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Als der Schlitten den Waldsaum erreicht hatte, erhob Issai sich ein wenig vom Bock, sah mit vorgerecktem Hals in die Ferne und sagte: »Ach, zum Teufel – es scheint zu treiben!«
»Nicht möglich!«
»Doch wirklich . . ., es bewegt sich . . .«
»Fahr schneller!«
»Eh, du Tr-ransuse!«
Das kurze dicke Tier mit der Pudelwolle und den Ohren eines Esels sprang, vom Peitschenstiel an der Kruppe getroffen, seitwärts vom Wege ab, blieb stehen und trat, gekränkt mit dem Kopfe wackelnd, auf der Stelle.
»He! Ich werde dir kokettieren helfen!« schrie Issai und riß an der Leine.
Der Psalmenleser Issai Mjakinnikow war ein mißgestalteter Mensch von vierzig Jahren. Auf der linken Wange und unter der Kinnlade wuchs ihm ein rotblonder Bart, auf der rechten Seite dagegen hatte sich eine mächtige Geschwulst gebildet, die das Auge verdeckte und wie ein faltiges Säckchen auf die Schulter herabhing. Dieser Mann, ein fürchterlicher Säufer und nicht übler Philosoph und Spötter, fuhr mich jetzt zu seinem Bruder, meinem Freunde, einem Dorfschullehrer, der an der Schwindsucht im Sterben lag. In fünf Stunden hatten wir keine zwanzig Werst zurückgelegt, weil der Weg so scheußlich war und das phantastische Tier, das uns zog, einen schlechten Charakter hatte. Issai gab ihm die sonderbarsten Namen, wie böser Geist, Mühlstein, Schrittgänger, wobei jeder gleich gut zu diesem Pferde paßte, da er treffend die eine oder andere Besonderheit seines Äußeren oder seines Charakters hervorhob. Auch unter den Menschen begegnet man häufig solchen komplizierten Geschöpfen, die man beliebig nennen kann – alles paßt, nur der Name Mensch paßt nicht.
Über uns hing der graue Himmel voll schwerer Wolken, ringsum breiteten sich Wiesen mit vielen abgetauten dunklen Stellen aus. Etwa drei Werst vor uns erhoben sich die bläulichen Höhen des Bergufers der Wolga, der schwere Himmel stützte sich auf sie. Der Fluß war hinter der zottligen Mähne des Ufergebüsches nicht zu sehen. Der Wind wehte von Süden, das Wasser in den Pfützen kräuselte sich und schnitt Grimassen, in der Luft wiederholte sich immer derselbe trostlose rauhe Ton – das Glucksen des Morastes unter den Pferdehufen.
»Wir werden nicht über den Fluß können«, wiederholte Issai, vom Bock aufspringend. »Und Jakow wird nicht warten und sterben . . . Dann kommt bei unserer ganzen Reise nichts weiter heraus, als daß wir uns nutzlos abgerackert haben . . . Aber selbst wenn wir ihn noch am Leben antreffen, was hat es für Nutzen? Er wird nur aufgehalten, und nichts weiter . . . In der Sterbestunde muß man sich nicht vor den Augen des Scheidenden aufpflanzen, man muß den Menschen allein lassen, um den Blick in sein Inneres nicht auf Nebensachen abzulenken . . . In der Sterbestunde muß der Mensch in die Tiefe seines Herzens sehen und nicht auf Nichtigkeiten, und der Lebende ist für einen Sterbenden nur eine Nichtigkeit und etwas Überflüssiges . . . Zugegeben, es ist nun einmal Brauch, daß am Sterbelager die Angehörigen dessen stehen, der dies irdische Jammertal verläßt . . . Wenn man die Sache aber mit dem Verstand überlegt und nicht bloß mit dem Hirn in unsrer großen Zehe, dann stellt sich doch heraus, daß dieser Brauch weder den Lebenden noch den Toten von Nutzen ist, sondern nur eine überflüssige Quälerei für das Herz. Der Lebende soll gar nicht daran denken, daß es einen Tod gibt, der ihn erwartet . . . Das schadet dem Lebenden, weil es einen Schatten auf seine Freuden wirft . . . Du Klotz von einem Teufel, beweg doch deine Beine! Hü!«
Issai sprach eintönig mit rauher, heiserer Stimme, und der ungestalte lange Mensch, der in einen zerlöcherten weiten braunen Bauernrock gehüllt war, schaukelte plump auf dem Bock hin und her, bald hüpfte er auf, bald bog er sich von einer Seite zur andern, beugte sich vornüber und warf sich nach hinten zurück. Der breitrandige Hut, ein Geschenk des Geistlichen, war unter dem Bart mit schmalen Bändern festgebunden, und der Wind blies Issai die Enden ins Gesicht.
Der Psalmenleser schüttelte seinen spitzen Kopf, der Hut rutschte ihm immer wieder in die Augen, und die Schöße seines Rockes blähten sich im Wind. Issai drehte sich hin und her, krümmte sich, schimpfte, und ich betrachtete ihn und dachte darüber nach, wieviel Energie der Mensch im Kampf mit Kleinigkeiten verbraucht. Wenn die widerlichen Würmer der täglichen kleinen Tücken uns nicht überwältigen, würden wir die schrecklichen Schlangen unserer Unglücksfälle leicht zertreten.
»Es ist Eisgang!« rief Issai niedergeschlagen.
»Siehst du es?«
»Ich sehe Pferde zwischen Sträuchern und Menschen daneben – also kann man nicht hinüberfahren!«
»Vielleicht werden wir irgendwie übersetzen!«
»Rede du! Natürlich werden wir übersetzen, wenn der Eisgang vorüber ist. Und was machen wir bis dahin? Das ist es eben . . . Und außerdem – Hunger hab ich! Solchen Hunger hab ich, daß ich's mit Worten gar nicht ausdrücken kann. Ich sagte dir doch: Wollen wir etwas essen . . . Nein, fahr mich erst . . . Da hab ich dich nun hergefahren!«
»Hunger hab ich auch . . . Hast du gar nichts mitgenommen?«
»Wenn ich es doch vergessen hab!« erwiderte Issai böse.
Ich sah an seinem Rücken vorbei aus dem Schlitten und erblickte eine Kalesche mit einem Dreigespann und einen geflochtenen Stuhlwagen mit zwei Pferden davor. Die Pferde waren uns zugewandt, und neben ihnen standen einige Gestalten: ein großer Mann mit rötlichblondem Schnurrbart und einer Dienstmütze mit rotem Band, ein anderer in pelzgefüttertem schwarzem Überrock mit langen Schößen.
»Der Semstwo-Vorsteher Suschtschow, und das ist der Mühlenbesitzer Mamajew«, raunte Issai mir zu, indem er sich halb zu mir umdrehte, und befahl seinem Pferd in ehrerbietigem Ton: »Prr, Fanatiker! . . . Wir sind also zu spät gekommen?« wandte er sich, die Mütze vom Kopf schiebend, an den dicken Kutscher neben der Troika.
Der Kutscher warf einen mürrischen Blick auf seinen kahlen eiförmigen Schädel und kehrte sich schweigend ab.
»Wir haben es verpaßt«, antwortete der Kaufmann Mamajew lächelnd. Er war ein kleiner beleibter Mann mit rotem Gesicht und gaunerhaft schmeichelnden Augen.
Der Semstwo-Vorsteher rauchte, den Ellbogen auf den Kotflügel seiner Kalesche gestützt, zwirbelte seinen Schnurrbart und blickte zwischendurch verstohlen zu uns hin. Außer diesen waren noch zwei Personen da: Mamajews Kutscher, ein langer Kerl mit lockigem Haar und einem sehr breiten Mund, und ein Bäuerchen auf krummen Beinen in eng gegürtetem zerrissenem Halbpelz. Er hatte sich vor uns verbeugt und war wie erstarrt in dieser Stellung stehengeblieben. Sein runzliges kleines Gesicht war mit dünnem grauem Bartwuchs bedeckt, und die schmalen Lippen waren zu einem Lächeln geformt, in dem Ehrerbietung und Spott, Dummheit und Durchtriebenheit vereinigt waren. Er hockte wie ein Affe auf dem Boden, drehte seinen Kopf langsam bald hierhin, bald dahin und beobachtete alle, ohne die Lider zu heben. Aus den zahllosen Löchern seines Halbpelzes quollen Fetzen schmutzigen Schaffells, und die ganze Erscheinung des Bauern machte einen seltsamen Eindruck: Er sah wie zerkaut aus, als wäre er eben einem gewaltigen Rachen entronnen, der ihn hatte auffressen wollen . . . Wir standen hinter einem hohen Sandhügel, der uns gegen den Wind schützte und den Fluß vor uns verbarg.
»Will mal nachschauen, wie die Dinge stehn«, sagte Issai und erstieg den Hügel. Mürrisch folgte ihm der Semstwo-Vorsteher, darauf der Kaufmann und ich. Das Bäuerchen ließ sich auf alle viere nieder und krabbelte ebenfalls hinauf. Als wir den Gipfel erreicht hatten, setzten wir uns alle, finster wie die Raben, hin. Etwa vier Arschin vor uns und drei Sashen unter uns lag der Fluß wie ein breiter graublauer Streifen voller Runzeln und Schwären und Höcker in kleine Stücke zerriebenen Eises. Wie Schorf bedeckte ihn das Eis, das sich langsam, aber mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts bewegte. Ein Knarren und Knirschen erfüllte die Luft, die kalt und feucht war.
»Kirilka!« rief der Semstwo-Vorsteher den Bauern.
Das Bäuerchen sprang auf die Füße, riß die Mütze vom Kopf und verbeugte sich vor dem Vorsteher so tief, als hielte er ihm seinen Kopf zum Enthaupten hin.
»Was denkst du, wird es bald?«
»Es wird nicht lange dauern, Euer Wohlgeboren, gleich wird es sich stauen . . . Belieben Sie zu sehen, wie es sich durchzwängen will? Bei den dichten Massen muß es sich stauen . . . Dort, eine Werst oberhalb ist eine Sandbank. Wenn es sich da auftürmt, ist die Sache gemacht. Alles hängt von der großen Eisscholle ab . . ., wenn die Scholle an der engen Stelle bei der Sandbank steckenbleibt, dann ist das ein Hindernis! Sie wird eingezwängt und der ganze Eisgang dadurch aufgehalten.«
»Na schön . . .«
Der Bauer schmatzte und schwieg.
»Nein, weiß der Teufel, was man dazu sagen soll!« begann der Semstwo-Vorsteher erregt, »ich habe dir doch gesagt, du Idiot, bringt zwei Boote auf diese Seite herüber, nicht? Hab ich dir das gesagt?«
»Ja, das haben Sie gesagt«, antwortete der Bauer schuldbewußt.
»Na also, und du?«
»Ich hab es nicht geschafft, weil der Fluß so mit einemmal aufgegangen ist.«
»Dummkopf! Nein«, wandte sich der Vorsteher an Mamajew, »dieser Esel ist absolut nicht imstande zu begreifen, was man sagt!«
»Man sagt ja, die Mushiks«, lispelte Mamajew mit verbindlichem Lächeln, »sind Wilde, ein stumpfsinniges Volk. Aber jetzt können wir von den Bemühungen der Semstwos und der Ausdehnung ihres Schulnetzes Aufklärung und Bildung erwarten . . .«
»Schulen – ja! Lesestuben, Laternen – wunderschön! Ich habe volles Verständnis dafür . . . Aber wenn ich auch kein Gegner der Volksbildung bin, wie Sie wissen, so meine ich doch, eine kräftige Züchtigung mit Ruten erzieht schneller und kostet weniger . . ., jawohl! Für die Ruten braucht der Bauer nichts zu bezahlen, aber für die Volksbildung wird er mehr geschunden als früher mit Rutenstreichen. Vorläufig wird er durch die Volksbildung nur ruiniert, das ist meine Meinung . . . Ich sage jedoch nicht: Gebt ihm keine Schulbildung, ich sage nur: Schont ihn, wartet ab . . .«
»Vollkommen richtig!« rief der Kaufmann voller Befriedigung aus. »Man müßte warten, denn der Bauer hat es augenblicklich sehr schwer . . . Mißernten, Krankheiten, seine Schwäche für den Branntwein, das alles packt ihn sozusagen an der Wurzel, und da kommt man mit Schulen und Lesestuben . . . Was ist unter solchen Verhältnissen bei ihm zu holen? Gar nichts ist bei ihm zu holen, das können Sie mir schon glauben!«
»Das müssen Sie wohl wissen, Nikita Pawlytsch«, sagte Issai überzeugt in höflichem Ton und stieß einen frommen Seufzer aus.
»Und ob! Seit siebzehn Jahren habe ich mit den Bauern zu tun. Was den Schulunterricht betrifft, so bin ich der Meinung: Wenn er zu einem günstigen Zeitpunkt eingeführt wird, kann er jedem Menschen Nutzen bringen . . . Aber wenn mein Bauch, entschuldigen Sie, leer ist, dann will ich nichts lernen, außer wie man stehlen kann . . .«
»Wozu brauchen Sie noch zu lernen!« rief Issai ehrerbietig und schmeichelnd aus.
Mamajew warf einen Blick auf ihn und verzog den Mund.
»Hier haben wir einen Bauern. Kirilka!« rief der Semstwo-Vorsteher. »Hier ist ein Bauer«, wandte er sich mit einer gewissen Feierlichkeit im Gesichtsausdruck und im Ton an uns. »Das ist kein Dutzendbauer, den ich Ihnen hier vorstelle – eine Bestie, wie es wenige gibt! Als der ›Grigorij‹ brannte, hat er, dieser Vagabund, eigenhändig sechs Fahrgäste gerettet, hat im Spätherbst vier Stunden ununterbrochen unter Lebensgefahr nachts im Sturm im Wasser gepanscht . . . Er rettete sie und verschwand . . ., man sucht ihn, will ihm danken, ihm eine Rettungsmedaille verschaffen . . ., und unterdessen stiehlt er Holz aus dem Staatsforst und wird auf frischer Tat ertappt! Er versteht zu wirtschaften, ist geizig, hat seine Schwiegertochter ins Grab gebracht und wird von seiner alten Frau mit einem Holzscheit verprügelt. Er ist ein Säufer und dabei sehr fromm, singt im Kirchenchor mit . . . Hat auch eine gute Bienenzucht, und bei alldem ist er ein Dieb! Als ein Lastkahn hier auf kleinere Fahrzeuge umladen mußte, wurde er beim Diebstahl von drei Kisten Rosinen ertappt. Wollen Sie sich, bitte, das Wesen ansehen!«
Wir sehen uns den talentvollen Bauern aufmerksam an. Er stand mit niedergeschlagenen Augen vor uns und schniefte. Um seinen Mund zuckten zwei Fältchen, aber die Lippen waren fest aufeinandergepreßt, und sein Gesicht drückte rein gar nichts aus.
»Wollen wir ihn also fragen! Kirilka, sag, welchen Nutzen bringen die Schulen, das Lesen und Schreiben?«
Kirilka holte tief Luft, schmatzte und sagte kein Wort.
»Na, du kannst doch lesen und schreiben«, begann der Semstwo-Vorsteher in strengerem Ton, »du mußt doch wissen, geht es dir besser, seit du lesen kannst?«
»Kommt alles vor«, sagte Kirilka und ließ den Kopf noch tiefer hängen.
»Nun ja, aber du liest doch, was für einen Nutzen hast du also davon?«
»Nutzen natürlich nicht . . ., daß man ihn sozusagen direkt greifen kann . . ., aber wenn man es überlegt . . ., es wird vielleicht unterrichtet zum Nutzen für die . . .«
»Wer sind ›die‹?«
»Die Lehrer vielleicht . . ., das Semstwo sozusagen und überhaupt . . ., die Obrigkeit!«
»Du bist doch ein Dummkopf! Du selbst, hast du einen Nutzen davon?«
»Wie es beliebt, Euer Wohlgeboren . . .«
»Wem beliebt?«
»Ihnen sozusagen als Vorsteher . . .«
»Pack dich!«
Seine Schnurrbartenden zitterten, und er wurde ganz rot im Gesicht.
»Da sehen Sie, nichts hat er gesagt, aber seine Antwort ist klar. Nein, meine Herren, bevor man den Bauer das Abc lehrt, muß man ihm Zucht beibringen! Er ist ein verdorbenes Kind, das stimmt! Aber er ist auch die Grundlage, verstehen Sie, das Fundament der Staatspyramide . . ., und plötzlich gerät das ins Wanken! Sie begreifen den Ernst eines solchen . . ., äh . . ., äh . . ., Mißstandes?«
»Es ist klar«, sagte Mamajew, »man muß tatsächlich für eine Festigung . . .«
Da ich mich ebenfalls für das Schicksal des Bauern interessiere, beteiligte ich mich auch am Gespräch, und bald waren wir vier in eine hitzige Debatte über sein Schicksal vertieft. Unser aller wahrer Beruf ist, Verhaltungsregeln für unsere Nächsten aufzustellen, und die Prediger, welche uns des Egoismus beschuldigen, sind im Unrecht, denn im eigennützigen Bestreben, die Menschen gebessert zu sehen, vergessen wir uns selbst.
Während wir stritten, wälzte sich der Fluß wie eine riesige Schlange an unseren Augen vorbei und rieb sich sein kaltes graues Schuppenkleid am Ufer.
Auch unser Gespräch wand sich wie eine Schlange, wie eine gereizte Schlange, welche sich von einer Seite auf die andere wirft in dem Bestreben, zu ergreifen, was sie braucht und was ihr immer wieder entschlüpft. Uns entglitt beständig der Gegenstand unseres Gesprächs, der Bauer. Wer ist er? Er saß nicht weit von uns im Sand und machte ein gleichgültiges Gesicht.
Mamajew sagte: »Nein, meine Herren, er ist nicht dumm! Er ist durchaus kein Dummkopf . . ., er geht keinem so leicht auf den Leim . . .«
Der Semstwo-Vorsteher geriet in Erregung: »Ich sage nicht: dumm! Ich sage: undiszipliniert! Er lebt ohne die ihm als Unmündigem gebührende Vormundschaft – das ist die Wurzel der Mißstände in seinem Leben . . .«
»Wenn ich meine Meinung äußern darf, so glaube ich, daß er nicht so uneben ist! Ein Geschöpf Gottes wie alle andern . . . Aber, entschuldigen Sie, er ist durcheinander geraten . . . Infolge der Unordnung in seinem Leben hat er alle Hoffnung verloren . . .«
Dies sagte Issai. Er sprach mit einer ehrerbietigen, öligen Stimme, lächelte süß und seufzte; seine Äuglein wurden vor Schüchternheit schmal und wagten nicht geradeaus zu sehen; seine Geschwulst aber zitterte, als wäre sie voller Lachen, das heraus wollte und nicht durfte. Ich behauptete dagegen, daß der Bauer einfach Hunger habe und daß er, wenn man ihm genug zu essen gäbe, sich bestimmt bessern würde.
»Sie sagen, er hat Hunger?« rief der Semstwo-Vorsteher gereizt. »Aber zum Teufel, warum? Man muß begreifen, warum er Hunger hat. Warum, um Gottes willen, hat er vor vierzig, fünfzig Jahren nicht gewußt, was Hunger ist? Ich sage . . ., ich . . ., ich habe jetzt selbst Hunger! Ja, zum Teufel, im Augenblick habe ich selbst Hunger, und das verdanke ich ihm! Ha! Wie gefällt Ihnen das? Ich hatte angeordnet, Boote auf diese Seite überzusetzen und mich zu erwarten . . . Ich komme an . . . Ja, da sitzt Kirilka. Pfui! Nein, ich sage Ihnen, das sind einfach Idioten . . .«
»In der Tat, es wäre sehr angenehm, jetzt etwas zu essen!« sagte Mamajew melancholisch.
»Tja«, seufzte Issai.
Und wir alle, die wir uns im Disput ereifert und einander mehrfach böse angefaucht hatten, schwiegen, einig in dem Wunsch nach Essen, und sahen Kirilka an, der unter unseren Blicken die Achseln zuckte und langsam die Mütze vom Kopf zog . . .
»Wie konntest du denn nur so mit dem Boot, Freund?« sagte Issai vorwurfsvoll.
»Was hilft denn das Boot? Wenn es auch da wäre, man kann es doch nicht essen«, antwortete Kirilka schuldbewußt.
Wir drehten ihm alle vier den Rücken.
»Sechs Stunden sitze ich schon hier«, erklärte Mamajew nach einem Blick auf seine goldene Uhr, die er aus der Tasche gezogen hatte – aus seiner eigenen Tasche, muß ich hinzufügen.
»Bitte, da sehen Sie es ja!« rief der Semstwo-Vorsteher erregt und bewegte seinen Schnurrbart. »Und diese Bestie sagt, das Eis wird sich bald stauen . . . Du! Wird es nun bald?«
Augenscheinlich setzte der Semstwo-Vorsteher voraus, daß Kirilka gewissermaßen Gewalt über den Fluß und den Eisgang habe, und es war klar, daß Kirilka tatsächlich schuld daran war, denn die Frage des Vorstehers brachte alle seine Gliedmaßen in Bewegung. Kirilka begab sich bis an den äußersten Rand des Hügels, hielt die Hand schützend über die Augen und sah mit gerunzelter Stirn in die Ferne. Dabei zuckte er, wer weiß, warum, mit dem linken Bein und bewegte die Lippen, als ob er dem Fluß eine Beschwörungsformel zuflüsterte.
Das Eis trieb in kompakter Masse vorwärts, die bläulichen Eisschollen schoben sich mit dumpfem Geräusch übereinander, zerbrachen, krachten und zerfielen in kleine Stücke. Zuweilen wurde zwischen ihnen das trübe Wasser sichtbar und verschwand wieder unter der Eisdecke. Es war, als ob ein Riesenleib von Aussatz befallen und voller Schorf und Wunden vor uns läge und eine unsichtbare Riesenhand ihn von den schmutzigen Schuppen reinigte, und nach wenigen Minuten würde der Fluß sich von den schweren Banden befreit haben und breit, mächtig und herrlich vor uns erscheinen, seine Wogen würden blitzend unter dem Eis und Schnee hervorkommen, und die Sonne würde die schweren Wolken zerreißen und freudig und strahlend auf ihn herabsehen.
»Jetzt ist es gleich soweit, Euer Wohlgeboren«, rief Kirilka lebhaft. »Es wird schon weniger – dort hinten! Dort bei der Sandbank!« Er streckte die Hand mit der Mütze aus und wies in die Ferne, in der ich nichts sah als Eis.
»Ist es weit bis Olchowaja?«
»Wenn man ganz geradeaus geht, an die fünf Werst, Euer Wohlgeboren . . .«
»T-teufel! . . . Hm, hast du vielleicht irgend etwas mit? Kartoffeln oder Brot?«
»Brot? . . . Ja, Brot hab ich . . ., Kartoffeln nicht . . . Sind dies Jahr nicht gewachsen, die Kartoffeln . . .«
»Hast du das Brot bei dir?«
»Das Brot? Hier auf der Brust unter dem Hemd . . .«
»Was zum Teufel trägst du es unter dem Hemd?«
»Es ist ja nicht viel, Euer Wohlgeboren, nur an zwei Pfund . . ., und dann ist es davon wärmer . . .«
»Eh, du Dummkopf . . . Man hätte den Kutscher vorhin schon nach Olchowaja schicken sollen! Daß man vielleicht Milch bekommen hätte . . . Aber der hier wiederholte ja in einem fort: ›Gleich, gleich . . .‹ So was Scheußliches!«
Der Semstwo-Vorsteher begann wütend an seinem Schnurrbart zu zerren, während Mamajew zärtlich auf die Brust des Bauern starrte. Dieser stand mit gesenktem Kopf da und hob langsam die Hand mit der Mütze zum Kopf. Issai machte Kirilka irgendwelche Zeichen mit den Händen; der Bauer sah ihn an und bewegte sich dann geräuschlos auf ihn zu, die Augen auf den Rücken des Vorstehers gerichtet.
Es kam immer weniger Eis. Zwischen den Eisschollen zeigten sich Spalten gleich Runzeln auf einem faden, blutleeren Gesicht. Durch ihr Spiel verliehen sie dem Fluß bald diesen, bald jenen Ausdruck: Er sah immer gleich weise, gleich kalt aus, aber bald traurig, bald spöttisch, bald schmerzverzerrt. Unbeweglich und gelassen schaute die feuchte Wolkenmasse dem Spiel des Eises zu; das Schurren der Eisschollen im Sande klang wie zaghaftes Flüstern und stimmte trostlos.
»Gib mir etwas Brot, Bruder!« hörte ich Issais unterdrücktes Flüstern.
Gleichzeitig räusperte sich Mamajew kräftig, und der Semstwo-Vorsteher sagte ärgerlich und laut: »Kirilka, gib das Brot her!«
Das Bäuerchen riß mit der einen Hand die Mütze vom Kopf, griff mit der anderen unter sein Hemd, legte das Brot in die Mütze und reichte es mit einer tiefen Verbeugung dem Vorsteher. Dieser nahm das Brot, betrachtete es angewidert und sagte mit einem säuerlichen Lächeln unter seinem Schnurrbart zu uns: »Wie ich sehe, sind wir alle Prätendenten auf dieses Stück Brot, und wir haben alle das gleiche Recht darauf – das Recht von Menschen, die essen wollen . . . Was meinen Sie? Teilen wir es unter uns, dieses kärgliche Mahl . . . Hol's der Teufel, das ist doch eine lächerliche Situation . . ., aber ob Sie es nun glauben, in der Hast, noch rechtzeitig herzukommen, habe ich mich so beeilt . . . Darf ich bitten?«
Er brach sich etwas ab und reichte das Brot Mamajew. Der Kaufmann kniff die Augen zusammen, legte den Kopf auf die Seite, schätzte das Stück und schnitt sich umständlich sein Teil ab. Den Rest nahm Issai und teilte ihn mit mir. Wir setzten uns wieder in eine Reihe und kauten einträchtig und schweigend dieses Brot, obgleich es wie Lehm aussah, nach schweißigem Lammfell und Sauerkohl roch und . . . einen unbeschreiblichen Geschmack hatte.
Ich aß und beobachtete, wie der Fluß die schmutzigen Fetzen seines Winterkleides trug.
»Bitte«, sagte der Semstwo-Vorsteher und sah vorwurfsvoll auf das Stück Brot in seiner Hand, »das soll Brot sein! Während der Bauer im Ausland Wein, Käse, Weizenbrot hat, ißt unser Bauer . . . dieses ekelhafte Zeug. Spreu enthält es und eine undefinierbare Säure – und davon nähren sie sich am Vorabend des zwanzigsten Jahrhunderts! Und warum?«
Da die Frage an Mamajew gerichtet war, tat dieser einen schweren Seufzer und antwortete bescheiden: »Der Ertrag ist nicht danach. Es reicht nicht . . .«
»Der Boden ist sozusagen erschöpft . . .«
»Hören Sie mir damit auf! Diese Reden von der Erschöpfung des Bodens sind nichts als eine Erfindung der Semstwo-Statistiker . . .«
Kirilka seufzte und setzte die Mütze auf dem Kopf zurecht.
»Du, sag mal, trägt der Boden?« wandte sich der Vorsteher an ihn.
»Ja, sehen Sie . . ., das ist mal so, mal so . . ., wenn er Kraft hat, dann trägt er, soviel man sich wünschen kann!«
»Keine Ausflüchte! Sag geradeheraus: trägt er?«
»Das heißt . . ., vielleicht, wenn . . .«
»Du lügst!«
»Wenn man Hand anlegt, dann trägt er ganz gut . . .«
»Aha! Sie haben es gehört: Hand anlegen! Also weshalb trägt er nicht, weil niemand da ist, der Hand anlegt . . . Was sehen wir? Trunksucht und Liederlichkeit . . . Trägheit. Es fehlt einer, der anordnet. Im Fall von Mißernten springt die Semstwo-Organisation ein: Da hast du, Lieber, säe; da hast du, Lieber, iß! Nein, das ist keine Ordnung! Warum hat denn der Boden bis zum Jahre 61 getragen? Weil im Falle von Mißernten unser Täubchen, das heißt der Bauer, sofort eine freundliche Aufforderung bekam: ›Wie habt ihr gepflügt? Wie habt ihr gesät?‹ Dann bekam er Saatgut: ›Hier, säe!‹ Und der Boden trägt, oh, glauben Sie mir! Jetzt aber, wo er von der Semstwo-Organisation verhätschelt wird, hat er alle seine Fähigkeiten versteckt, weil er nicht weiß, wie er sie zu seinem eigenen Vorteil gebrauchen könnte, und keiner da ist, der ihm das zeigt . . .«
»Ja, wirklich, der Gutsbesitzer konnte alles befehlen, was er wollte«, sagte Mamajew mit Überzeugung. »Er machte aus den Bauern, was er wollte . . .«
»Ja, Musikanten, Maler, Tänzer, Schauspieler . . .«, fiel der Semstwo-Vorsteher lebhaft ein. »Alles, was er wollte!«
»Es ist wahr! Ich erinnere mich auch, als ich noch ein kleiner Bengel war . . ., da war bei uns . . ., beim Grafen . . ., unter dem Gesinde einer, ein Nachmacher sozusagen . . .«
»Ja?«
»Alles konnte er nachmachen! Nicht bloß menschliche und tierische Laute . . ., sondern sogar hölzerne und andere . . . Er machte vor, wie ein Brett gesägt wird oder wie Glas zerspringt. Blies die Backen auf, und es kam richtig heraus! Oder der Graf sagte: ›Fedjka, belle wie Slobnaja! Fedjka, belle wie Perechwat . . .!‹ Und er bellte! So weit hatte er es gebracht! Jetzt könnte man mit solcher Kunstfertigkeit viel Geld verdienen!«
»Die Boote kommen!« verkündete Issai.
»Ah! Endlich!«
»Nun haben wir genug gewartet . . .«, sagte Mamajew lächelnd zu mir.
»Ja . . .«
»Das ist doch immer so: Man wartet, wartet, und schließlich kommt es! Alles nimmt ein Ende . . .«
»Das ist doch beruhigend, nicht wahr?«
»Und ob!«
»Wenn das nicht so wäre, viele könnten das Leben gar nicht ertragen«, sagte Issai.
Am anderen Ufer des Flusses bewegten sich zwischen dem Eis zwei längliche dunkle Flecke.
»Sie arbeiten sich durch«, sagte Kirilka, der sie beobachtete.
Der Semstwo-Vorsteher sah ihn von der Seite an und fragte: »Na, trinkst du immer noch?«
Kirilka antwortete schuldbewußt: »Wenn es sich gerade so ergibt, trinke ich . . .«
»Und Holz stiehlst du auch noch?«
»Was soll ich mit Holz, Euer Wohlgeboren?«
»Nein, sag mal!«
»Niemals habe ich mich mit Holz befaßt, Euer Wohlgeboren!« sagte Kirilka und schüttelte sogar zur Bekräftigung den Kopf.
»Und weshalb standest du bei mir vor Gericht?«
»Freilich . . . Sie haben Gericht gehalten . . ., das stimmt . . .«
»Weshalb?«
»Als Vorgesetzter haben Sie das Recht, über uns Gericht zu halten.«
»Eine gerissene Bestie bist du! Na, und von den Kähnen, wenn die umladen, stiehlst du da auch noch wie früher?«
»Euer Wohlgeboren, ein einziges Mal habe ich es versucht!«
»Und da bist du gleich hereingefallen, hahahha!«
»Wir sind es nicht gewohnt – darum bin ich auch reingefallen.«
»Man muß das erst lernen? Hahaha!«
»Hehehe!« lachte Mamajew.
Die Boote stießen sich mit Bootshaken von den Eisschollen ab, die gegen die Bordwände drückten, und bewegten sich so auf unser Ufer zu. Die Männer in ihnen wechselten Zurufe. Kirilka legte ebenfalls die Hand als Sprachrohr an den Mund und rief ihnen mit unerwartet kräftiger Stimme zu: »Auf die Wei‑de zu halten!«
Schrie es und schoß beinahe mit einem Purzelbaum den Hügel hinunter zum Fluß . . . Wir folgten ihm.
Rasch setzten wir uns in die Boote, Issai und ich in das eine, Mamajew und der Semstwo-Vorsteher in das andere.
»Mit Gott, Kinder!« kommandierte der Vorsteher, indem er die Mütze abnahm und sich bekreuzigte.
Die beiden Bauern in seinem Boot bekreuzigten sich ebenfalls andächtig und stießen dann mit den Bootshaken in die Eisschollen, die das Boot einzwängten. Mit unheildrohendem Knirschen prallten die Eisschollen wiederum gegen die Bordwände. Auf dem Wasser war es kalt. Ich sah, wie Mamajew im Gesicht rot wurde. Der Semstwo-Vorsteher hatte die Brauen finster zusammengezogen und blickte streng und beunruhigt stromaufwärts, von wo gewaltige blaugraue Eisschollen auf unser Boot zuschwammen. Kleinere Schollen streiften knirschend den Kiel; es klang, als ob große scharfe Zähne unser Boot annagten.
Es war feucht, kalt und unheimlich. Wir sahen über Bord und betrachteten das schmutzige, kalte Eis, das so stumpfsinnig aussah und solche Macht hatte. Plötzlich aber vernahm ich durch das Rauschen um uns vom Ufer her eine Stimme und blickte hin. Wir waren etwa zehn Sashen vom Ufer entfernt; da oben stand Kirilka ohne Mütze; ich sah seine munteren und spöttischen grauen Augen und vernahm seine ungewöhnlich kräftige Stimme: »Onkel Anton, wenn Sie zur Post fahren, bringen Sie mir Brot mit, ja? Die Herrschaften haben meinen Kanten aufgegessen, weil sie warten mußten – und weiter habe ich nichts.«