehen oder gleich ins Donaumündungsgebiet. Aber da gefiel er mir schon nicht mehr – er sang und küßte nur, nichts weiter! Das war mir langweilig. Zu dieser Zeit streifte ein Trupp Huzulen in unserer Gegend umher, es waren freundliche Leute. Sie führten ein lustiges Leben. So manche wartete und wartete auf solchen Karpatenburschen, glaubte ihn schon im Gefängnis oder im Streit getötet – da tauchte er plötzlich auf wie vom Himmel gefallen, allein oder mit zwei, drei Gefährten. Stets brachte er teure Geschenke mit – schließlich war alles leichte Beute für sie! Und er speiste bei ihr und rühmte sich ihrer vor seinen Gefährten. Und das schmeichelte ihr. So bat ich eine Freundin, die einen Huzulen hatte, sie mir zu zeigen. Wie hieß er gleich? Hab's vergessen. Ich vergesse jetzt immer alles. Viel Zeit ist seitdem vergangen, da vergißt du alles! Sie hat mich mit einem jungen Burschen bekannt gemacht. Schmuck sah er aus. Er war rothaarig, ganz rothaarig – der Schnurrbart rot, die Locken. Ein Feuerkopf. Und traurig war er und manchmal ganz zärtlich, dann brüllte er wieder herum und suchte Streit wie ein wildes Tier. Einmal schlug er mich ins Gesicht. Da sprang ich ihm wie eine Katze auf die Brust und verbiß mich in seiner Wange. Seitdem hatte er ein Grübchen im Gesicht, er mochte, wenn ich es küßte.«

»Und was war mit dem Fischer?« fragte ich.

»Der Fischer? Er blieb hier und schloß sich ihnen an, den Huzulen. Erst redete er auf mich ein und drohte, mich ins Wasser zu werfen, dann war alles in Ordnung, er schloß sich ihnen an und nahm eine andere. Sie wurden auch beide zusammen gehängt, der Fischer und dieser Huzule. Ich hab mir angesehen, wie man sie hängte. Das war in der Dobrudscha. Der Fischer ging totenbleich zur Hinrichtung und weinte, der Huzule rauchte seine Pfeife. Er kam daher und rauchte, die Hände in den Taschen, das eine Schnurrbartende lag auf der Schulter, das andere hing ihm über die Brust. Als er mich sah, nahm er die Pfeife aus dem Mund und rief: ›Lebwohl!‹ Ein ganzes Jahr hab ich ihm nachgetrauert. Ach ja! Das widerfuhr ihnen, als sie schon wieder in die Karpaten, in ihre Heimat ziehen wollten. Zum Abschied besuchten sie einen Rumänen, bei ihm hat man sie gefaßt. Nur zwei, ein paar wurden getötet, die anderen flüchteten. Wenigstens hat man's dem Rumänen später heimgezahlt. Das Vorwerk wurde angesteckt und die Mühle und das ganze Getreide. Er wurde bettelarm.«

»Hast du das getan?« fragte ich geradeheraus.

»Die Huzulen hatten viele Freunde, nicht nur mich. Wer ihr bester Freund war, der hat die Totenfeier für sie ausgerichtet.«

Das Lied am Strand war längst verklungen, die Erzählung der alten Frau wurde jetzt nur durch das Rauschen der Brandung untermalt – das nachdenkliche, unruhige Brausen war eine prächtige Untermalung zu diesem Bericht über ein unruhevolles Leben. Immer sanfter wurde die Nacht, immer intensiver der bläuliche Mondschein, und die unbestimmten Laute emsigen Lebens ihrer unsichtbaren Bewohner ermatteten und versanken im anschwellenden Rauschen der Brandung – der Wind nahm zu.

»Ich hab auch mal einen Türken geliebt und war in seinem Harem, in Skutari. Eine ganze Woche war ich dort, es war nicht weiter schlimm. Nur langweilig – lauter Frauen! Acht hatte er. Den ganzen Tag aßen sie, schliefen und schwatzten dummes Zeug. Oder sie zankten sich und gackerten wie Hühner. Er war nicht mehr jung, dieser Türke. Fast schon grauhaarig und sehr würdevoll und reich. Er redete wie ein Herrscher. Seine Augen waren schwarz und starr. Sie blickten einem ins Herz. Er betete sehr gern. Ich sah ihn in Bukarest. Er ging über den Markt wie ein Zar und blickte so würdevoll, ja, würdevoll. Ich lächelte ihm zu. Am selben Abend ergriff man mich auf der Straße und brachte mich zu ihm. Er verkaufte Sandelholz und Palmbäume und war nach Bukarest gekommen, um etwas zu kaufen. ›Kommst du zu mir?‹ fragte er. ›O ja, gewiß!‹ ›Gut!‹ So fuhr ich hin. Er war reich, dieser Türke. Und hatte auch schon einen Sohn, einen geschmeidigen, schwarzäugigen Jungen. Sechzehn Jahre war er alt. Mit ihm bin ich von dem Türken geflohen. Nach Bulgarien, nach Lom-Palanka. Dort hat mir eine Bulgarin das Messer in die Brust gestoßen wegen ihres Bräutigams oder Mannes – ich weiß nicht mehr genau.

Lange lag ich schwerverletzt in einem Kloster. Einem Frauenkloster. Ein Mädchen versorgte mich, eine Polin, und aus einem anderen Kloster – bei Arzer-Palanka, soviel ich mich entsinne – kam ihr Bruder zu ihr, auch ein Mönch. Er war . . . wie ein Wurm, wand sich immer vor mir. Und als ich ausgeheilt war, bin ich mit ihm weg – in sein Polen.«

»Warte! Und wo blieb der kleine Türke?«

»Der Junge? Er ist gestorben, der Arme. Vor Heimweh oder aus Liebe siechte er dahin wie ein schwaches Bäumchen, das zu wenig Sonne bekommt. So ist er auch verkümmert. Ich entsinne mich noch, wie er dalag, ganz durchsichtig und bläulich wie eine Eisscholle, aber noch immer brannte die Liebe in ihm. Fortwährend bat er, ich solle mich zu ihm neigen und ihn küssen. Ich hab ihn geliebt und oft geküßt, das weiß ich noch. Dann ging es ihm ganz schlecht – er konnte sich fast gar nicht mehr bewegen. Wie ein Bettler um Almosen fleht, so bat er mich, ich solle mich neben ihn legen und ihn wärmen. Ich hab es getan. Und wenn ich es tat, wurde er gleich ganz heiß. Als ich einmal erwachte, war er aber schon kalt . . . und tot. Ich weinte an seinem Totenbett. Vielleicht hab ich ihn getötet? Ich war damals doch doppelt so alt wie er. Und war so stark und voller Lebenskraft. Und was war er? Ein kleiner Junge!«

Sie seufzte und bekreuzigte sich dreimal, wobei sie mit dürren Lippen flüsterte – ich sah es zum ersten Mal bei ihr.

Ich half ihr, den Faden wieder aufzunehmen: »Du bist also nach Polen gefahren . . .«

»Ja, mit dem kleinen Polen. Er war lächerlich und gemein. Brauchte er eine Frau, so strich er um mich herum wie ein Kater und sagte mir schöne Worte, aber wenn er mich nicht brauchte, peitschte er mich mit Worten wie mit einer Knute. Einmal gingen wir an einem Flußufer entlang, da sagte er etwas Geringschätziges und Gemeines zu mir. O! O! Ich war wütend! Ich kochte vor Zorn! Ich nahm ihn auf den Arm wie ein kleines Kind – er war ja klein – hob ihn hoch und drückte ihn zusammen, daß er ganz blau wurde. Dann holte ich Schwung und schleuderte ihn vom Ufer in den Fluß. Er schrie. Es war zum Lachen, wie er schrie. Ich sah ihm von oben zu, wie er im Wasser strampelte. Dann bin ich weggegangen. Und nie wieder mit ihm zusammengetroffen. Darin hatte ich Glück. Ich hab diejenigen nie wiedergetroffen, die ich einmal geliebt habe. Das sind ungute Begegnungen wie mit längst Verstorbenen.«

Die Alte schwieg und seufzte. Ich stellte mir die Menschen vor, deren sie sich erinnert hatte. Da ging der feuerrote, schnurrbärtige Huzule zur Hinrichtung und rauchte gelassen seine Pfeife. Wahrscheinlich hatte er kalte, blaue Augen, die alles aufmerksam und genau betrachteten. Daneben der Fischer vom Pruth mit dem schwarzen Schnurrbart. Er weint, da er nicht sterben will; in seinem totenbleichen Gesicht blinzeln matt die einst fröhlichen Augen, und der von Tränen genäßte Schnurrbart hängt bekümmert um den schmerzverzerrten Mund. Dann der alte, würdevolle Türke, gewiß Fatalist und Despot, und daneben sein Sohn, eine blasse, empfindsame Blume des Orients, von Küssen vergiftet. Dort der eitle Pole, galant und grausam, beredt und kalt. Sie alle waren nur blasse Schatten, diejenige aber, die sie geküßt hatte, saß neben mir, lebendig, jedoch von der Zeit ausgedörrt, körperlos, blutleer, mit einem Herzen ohne Wünsche und Augen ohne Feuer – auch fast ein Schatten.

Sie fuhr fort:

»Ich hatte es schwer in Polen. Dort leben kaltherzige, falsche Menschen. Ich verstand ihre zischelnde Sprache nicht. Sie zischten immer. Was? Gott hat ihnen die zischende Sprache gegeben, weil sie falsch sind wie die Schlange. Ich wußte damals nicht wohin und sah, wie sie sich zum Aufstand gegen euch Russen rüsteten. Ich kam auch nach Bochnia. Ein Jude kaufte mich, nicht für sich, sondern um mich zu verkaufen. Ich ging darauf ein. Um zu leben, muß man etwas können. Ich konnte nichts, deshalb bezahlte ich mit mir. Aber ich sagte mir damals, daß ich die Ketten zerreißen würde, wie stark sie auch sein mochten, sobald ich etwas Geld hatte, um in meine Heimat an den Byrlad zurückzukehren. So blieb ich dort. Reiche Pans besuchten mich und speisten bei mir. Das kam sie teuer zu stehen. Manche stritten sich meinetwegen und richteten sich zugrunde. Einer bemühte sich lange um mich und machte einmal folgendes: Er brachte seinen Diener mit, der trug einen Sack. Den nahm der Pan ihm ab und schüttete ihn über mir aus. Goldmünzen prallten von meinem Kopf ab, und ich hörte vergnügt zu, wie es klang, wenn sie auf den Fußboden fielen. Dennoch jagte ich den Pan fort. Er hatte so ein dickes, feuchtes Gesicht und einen Bauch wie ein großes Kissen. Sein Blick glich dem eines satten Schweins. Ja, ich jagte ihn fort, obwohl er sagte, er habe sein ganzes Land, sein Haus und die Pferde verkauft, um mich mit Gold zu überschütten. Damals liebte ich einen vornehmen Pan mit zerhauenem Gesicht. Die Türken hatten es mit ihren Säbeln so zugerichtet, als er kurz zuvor auf Seiten der Griechen gegen sie gekämpft hatte. Das war ein Mann! Was gingen ihn als Polen die Griechen an? Aber er war mitgezogen und hatte gegen ihre Feinde gekämpft. Die hatten ihn so zerhauen, ein Auge war unter ihren Hieben ausgelaufen, an seiner linken Hand fehlten zwei Finger. Was gingen ihn als Polen die Griechen an? Der Grund war: Er liebte Heldentaten. Und wenn ein Mensch Heldentaten liebt, dann versteht er auch, sie zu vollbringen, und findet sie, wo immer es möglich ist. Weißt du, im Leben ist stets Platz für Heldentaten. Und diejenigen, die sie nicht finden, sind einfach Faulpelze oder Feiglinge, oder sie verstehen das Leben nicht, denn würden die Menschen das Leben verstehen, so würde jeder trachten, einen Schatten zu hinterlassen, wenn er einmal nicht mehr ist. Dann würde das Leben die Menschen nicht spurlos auffressen. Oh, der mit den Säbelnarben war ein guter Mensch! Er wäre ans Ende der Welt gegangen, um eine Tat zu vollbringen. Wahrscheinlich haben die Euren ihn während des Aufstands getötet. Warum seid ihr ausgezogen, die Ungarn zu schlagen? Ach, schweig schon!«

Sie hieß mich schweigen, verstummte mit einemmal selbst und sann nach.

»Ich hab auch einen Ungarn gekannt. Er ging einmal von mir weg – das war im Winter –, und erst im Frühjahr, als der Schnee taute, haben sie ihn auf dem Feld mit durchschossenem Kopf wiedergefunden. So ist das! Du siehst, die Liebe richtet nicht weniger Menschen zugrunde als die Pest. Wenn man nachzählt, sind's bestimmt nicht weniger. Wo bin ich stehen geblieben? Ach ja, in Polen. Dort hab ich mein letztes Spiel gespielt. Ich begegnete einem Schlachtschitzen. War der schön! Wie ein Teufel. Ich aber war schon alt, ach ja! Ich glaube, wohl schon vierzig Jahre? Ja, soviel müssen es gewesen sein. Und er war auch noch stolz und von uns Frauen verwöhnt. Er kam mich teuer zu stehen. Ja. Erst wollte er mich einfach nehmen, aber ich gab mich nicht hin. Nie bin ich eines anderen Sklavin gewesen, niemals. Das mit dem Juden war längst zu Ende, ich hatte ihm viel Geld gegeben. Und lebte auch schon in Krakau. Damals hatte ich alles: Pferde, Geld, Diener. Er kam immer wieder zu mir, dieser stolze Dämon, und wollte, daß ich mich ihm in die Arme warf. Wir stritten uns. Ich weiß, ich bin sogar häßlich geworden davon. Lange zog sich das hin. Aber ich behielt die Oberhand. Auf den Knien flehte er mich an. Kaum hatte er mich jedoch besessen, warf er mich auch schon wieder weg. Da begriff ich, daß ich zu alt war. Oh, diese Erkenntnis war alles andere als süß! Schließlich liebte ich diesen Teufel. Wenn er mich sah, lachte er, es war schon ein Schuft! Und er machte sich auch vor anderen über mich lustig, das wußte ich. Oh, das war bitter, das muß ich sagen! Aber er war wenigstens in meiner Nähe, und ich konnte mich an seinem Anblick erfreuen. Als er dann auszog, um gegen euch Russen zu kämpfen, wurde ich ganz krank. Ich kämpfte mit mir, konnte jedoch nicht standhaft bleiben. Und beschloß, ihm nachzufahren. Er lag in der Gegend von Warschau, im Wald.

Aber als ich ankam, erfuhr ich, daß die Euren sie schon geschlagen hatten . . . und daß er in Gefangenschaft war, in einem Dorf ganz in der Nähe.

Dann werde ich ihn nie wiedersehen, dachte ich. Aber ich wollte ihn sehen. Und setzte alles daran. Ich verkleidete mich als lahme Bettlerin und ging mit halbverhülltem Gesicht in das Dorf, wo er war. Überall waren Kosaken und Soldaten – es war keine leichte Sache, dort herumzustreichen! Ich brachte heraus, wo sich die Polen befanden, erkannte aber auch, daß ich schwer zu ihnen gelangen konnte. Aber es mußte sein. So schlich ich nachts zu der Stelle, wo sie waren. Ich kroch zwischen den Gemüsebeeten eines Gartens entlang, da sah ich einen Posten auf meinem Weg stehen. Schon hörte ich die Polen singen und laut reden. Sie sangen immer dasselbe Lied, von ihrer Mutter Gottes. Er sang auch mit, mein Arkadek. Voll Bitterkeit mußte ich daran denken, wie man früher mir nachgekrochen war. Jetzt war die Zeit gekommen, daß ich wie eine Schlange auf der Erde kroch, um zu einem anderen Menschen zu gelangen, und vielleicht den Tod fand. Der Posten hatte mich schon gehört und beugte sich vor. Was sollte ich tun? Ich erhob mich und ging auf ihn zu. Ich hatte nicht einmal ein Messer bei mir, hatte nichts außer meinen Händen und der Sprache. Ich bedauerte, kein Messer mitgenommen zu haben, und flüsterte: ›Warte doch!‹ Der Soldat hatte mir nämlich schon das Bajonett an die Kehle gesetzt. Ich flüsterte ihm zu: ›Stich mich nicht nieder, warte doch und hör mich an, wenn du eine Seele im Leib hast! Ich kann dir nichts geben und bitte dich . . .‹ Er senkte das Gewehr und sagte gleichfalls im Flüsterton: ›Scher dich weg, Weib! Was willst du hier?‹ Ich erzählte ihm, mein Sohn sei hier eingesperrt. ›Du verstehst, Soldat – mein Sohn! Du bist doch auch einer Mutter Sohn, nicht wahr? Also sieh mich an – ich hab genau so einen geboren, wie du bist, und er ist jetzt dort. Ich möchte ihn nur sehen, vielleicht muß er bald sterben. Vielleicht wirst auch du morgen getötet, wird deine Mutter dann nicht um dich weinen? Und auch dir wird das Sterben schwerfallen, wenn du sie nicht noch einmal gesehen hast, deine Mutter, nicht wahr? Meinem Sohn ergeht's genauso. Deshalb hab Mitleid mit mir, einer Mutter!‹

Oh, ich weiß nicht, wie lange ich ihm zuredete! Es regnete, wir wurden ganz naß. Der Wind heulte und fauchte und stieß mich bald in den Rücken, bald vor die Brust. Schwankend stand ich vor diesem Soldaten, aber er war gefühllos wie Stein und sagte nur immer ›Nein!‹ Und wann immer ich dieses kalte Wort hörte, brannte in mir um so heftiger das Verlangen, meinen Arkadek zu sehen. Ich redete und maß diesen Soldaten mit dem Blick. Er war klein und schmächtig und hustete fortwährend. Da fiel ich vor ihm auf die Erde, umfaßte seine Knie, flehte ihn weiter mit heißen Worten an und warf ihn zu Boden. Er fiel in den Schlamm. Ich drehte ihn schnell mit dem Gesicht zur Erde und drückte seinen Kopf in eine Pfütze, damit er nicht schrie. Er schrie auch nicht, zappelte nur fortwährend und versuchte, mich abzuschütteln. Ich drückte seinen Kopf mit beiden Händen tiefer in den Schlamm. Er erstickte. Da stürzte ich zum Speicher, wo die Polen sangen. ›Arkadek!‹ flüsterte ich durch einen Spalt in der Wand. Schlau waren sie, diese Polen – als sie mich hörten, fuhren sie dennoch fort zu singen! Dann sah ich Arkadeks Augen vor mir. ›Kannst du von hier weg?‹ ›Ja, übers Feld!‹ sagte er. ›Dann komm.‹ Vier von ihnen zwängten sich aus dem Speicher. Drei und mein Arkadek. ›Wo sind die Posten?‹ fragte er. ›Dort liegt einer!‹ Sie gingen leise und tief geduckt. Es regnete, der Wind heulte laut. Wir gelangten aus dem Dorf und gingen lange schweigend durch einen Wald. Wir beeilten uns. Arkadek hielt mich am Arm, seine Hand war heiß und zitterte. Oh! Mir war in seiner Nähe so wohl ums Herz, solange er schwieg. Das waren die letzten Minuten – die letzten schönen Minuten meines gierigen Lebens. Aber dann erreichten wir eine Wiese und blieben stehen. Sie bedankten sich alle bei mir. Oh, sie redeten lange und viel! Ich hörte zu und blickte nur immer auf meinen Pan. Was würde er tun? Und er umarmte mich und sagte ganz feierlich . . . Ich weiß nicht mehr, was er sagte, aber es sollte wohl heißen, daß er mich jetzt aus Dankbarkeit, weil ich ihn gerettet hatte, lieben würde. Und er kniete vor mir nieder und sagte lächelnd: ›Meine Königin!‹ So ein falscher Hund war das! Nun, da gab ich ihm einen Fußtritt und hätte ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen, aber er fuhr zurück und sprang auf. Ganz blaß vor Wut stand er vor mir. Auch die anderen drei standen düster und schwiegen. Ich sah sie mir an. Da wurde mir ganz traurig ums Herz – ich entsinne mich – und eine große Mattigkeit überkam mich. Ich sagte zu ihnen: ›Geht!‹ Da fragten mich diese Hunde: ›Du gehst wohl zurück und zeigst ihnen unseren Weg?‹ Solche Schufte waren das! Aber sie sind doch weitergegangen. Da bin auch ich gegangen. Am anderen Tag haben die Euren mich festgenommen, aber bald wieder freigelassen. Da erkannte ich, daß es für mich Zeit war, ein Nest zu bauen, oder sollte ich vielleicht ein Kuckucksdasein führen? Schwerfällig war ich geworden, meine Flügel waren schwach, mein Gefieder glänzte nicht mehr. Es wurde Zeit, es wurde Zeit! So fuhr ich nach Galizien und von dort in die Dobrudscha. An die dreißig Jahre lebe ich schon hier. Ich hatte auch einen Mann, einen Moldawier. Er ist vor einem Jahr gestorben. Nun lebe ich eben so wie jetzt! Allein. Nein, nicht allein, sondern mit denen da.«

Sie deutete mit einer Handbewegung zum Strand. Dort war alles ruhig. Manchmal erscholl ein kurzer, trügerischer Laut und erstarb sofort wieder.

»Sie lieben mich. Ich erzähle ihnen oft Verschiedenes. Sie brauchen das. Sie sind alle noch jung. Ich fühle mich wohl bei ihnen. Wenn ich sie mir ansehe, denke ich: Es gab mal eine Zeit, da warst du genauso, nur hatte der Mensch damals, zu meiner Zeit, mehr Kraft und Feuer, deshalb war das Leben lustiger und schöner. Jawohl!«

Sie verstummte. Mir war traurig zumute, wie ich so bei ihr saß. Sie schien halb zu schlummern, schaukelte leicht den Kopf hin und her und flüsterte leise – vielleicht betete sie.

Eine Wolke stieg über dem Meer auf – schwarz, schwer, mit düsteren Umrissen gleich einem Berggrat. Sie kroch in die Steppe. Von ihrer Oberseite lösten sich nacheinander Wolkenfetzen, strebten vorwärts und löschten die Sterne einen nach dem anderen. Das Meer begann zu rauschen. In unserer Nähe küßte sich jemand zwischen den Weinstöcken, wurde geflüstert und geseufzt. Tief in der Steppe heulte ein Hund. Die Luft reizte die Nerven mit einem seltsamen, in der Nase kitzelnden Duft. Die Wolken warfen einen dichten Schattenschwarm auf die Erde, er kroch darüber hin, verschwand und tauchte wieder auf. Wo der Mond stand, war nur ein trüber, opalener Fleck zu sehen, der manchmal völlig hinter einem blaugrauen Wolkenfetzen verschwand. Weit draußen in der Steppe, die jetzt schwarz und furchteinflößend aussah, als verkrieche sie sich und verberge etwas, loderten kleine, blaue Flämmchen auf. Sie erschienen kurz bald hier, bald da und erloschen, als suchten mehrere weit über die Steppe verstreuten Leute etwas und zündeten dabei Streichhölzer an, die der Wind sofort ausblies. Es waren höchst seltsame, bläulich züngelnde Flammen wie Irrlichter in einem Märchen.

»Siehst du die Funken dort?« fragte mich Isergil.

»Die hellblauen?« fragte ich und wies auf die Steppe.

»Hellblau? Ja, die. Also fliegen sie wieder. Weißt du, ich sehe sie schon nicht mehr. Ich kann jetzt vieles nicht mehr sehen.«

»Wo rühren sie her?« fragte ich.

Ich hatte schon einiges über die Herkunft dieser Flämmchen vernommen, wollte jedoch hören, was die alte Isergil darüber zu erzählen hatte.

»Die Flämmchen kommen von Dankos brennendem Herzen. Es gab einmal ein Herz auf dieser Welt, das eines Tages aufloderte. Und das sind die Funken davon. Ich will dir darüber erzählen. Es ist auch ein altes Märchen. Ein altes – alles ist alt! Siehst du, wie reich die alte Zeit an allem ist? Jetzt ist es längst nicht mehr so, jetzt gibt's weder die Taten, noch solche Menschen oder Märchen wie in alter Zeit. Warum? Nun, sag's mir! Du kannst es nicht. Was weißt du? Was wißt ihr überhaupt, ihr Jungen? Hehe! Ihr solltet euch die alte Zeit genau ansehen, da findet ihr die Lösung für alle Rätsel. Aber ihr seht nicht und versteht deshalb nicht zu leben. Sehe ich vielleicht das Leben nicht? Oh, ich sehe alles, obwohl meine Augen schlecht sind! Und ich sehe, daß die Menschen nicht leben, sondern nur immer abschätzen und abschätzen und das ganze Leben darauf verwenden. Und wenn sie sich selbst bestehlen, ihre Zeit vergeuden, dann fangen sie an, mit ihrem Schicksal zu hadern. Was hat das Schicksal damit zu tun? Jeder ist sein eigenes Schicksal! Ich sehe jegliche Menschen heutzutage, aber starke sind nicht darunter! Wo sind sie? Auch schöne Menschen werden immer seltener.«

Die Alte sann nach, wo die starken und schönen Menschen wohl geblieben waren, und betrachtete dabei die dunkle Steppe, als suche sie bei ihr Antwort.

Ich wartete auf ihre Erzählung und schwieg wohlweislich, um sie nicht durch eine Zwischenfrage wieder davon abzubringen.

Dann begann sie:

 

III

»In alter Zeit lebten auf der Erde nur die Menschen, undurchdringliche Wälder umgaben ihre Lagerstätten von drei Seiten, auf der vierten war Steppe. Es waren fröhliche, starke und kühne Menschen. Dann kam eine schwere Zeit: Andere Stämme tauchten auf und trieben die früheren tief in die Wälder. Dort waren Sümpfe und Finsternis, denn es war ein alter Wald, und seine Zweige waren so dicht verflochten, daß man den Himmel nicht sehen konnte und die Sonnenstrahlen im dichten Blattwerk kaum einen Durchschlupf zu den Sümpfen finden konnten. Erreichten sie dennoch das Wasser, so stieg übler Brodel auf, der die Menschen nacheinander dahinraffte. Da wehklagten die Frauen und Kinder dieses Stammes, die Väter aber sannen nach und fielen in Trauer. Sie mußten diesem Wald entrinnen, aber dafür gab es zwei Wege: Der eine führte zurück – dort lauerten starke und grimmige Feinde, der andere nach vorn – da standen riesige Bäume, die einander mit mächtigen Zweigen fest umarmten und die knotigen Wurzeln tief in den zähen Morast versenkten. Tagsüber ragten diese steinharten Riesen reglos schweigend in grauer Dunkelheit, abends, wenn die Lagerfeuer loderten, rückten sie noch enger um die Menschen. Und immerfort, Tag und Nacht, waren diese in einen engen Kreis anhaltender Dunkelheit eingeschlossen, die sich anschickte, sie zu zerdrücken; sie aber waren an die Weite der Steppe gewöhnt. Noch schrecklicher war, wenn der Wind die Wipfel der Bäume peitschte und der ganze Wald dumpf brauste, als drohe er ihnen und singe ein Totenlied für diese Menschen. Es waren dennoch starke Menschen, und sie hätten auf Tod oder Leben mit jenen kämpfen können, von denen sie einst besiegt worden waren, aber sie durften nicht im Kampf sterben, weil sie ein Vermächtnis zu hüten hatten, und würden sie sterben, so würde auch dieses mit ihnen zugrundegehen. Deshalb saßen sie zusammen und sannen in langen Nächten beim dumpfen Rauschen des Waldes, im giftigen Brodel des Sumpfes nach. Ihre von den Feuerstätten erzeugten Schatten huschten um sie in einem lautlosen Tanz, und allen war, als tanzten keine Schatten, sondern als triumphierten die bösen Geister des Waldes und Sumpfes. Lange saßen die Menschen und sannen nach. Aber nichts – weder Arbeit noch Frauen – zehrt mehr an Körper und Seele des Menschen als schwermütiges Nachdenken. Die Menschen waren bald ganz entkräftet davon. Angst keimte auf unter ihnen, lähmte ihre starken Arme, die Frauen weckten Entsetzen, wenn sie die vom giftigen Brodel Verstorbenen oder das Schicksal der von Angst gelähmten, noch Lebenden laut beweinten, und feigherzige Worte wurden im Wald vernehmbar, zuerst zaghaft und leise, dann immer lauter. Schon wollten sie zum Feind gehen und ihm ihre Freiheit als Tribut darbringen, schon fürchtete niemand mehr in seiner Todesfurcht, das Leben eines Sklaven zu führen. Da erschien Danko und rettete sie ganz allein.«

Die Alte hatte wohl schon häufig von Dankos loderndem Herzen erzählt. Sie redete in singendem Ton, und beim Klang ihrer schnarrenden, dumpfen Stimme vermeinte ich, deutlich das Rauschen des Waldes zu hören, in dem die unglücklichen, verfolgten Menschen vom giftigen Brodel des Sumpfes dahingerafft wurden.

»Danko ist so ein Mensch, ein junger, schöner Mann. Schöne Menschen sind immer mutig. So sagte er zu ihnen, seinen Gefährten:

›Nachdenken allein räumt den Stein nicht aus dem Weg. Wer nichts tut, der verändert nichts. Warum vergeuden wir unsere Kraft aufs Nachdenken und Trauern? Erhebt euch, wir dringen in den Wald und durchqueren ihn, denn er hat ein Ende – alles auf der Welt hat ein Ende! Gehen wir! Auf, ihr Leute!‹

Sie schauten ihn an und sahen, daß er der beste von allen war, denn aus seinen Augen leuchtete große Seelenstärke und lebendiges Feuer.

›Führ du uns!‹ sagten sie.

Da führte er sie.«

Die Alte schwieg und blickte in die Steppe, wo sich die Dunkelheit noch mehr verdichtete. In weiter Ferne flammten die Fünkchen von Dankos loderndem Herzen auf und sahen aus wie hellblaue Luftblüten, die nur für einen Augenblick erblühten.

»Danko führte sie. Sie folgten ihm einmütig, denn sie glaubten an ihn. Es war ein schwerer Weg! Dunkel war es, und bei jedem Schritt öffnete der Sumpf seinen gierigen, fäulnisatmenden Schlund und verschlang einige der Menschen, und die Bäume stellten sich ihnen als mächtige Mauer in den Weg. Ihre Zweige waren miteinander verschlungen; wie Schlangen krümmten sich überall Wurzeln, und jeder Schritt kostete die Menschen Schweiß und Blut. Sie gingen lange. Immer dichter wurde der Wald, immer mehr schwanden ihre Kräfte! Nun huben sie an, gegen Danko zu murren und sagten, er habe sie in seiner Jugend und Unerfahrenheit vergebens diesen Weg geführt. Er aber ging voran und war munter und guter Dinge.

Einmal jedoch brach ein Gewitter über dem Wald los, die Bäume raunten dumpf und drohend. Nun wurde es so dunkel im Wald, als hätten sich hier mit einemmal sämtliche Nächte versammelt, wie viele es auf der Welt auch gab, seit sie entstanden war. Im schrecklichen Krachen der Blitze zwängten sich die kleinen Menschen zwischen die riesigen Bäume und taumelten weiter, die Baumriesen knarrten und raunten zornige Lieder, und die über den Wipfeln zuckenden Blitze tauchten den Wald für einen Augenblick in kaltes, blaues Licht, erloschen ebenso schnell, wie sie aufgeflammt waren, und erfüllten die Menschen mit banger Furcht. Die vom kalten Licht der Blitze beleuchteten Bäume schienen lebendig zu sein, breiteten ihre knorrigen, langen Arme um die Menschen, die der Gefangenschaft der Finsternis entrinnen wollten, verflochten sich zu einem dichten Netz und versuchten, die Menschen festzuhalten. Etwas Schreckliches, Dunkles und Kaltes blickte auf die den Wald Durchquerenden. Es war ein mühevoller Weg, die Menschen waren erschöpft und ließen allen Mut sinken. Aber sie schämten sich des Eingeständnisses ihrer Schwäche und entluden ihren Zorn und ihre ohnmächtige Wut über Danko, dem Mann, der ihnen voranschritt. Sie warfen ihm vor, er sei unfähig, sie zu führen. Soweit war es gekommen!

Erschöpft und zornig blieben sie stehen und begannen, ihn unter dem triumphierenden Rauschen des Waldes zu verurteilen.

›Du bist ein nichtswürdiger Mensch, der uns Schaden zufügt! Du hast uns geführt, wir sind erschöpft, und dafür wirst du sterben!‹

›Ihr habt gesagt: Führe uns! – und ich hab euch geführt!‹ rief Danko und trat ihnen gegenüber. ›Ich habe den Mut, zu führen, deshalb habe ich es auf mich genommen! Ihr aber? Was habt ihr getan, um euch zu helfen? Ihr seid nur mitgegangen und habt nicht vermocht, eure Kräfte für einen längeren Weg einzuteilen! Ihr seid nur mitgegangen wie eine Herde Schafe!‹

Diese Worte erzürnten sie jedoch noch mehr.

›Sterben wirst du! Sterben!‹ brüllten sie.

Der Wald aber brauste fortwährend und pflichtete ihrem Geschrei bei, und die Blitze zerfetzten die Dunkelheit. Danko blickte diejenigen an, um derentwillen er die schwere Bürde auf sich genommen hatte, und sah, daß sie wie Tiere waren. Viele Menschen standen um ihn, aber ihre Gesichter zeigten keinen Edelmut, und er konnte von ihnen kein Erbarmen erwarten. Da flammte Entrüstung in seinem Herzen auf, erlosch jedoch wieder aus Mitleid mit ihnen. Er liebte die Menschen und glaubte, daß sie ohne ihn vielleicht umkommen würden. Und sein Herz loderte in inbrünstigem Verlangen, sie zu retten, auf einen leichteren Weg zu führen, und in seinen Augen leuchtete der Widerschein dieses machtvollen Feuers. Als die Menschen das sahen, glaubten sie, er sei rasend vor Wut, weil seine Augen so hell loderten, und blickten lauernd wie Wölfe in der Erwartung, daß er mit ihnen kämpfen wolle. Sie umringten ihn noch dichter, damit sie es leichter hatten, ihn zu ergreifen und zu töten. Er aber erriet ihre Gedanken, und davon loderte sein Herz noch heller auf; denn diese ihre Absicht erfüllte ihn mit Schmerz.

Der Wald aber sang noch immer sein düsteres Lied, der Donner rollte, und der Regen prasselte.

›Was kann ich für die Menschen tun?‹ rief Danko lauter als der Donner.

Und plötzlich öffnete er sich mit den Händen die Brust, riß sein Herz heraus und hielt es hoch über seinen Kopf.

Es loderte so hell wie die Sonne, und heller als die Sonne, und der ganze Wald verstummte im Schein dieser Fackel einer großen Liebe zu den Menschen; die Dunkelheit wich vor dem Lichtschein zurück und stürzte tief im Wald zuckend in den fauligen Rachen des Sumpfes. Die Menschen aber standen wie versteinert und staunten.

›Wir gehen weiter!‹ rief Danko, stellte sich wieder an ihre Spitze, hielt sein brennendes Herz hoch und beleuchtete den Menschen den Weg.

Sie folgten ihm wie gebannt. Da begann der Wald wieder zu rauschen, die Wipfel schwankten verwundert, aber das Rauschen wurde übertönt durch das Trappen der dahineilenden Menschen. Alle liefen nun schnell und unverzagt, angezogen durch das wundersame Schauspiel des lodernden Herzens. Wohl kamen auch jetzt noch einige um, aber ohne Klagen und Tränen. Und Danko ging immer voran, und sein Herz loderte und loderte!

Und plötzlich trat der Wald vor ihm auseinander, blieb als feste, stumme Mauer hinter ihnen, und Danko und all jene Menschen tauchten in ein Meer von Sonnenlicht und reiner, vom Regen gewaschener Luft. Das Gewitter lag dort hinter ihnen, über dem Wald, und hier schien die Sonne, seufzte die Steppe, glitzerte das Gras im funkelnden Glanz des Regens, schimmerte golden ein Fluß. Es war Abend, und die Strahlen der untergehenden Sonne färbten ihn rot wie das Blut, das in einem heißen Strahl aus Dankos aufgerissener Brust brach.

Der stolze, kühne Danko blickte voraus in die weite Steppe, ließ einen freudigen Blick über das freie Land schweifen und lachte stolz. Dann fiel er zu Boden – und starb.

Die Menschen aber waren so von Freude und Hoffnung erfüllt, daß sie seinen Tod gar nicht bemerkten und nicht sahen, wie neben seinem Leichnam sein kühnes Herz loderte. Einer nur, ein vorsichtiger Mann, bemerkte es und trat in unbestimmter Furcht mit dem Fuß auf das stolze Herz. Da zersprühte es in unzähligen Funken und erlosch.

Daher rühren sie, die blauen Funken der Steppe, die stets vor einem Gewitter erscheinen!«

Jetzt, da die Alte ihre wundersame Legende beendet hatte, wurde es ungeheuer still in der Steppe, als sei sie ganz betroffen von der Kraft des kühnen Danko, der sein Herz für die Menschen entzündet hatte und gestorben war, ohne sich von ihnen eine Belohnung zu erbitten. Die Alte schlummerte ein wenig. Ich schaute sie an und dachte: Wieviel Sagen und Erinnerungen hat sie in ihrem Gedächtnis noch aufbewahrt? Und ich dachte an Dankos großes, loderndes Herz und die menschliche Phantasie, die so viele schöne und kraftspendende Legenden geschaffen hat.

Der Wind wehte und entblößte die dürre Brust der in Lumpen gehüllten alten Isergil, die nun fest schlief. Ich deckte ihren alten Körper zu und legte mich neben sie auf die Erde. In der Steppe war es still und dunkel. Noch immer krochen Wolken über den Himmel, langsam, träge. Das Meer rauschte dumpf und traurig.

 


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