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Er begegnete mir im Odessaer Hafen. Seine stämmige, untersetzte Gestalt und das von einem hübschen Bärtchen umrahmte Gesicht orientalischen Typs fesselten schon seit zwei, drei Tagen meine Aufmerksamkeit. Er tauchte beständig vor mir auf; ich sah ihn stundenlang auf dem Granit der Mole stehen, den Knauf seines Spazierstocks im Mund, und mit den mandelförmigen schwarzen Augen gelangweilt das trübe Hafenwasser betrachten; zehnmal am Tage schlenderte er mit dem Gang eines sorglosen Mannes an mir vorüber. Wer war er? Ich beobachtete ihn. Er wiederum kam mir, wie um absichtlich meine Neugier zu reizen, immer öfter unter die Augen; ich lernte seinen modischen, karierten hellen Anzug, den schwarzen Hut, den trägen Gang und den stumpfen, unbeteiligten Blick schon von weitem unterscheiden. Er war mir hier, inmitten des Heulens der Dampfer und Lokomotiven, des Gerassels der Ketten, der Rufe der Arbeiter, in all dem irren, nervösen Gewühl des Hafens, das von allen Seiten auf den Menschen eindrang, schier unerklärlich. Alle hatten Sorgen und waren erschöpft, alle hasteten, verschwitzt und voller Staub, umher, alle schrien und schimpften. Und inmitten dieses Arbeitsgewühls schritt die seltsame Gestalt mit dem leblosen, gelangweilten Gesicht gemächlich umher, gleichgültig gegen alles und allem fremd.
Ich stieß schließlich – gegen Mittag des vierten Tages – wieder auf ihn und beschloß, unter allen Umständen herauszubekommen, wer er war. Ich ließ mich in seiner Nähe mit einer Wassermelone und einem Stück Brot nieder, aß und beobachtete ihn, wobei ich mir überlegte, wie ich die Unterhaltung mit ihm am geschicktesten eröffnen könnte.
Er lehnte an einem Stapel Kisten mit Tee, blickte sich ziellos nach allen Seiten um und fingerte an seinem Spazierstock wie auf einer Flöte.
Mir, in meinem Landstreicherstaat, der ich den Tragriemen des Hafenarbeiters auf dem Rücken hatte und völlig mit Kohlenstaub beschmiert war, schien es gar nicht so einfach, diesen Stutzer in ein Gespräch zu ziehen. Aber dann stellte ich zu meiner Verwunderung fest, daß er kein Auge von mir wandte und mich mit unangenehmen, begehrlichen Blicken anstarrte, die wie die eines Tieres glommen. Ich entschied, das Objekt meiner Beobachtungen müsse Hunger leiden, sah mich rasch nach allen Seiten um und erkundigte mich mit leiser Stimme: »Haben Sie Hunger?«
Er zuckte zusammen, bleckte gierig die gesunden, dicht beieinander stehenden Zähne – mir schien, es seien an hundert – und sah sich seinerseits mißtrauisch um.
Niemand beachtete uns. Da hielt ich ihm die halbe Wassermelone und ein Stück Weizenbrot hin. Er ergriff das eine wie das andere und verschwand hinter dem Warenstapel, wo er sich niederließ. Hin und wieder steckte er den Kopf mit dem schwarzen Hut heraus; der Hut war in den Nacken geschoben und gab die braune, schwitzende Stirn frei. Ein strahlendes Lächeln erhellte das ganze Gesicht; er zwinkerte mir aus irgendeinem Grunde zu, vergaß aber keinen Augenblick das Kauen. Ich machte ihm durch ein Zeichen klar, er solle auf mich warten, und ging, um Fleisch zu kaufen; ich kaufte es, kam zurück, gab es ihm und baute mich so neben den Kisten auf, daß ich den Stutzer fremden Blicken völlig entzog. Bis dahin hatte er sich beim Essen in einem fort mißtrauisch umgeblickt, als fürchte er, man würde ihm den Bissen wegnehmen; jetzt kaute er schon ruhiger, aber immer noch so gierig und schnell, daß mir der Anblick des ausgehungerten Burschen weh tat und ich mich abwandte.
»Ich danke! Ich danke särr!« Er faßte mich an der Schulter und schüttelte mich, griff nach meiner Hand, drückte sie und schüttelte auch sie erbarmungslos.
Fünf Minuten später setzte er mir schon auseinander, wer er war.
Grusinier, ein Fürst Schakro Ptadse, einziger Sohn eines reichen Gutsbesitzers aus der Umgebung von Kutais; er hatte als Kontorist auf einer Station der Transkaukasischen Eisenbahn gearbeitet und mit einem Berufsgenossen das Zimmer geteilt. Der nun war plötzlich verschwunden und hatte das Geld und die Wertsachen des Fürsten mitgehen heißen, worauf sich der Fürst auf seine Verfolgung machte. Er erfuhr durch Zufall, daß sein Arbeitsgefährte eine Fahrkarte nach Batum gelöst hatte; der Fürst fuhr nach Batum. Dort stellte sich heraus, daß der Gesuchte nach Odessa weitergereist war. Da ließ sich der Fürst den Paß eines gewissen Wano Swanidse geben, eines Friseurs, der zwar gleichaltrig mit ihm war, aber den Kennzeichen nach schlecht zu ihm paßte, und brach nach Odessa auf. Dort meldete er den Diebstahl der Polizei, und man versprach ihm, den Dieb zu fassen; er wartete vierzehn Tage, verbrauchte sein ganzes Geld und hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden keinen Krümel gegessen.
Ich hörte seiner mit Schimpfworten vermischten Geschichte zu, blickte ihn an und glaubte ihm; der Bursche tat mir leid – er stand im zwanzigsten Lebensjahr, aber man konnte ihn seiner Einfalt wegen auch jünger schätzen. Er kam wiederholt und mit tiefer Entrüstung auf die feste Freundschaft zu sprechen, die ihn mit diesem Gefährten verbunden hatte; der Dieb, erklärte Schakro, habe ihm Dinge gestohlen, für deren Verlust sein rauher Vater ihn »erstächen« werde, wenn er sie nicht wiederfinden würde. Ich sagte mir, man müsse dem Burschen helfen, sonst würde ihn die Stadt in ihren Strudel einsaugen. Ich wußte, welche nichtigen Zufälle die Klasse der Landstreicher oder »Barfüßler« manchmal auffüllen; und Fürst Schakro boten sich hier die besten Aussichten, in diesen achtbaren, aber wenig geachteten Stand hineinzugeraten. Ich beschloß, ihm zu helfen, und schlug vor, zum Polizeimeister zu gehen und ihn um einen Fahrschein zu bitten, er wurde jedoch verlegen und erklärte, das werde er nicht tun. Und warum? Es stellte sich heraus, daß er dem Wirt, bei dem er abgestiegen war, kein Geld gezahlt, dafür aber, als man es von ihm verlangte, jemanden geschlagen hatte; danach war er verschwunden und sagte sich jetzt mit Recht, die Polizei werde weder für die Zahlungsverweigerung noch für den Schlag Verständnis aufbringen; beiläufig gesagt, erinnerte er sich auch nicht genau, ob er nur einmal zugeschlagen hatte und nicht gleich zwei-, drei- oder viermal.
Das machte die Lage komplizierter. Ich beschloß zu arbeiten, bis ich das Fahrgeld nach Batum für ihn beisammen hatte, nur stellte sich leider heraus, daß das nicht so bald sein werde – der ausgehungerte Schakro aß für drei oder mehr.
Der Tagelohn im Hafen stand damals infolge des Zustroms von »Hungernden« aus den Mißerntegebieten sehr niedrig, und von den achtzig Kopeken, die ich verdiente, verzehrten wir sechzig. Außerdem hatte ich, noch bevor ich den Fürsten traf, beschlossen, nach der Krim zu gehen, und wollte mich darum nicht lange in Odessa aufhalten. Ich schlug Schakro also vor, zu Fuß mit mir aufzubrechen, und zwar unter folgender Bedingung: wenn es mir nicht gelang, einen Weggefährten für ihn zu finden, dann würde ich ihn bis Tiflis begleiten, gelang es mir aber, dann würden wir uns trennen.
Der Fürst ging mit dem Blick über die stutzerhaften Schuhe, den Hut, die Hosen hin, strich liebevoll die Jacke glatt, überlegte, seufzte mehrmals und willigte ein. Und schließlich machten wir uns auf den Weg – von Odessa nach Tiflis.
Als wir in Cherson ankamen, hatte ich meinen Weggefährten als naiv-ursprünglichen, höchst unentwickelten Burschen kennengelernt, fröhlich, wenn er satt war, verzagt, wenn er Hunger hatte, mit einem Wort – als starkes, gutmütiges Tier.
Unterwegs erzählte er mir vom Kaukasus, vom Leben der grusinischen Gutsbesitzer, von ihren Vergnügungen und ihrem Verhältnis zu den Bauern. Seine Erzählungen waren interessant und auf eigenartige Weise schön, ließen aber ihn selbst in äußerst ungünstigem Licht erscheinen. Er erzählte zum Beispiel von folgendem Vorfall.
Bei einem reichen Fürsten waren die Nachbarn zu einem Schmaus zusammengeströmt; man trank Wein, aß Schaschlyk und Tschurek, aß süße Pastetchen und Pilaw; und schließlich führte der Fürst die Gäste in den Pferdestall. Man sattelte die Pferde. Der Fürst nahm sich das beste und jagte über das Feld dahin. Es war ein feuriges Pferd. Die Gäste lobten seinen Bau und seine Schnelligkeit, der Fürst galoppierte aufs neue davon, und plötzlich sprengte ein Bauer auf einem Schimmel daher und überholte den Fürsten – tat's und lachte stolz. Der Fürst aber fühlte sich vor seinen Gästen blamiert . . . Er runzelte grimmig die Brauen, winkte den Bauern heran und hieb ihm, als er vor ihm hielt, den Kopf mit dem Säbel ab; das Pferd aber tötete er durch einen Revolverschuß ins Ohr. Dann stellte er sich den Behörden. Und man verurteilte ihn zu Zwangsarbeit . . .
Schakro erzählte mir das im Tone des Bedauerns über das Los des Fürsten. Ich versuchte ihm zu beweisen, daß er kein Mitleid verdiente, doch er belehrte mich: »Es gibt wenig Fürsten, aber viele Bauern. Man darf einen Fürsten nicht eines Bauern wegen värrurteilen. Was ist ein Bauer? Das hier!« Und Schakro hielt mir einen Klumpen Erde hin. »Und ein Fürst – das ist wie ein Stärn!«
Wir stritten uns, und er ärgerte sich. Wenn er sich ärgerte, bleckte er wie ein Wolf die Zähne und bekam ein spitzes Gesicht.
»Schweig still, Maxim! Du kennst das Leben im Kaukasus nicht!« schrie er mich an.
Meine Argumente kamen gegen seine Unmittelbarkeit nicht auf, und das, was mir klar war, erschien ihm lächerlich. Wenn ich ihn mit Beweisen für die Überlegenheiten meiner Ansichten in die Enge trieb, überlegte er nicht lange und erwiderte: »Geh in den Kaukasus und lebbe dort. Du wirst sehen, daß ich die Wahrheit sage. Alle machen es so – also ist es so richtig. Warum soll ich dir glauben, wenn du als einziger sagst – das ist värrkehrt, während Tausende sagen – das ist richtig?«
Da schwieg ich dann, weil ich einsah, daß man einem Menschen, der daran glaubt, das Leben sei, so wie es ist, durchaus gerecht und legitim, nicht mit Worten, sondern mit Tatsachen kommen muß. Ich schwieg, und er erging sich, begeistert mit den Lippen schmatzend, über das Leben im Kaukasus, über seine wilde Schönheit, Feurigkeit und Originalität. Diese Erzählungen, die mich interessierten und fesselten, empörten mich zugleich und brachten mich durch ihre Grausamkeit, durch die Anbetung des Reichtums und der rohen Gewalt zur Raserei. Eines Tages fragte ich ihn, ob er die Lehre Christi kenne.
»Selbstvärrständlich!« entgegnete er und zuckte mit den Schultern.
Im weiteren stellte sich jedoch heraus, daß er nur wußte, es habe jemand gegeben, der Christus hieß, der sich gegen die Gesetze der Juden aufgelehnt hatte und von ihnen gekreuzigt wurde. Er sei aber ein Gott gewesen und gar nicht am Kreuz gestorben, sondern zum Himmel aufgefahren, worauf er den Menschen ein neues Lebensgesetz gegeben habe.
»Und welches?« fragte ich.
Er sah mich mit spöttischem Befremden an und erkundigte sich: »Du bist doch Christ? Na also! Auch ich bin Christ. Fast alle Menschen auf der Ärrde sind Christen. Warum also fragst du? Du siehst doch, wie alle lebben, oder nicht? Das ebben ist das Gebot Christi.«
Ich begann ihm erregt vom Leben Christi zu erzählen. Er hörte mir zuerst aufmerksam zu, aber dann ließ seine Aufmerksamkeit nach, und alles endete mit einem Gähnen.
Ich sah, daß er mit dem Herzen nicht bei der Sache war, wandte mich aufs neue an seinen Verstand und setzte ihm die Vorteile der gegenseitigen Hilfe, die Vorteile des Wissens, die Vorteile der Gesetzlichkeit, mit einem Wort Vorteile, lauter Vorteile auseinander . . . Doch alle meine Argumente zerfielen angesichts der steinernen Mauer seiner Auffassung von der Welt zu nichts.
»Wer stark ist, trägt sein Gesetz in sich! Ärr braucht nichts zu lernen, ärr findet seinen Weg, auch wenn ärr blind!« widersprach Fürst Schakro träge.
Er verstand es, sich selber treu zu bleiben. Das weckte Achtung vor ihm in mir; er war aber auch rückständig und grausam, und manchmal fühlte ich, wie Haß gegen ihn in mir aufflackerte. Ich verlor aber dennoch nicht die Hoffnung, einen Berührungspunkt zwischen uns zu finden, eine Basis, auf der wir uns näherkommen und verstehen könnten.
Wir überschritten die Landenge von Perekop und näherten uns Jaila. Ich träumte von der Südküste der Krim, der Fürst summte seltsame Lieder und war düsterer Stimmung. Wir hatten unser ganzes Geld verbraucht, und eine Möglichkeit, welches zu verdienen, war vorerst nicht zu erkennen. So strebten wir auf Feodossija zu, wo man zu jener Zeit mit dem Ausbau des Hafens beginnen wollte.
Der Fürst erklärte mir, auch er würde arbeiten, wir würden genug verdienen, um mit dem Schiff nach Batum zu fahren. Er habe dort viele Bekannte und könne mir sogleich eine Anstellung als Hausknecht oder Pförtner verschaffen. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte mit genüßlichem Zungenschnalzen und in gönnerhaftem Ton:
»Ich richte dir ein Lebben ein – so! Zze, zze! Du wirst Wein trinken, soviel zu willst, und Hammelfleisch essen, soviel du willst! Du heiratest Grusinierin, dicke Grusinierin, zze, zze, zze! Sie wird dir Pasteten backen und Kinder – viele Kinder – gebären, zze, zze!«
Dieses »zze, zze« setzte mich zunächst in Erstaunen, ging mir dann aber auf die Nerven und brachte mich schließlich bis zu trübseliger Raserei. In Rußland lockt man mit diesem Laut die Schweine, im Kaukasus dagegen drückt er Entzücken, Bedauern, Vergnügen und Kummer aus.
Schakros modischer Anzug war bereits stark lädiert, die Schuhe wiesen an vielen Stellen Risse auf. Den Spazierstock und den Hut hatten wir in Cherson verkauft. An Stelle des Hutes erwarb Schakro eine alte Eisenbahnermütze.
Als er sie zum erstenmal aufsetzte und sie verwegen auf das eine Ohr schob, erkundigte er sich bei »Kleidet ärr mich? Ist ärr schick?«
Wir waren also auf der Krim, hatten Simferopol hinter uns und befanden uns auf dem Wege nach Jalta.
Ich schritt in stummem Entzücken über die Schönheit der Natur auf diesem vom Meer umschmeichelten Stückchen Erde dahin. Der Fürst seufzte, blickte sich betrübt nach allen Seiten um und versuchte, den leeren Magen mit allerlei seltsamen Beeren zu füllen. Die Bekanntschaft mit ihren Nährkräften blieb nicht immer ungestraft; wiederholt sagte er mit grimmigem Humor zu mir: »Wenn ärr mich umwirft, wie soll ich dann weitergehen? He? Sage mir – wie?«
Eine Möglichkeit, etwas zu verdienen, bot sich nicht, und wir ernährten uns, da wir keine Kopeke besaßen, um Brot zu kaufen, von Obst und Zukunftshoffnungen. Schakro warf mir allmählich Faulheit und »Maulaffenfeilhaltigkeit« vor, wie er sich ausdrückte. Überhaupt wurde er mir zur Last, wobei er mich aber am meisten durch Erzählungen von seinem märchenhaften Appetit quälte. Er konnte, so behauptete er, nachdem er um zwölf Uhr als Frühstück »ein kleines Lämmchen« verspeist und drei Flaschen Wein geleert hatte, um zwei, zum Mittagessen, ohne sich sonderlich anzustrengen, drei Teller »Tschachachbili« oder »Tschichirtma«, eine Schüssel Pilaw, einen Spieß Schaschlyk, »Tolma, soviel du willst« und andere kaukasische Leckerbissen verzehren und Wein dazu trinken, »soviel ärr belibbt«. Er erzählte tagelang von seinen gastronomischen Neigungen und Kenntnissen, wobei er die Zähne bleckte, mit ihnen knirschte, laut den Speichel einsog, der ausgiebig von seinen beredten Lippen spritzte, und ihn hinunterschluckte.
Eines Tages, in der Nähe von Jalta, verdingte ich mich, einen Obstgarten von den heruntergeschnittenen Zweigen zu säubern, ließ mir den Lohn im voraus zahlen und kaufte fürs ganze Geld – es waren fünfzig Kopeken – Brot und Fleisch für uns ein. Als ich mit meinem Einkauf zurückkehrte, wurde ich zum Gärtner gerufen und hinterließ das Erworbene bei Schakro, der – unter dem Vorwand, er habe Kopfschmerzen – die Arbeit abgelehnt hatte. Ich kam nach einer Stunde zurück und mußte mich überzeugen, daß Schakro nicht übertrieb, wenn er von seinem Appetit erzählte – von meinem Einkauf war nicht das kleinste Krümel übrig. Das war nicht kameradschaftlich gehandelt, aber ich schwieg dazu – zu meinem Unglück, wie sich im folgenden herausstellte.
Schakro nahm mein Schweigen zur Kenntnis und machte es sich auf seine Weise zunutze. Und etwas erstaunlich Ungereimtes begann. Ich rackerte mich ab, während er sich unter den verschiedensten Vorwänden vor der Arbeit drückte, aber mich dazu antrieb, aß und schlief. Der Anblick dieses gesunden Burschen war komisch und betrüblich zugleich: wenn ich müde von der Arbeit zurückkehrte, wartete er in einem schattigen Winkel auf mich und tastete mich gierig mit den Augen ab. Noch trauriger und kränkender aber war, daß er sich über mich lustig machte, weil ich arbeitete. Und der Grund? Er hatte inzwischen betteln gelernt. Als er damit begann, genierte er sich noch vor mir, später bereitete er sich, wenn wir uns einem Tatarendorf näherten, vor meinen Augen auf den Almosenempfang vor. Zu diesem Zweck stützte er sich auf einen Stock und schleifte den einen Fuß, als habe er Schmerzen, nach, denn er wußte, die knausrigen Tataren würden einem gesunden Burschen nichts geben. Ich machte ihm Vorwürfe und bemühte mich, ihm das Beschämende dieser Betätigung auseinanderzusetzen.
»Ich värrstehe nicht zu arbeiten!« entgegnete er kurz.
Das Betteln brachte ihm nicht viel ein. Ich fing zu jener Zeit zu kränkeln an, das Wandern fiel mir mit jedem Tag schwerer, und mein Verhältnis zu Schakro spitzte sich immer mehr zu. Er verlangte nun schon mit aller Bestimmtheit, daß ich ihn ernähre.
»Hast du übernommen, mich hinzuführen? Dann tu's! Aber wie kann ich so weit zu Fuß gehen? Ich bin es nicht gewöhnt! Womöglich stärrbe ich davon! Warum quälst du mich, warum bringst du mich um? Wenn ich stärrbe – wie wird dann alles sein? Die Mutter wird weinen, der Vater wird weinen, die Freunde wärrden weinen! Wie viele Tränen macht das?«
Ich hörte mir diese Reden an, ohne mich über sie zu ärgern. In jenen Tagen schlich sich eine sonderbare Überlegung bei mir ein, die mich veranlaßte, alles das zu ertragen. Da lag er manchmal und schlief, und ich saß neben ihm, betrachtete sein ruhiges, unbewegliches Gesicht und wiederholte vor mich hin, als dämmere es in mir: »Mein Weggefährte . . ., ein Weggefährte von mir . . .«
Und in meinem Bewußtsein regte sich undeutlich der Gedanke, Schakro nehme nur seine Rechte wahr, wenn er so überzeugt, so selbstverständlich Beistand und Fürsorge von mir verlangte. In dieser Forderung war Charakter und Willensstärke. Er machte mich zum Sklaven, und ich ging darauf ein, beobachtete ihn, beobachtete jedes Zucken seines Gesichts und versuchte, mir vorzustellen, wann und womit dieser Prozeß der Inbesitznahme einer fremden Persönlichkeit enden würde. Er dagegen fühlte sich ausgezeichnet, sang, schlief und machte sich, wenn ihm der Sinn danach stand, über mich lustig. Manchmal gingen wir für zwei, drei Tage nach verschiedenen Richtungen auseinander; ich versorgte ihn, soweit vorhanden, mit Brot und Geld und gab an, wo er mich erwarten solle. Wenn wir uns dann trafen, kam er mir, nachdem er mich mißtraurisch und mit betrübtem Grollen hatte scheiden lassen, vergnügt und triumphierend entgegen, lachte und versicherte jedesmal: »Und ich hab schon geglaubt, du bist auf und davon gegangen, hast mich värrlassen! Ha, ha, ha!«
Ich gab ihm zu essen, erzählte ihm von den schönen Gegenden, die ich gesehen hatte, und brachte eines Tages, als ich auf Bachtschisarai zu sprechen kam, die Rede auf Puschkin, von dem ich einige Verse anführte. All das machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn. »Äh, Värrse! Das heißt nicht Värrse, das heißt Lidder! Ich habe jemand gekannt, einen Grusinier, der konnte Lidder singen! Das waren Lidder! Wenn der zu singen anfing – ei, ei, ei! Und laut sang er, sehr laut . . . Als drehe ihm jemand einen Dolch im Halse um! Er hat einen Duchanwirt ärrstochen und ist jetzt in Sibirien.«
Ich sank mit jeder Rückkehr zu ihm immer tiefer in seiner Achtung, und er verstand nicht, es zu verbergen.
Es ging uns nicht gut. Ich fand mit Mühe und Not Gelegenheit, einen bis anderthalb Rubel in der Woche zu verdienen, und das war für zwei natürlich weniger als zuwenig. Die Almosen, die Schakro empfing, ergaben keine Ersparnis hinsichtlich der Ernährung. Sein Magen stellte einen kleinen Abgrund dar, der unterschiedslos alles verschlang – Weintrauben, Zuckermelonen, gesalzenen Fisch, Brot, Dörrobst; der Abgrund schien sich zu erweitern und immer neue Opfer zu fordern.
Schakro drängte mich allmählich, die Krim zu verlassen, und setzte mir durchaus vernünftig auseinander, es sei schon Herbst und wir hätten noch einen langen Weg. Ich gab ihm recht. Außerdem hatte ich mir diesen Teil der Krim schon angesehen. Wir brachen also nach Feodossija auf, wo wir ein bißchen Geld zusammenzukratzen hofften; an Geld fehlte es uns nach wie vor.
Wir machten zwanzig Werst hinter Aluschta halt, um zu übernachten. Ich hatte Schakro überredet, den Weg entlang der Küste zu nehmen, obwohl er weiter war – ich wollte mich an der Meeresluft satt atmen. Wir zündeten ein Feuer an und streckten uns neben ihm aus. Es war ein wunderbarer Abend. Unten schlug das dunkelgrüne Meer gegen die Felsen, oben schwieg feierlich der blaue Himmel, ringsum raschelten leise Büsche und Bäume. Der Mond ging auf. Vom gezackten Platanenlaub fielen Schatten auf die Erde. Ein Vogel sang übermütig und hell. Seine silbernen Triller zergingen in der vom leisen und freundlichen Rauschen der Wellen erfüllten Luft; wenn sie verstummten, hörte man das nervöse Zirpen irgendeines Insekts. Lustig brannte das Lagerfeuer, und seine Flamme erschien als lodernder Strauß roter und gelber Blumen. Auch das Lagerfeuer gebar Schatten; sie tanzten und sprangen um uns herum, als prahlten sie vor den trägen Schatten des Mondes mit ihrer Lebendigkeit. Der weite Horizont über dem Meer war leer, der Himmel über ihm wolkenlos, ich fühlte mich an den Rand der Erde versetzt und in die Betrachtung des Weltenraums versinken – dieses Rätsels, das unsere Seele bannt. Das scheue Gefühl, etwas Großem, Erhabenem nahe zu sein, erfüllte mich, und mein Herz stand erschaudernd still.
Schakro brach plötzlich in lautes Lachen aus.
»Ha, ha, ha! Was du für dumme Fratze machst! Ganz wie Hammel! Ha, ha, ha!«
Ich erschrak, als wäre ein Donnerschlag über mir niedergegangen. Nein, es war schlimmer! Nun ja, es war zwar komisch, aber wie kränkend zugleich! Schakro lachte Tränen; auch ich war nahe am Weinen – aus einem anderen Grunde. In meinem Hals steckte ein Stein, ich konnte nicht sprechen und starrte ihn mit irren Augen an, was seine Heiterkeit nur noch mehr verstärkte. Er wälzte sich auf der Erde und hielt sich vor Lachen den Bauch; ich konnte noch immer nicht über die Beleidigung zu mir kommen, die er mir zugefügt hatte. Es war eine schwere Beleidigung, und die wenigen, die mich, wie ich hoffe, verstehen werden, weil sie möglicherweise ähnliches erfahren haben, werden ihre Schwere ermessen können.
»Hör auf!« schrie ich ihn außer mir vor Wut an.
Er erschrak und zuckte zusammen, konnte sich aber noch immer nicht beruhigen; die Lachkrämpfe würgten ihn aufs neue, er blies die Wangen auf und bekam Glotzaugen, brach jedoch plötzlich wieder in Lachen aus. Da stand ich auf und ging davon. Ich schritt eine ganze Weile dahin, gedankenlos, beinah bewußtlos, vom brennenden Gift der Kränkung erfüllt. Ich hatte die ganze Natur umarmt und ihr schweigend, aus tiefstem Herzen meine Liebe erklärt, die heiße Liebe eines Menschen, der wohl ein wenig Dichter ist . . ., und sie war in Gestalt Schakros in schallendes Gelächter über meine Verzücktheit ausgebrochen! Ich wäre bei der Abfassung meiner Anklageschrift gegen die Natur, gegen Schakro und die ganze Ordnung des Lebens sicherlich noch viel weiter gegangen, hätte ich nicht rasche Schritte hinter mir gehört.
»Ärrgärr dich nicht!« sagte Schakro verlegen und berührte zaghaft meine Schulter. »Du hast gebetet? Das habe ich nicht gewußt.«
Er sprach im schüchternen Ton eines Kindes, das ungezogen gewesen ist, und ich konnte trotz meiner Erregung seine klägliche, von Angst und Verlegenheit komisch verzerrte Miene nicht übersehen.
»Ich wärrde dich nicht märr anrühren. Bestimmt nicht! Niemals!«
Und er schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich sehe, du bist still. Du arbeitest. Und mich zwingst du nicht. Da denke ich – weshalb? Bedeutet – ärr ist dumm wie Hammel.«
Und das sollte ein Trost sein! Damit entschuldigte er sich vor mir! Nach solchen Tröstungen und Entschuldigungen blieb mir natürlich nichts übrig, als ihm zu verzeihen – und nicht nur das Geschehene, sondern auch das, was noch geschehen würde.
Eine halbe Stunde später war er fest eingeschlafen, und ich saß neben ihm und blickte ihn an. Im Schlaf erscheint selbst der Starke hilflos und schutzbedürftig – Schakro war mitleiderregend. Die dicken Lippen und die gehobenen Brauen gaben seinem Gesicht etwas Kindliches, Furchtsam-Erstauntes. Er atmete gleichmäßig und ruhig, drehte sich aber gelegentlich hin und her und redete im Traum, wobei er hastig und in bittendem Ton grusinisch sprach. Ringsherum herrschte jene angespannte Stille, bei der man immer auf etwas wartet und die, wenn sie lange andauerte, den Menschen um den Verstand bringen würde – durch die völlige Abwesenheit eines Lauts, dieses lebendigen Schattens der Bewegung. Das leise Plätschern der Wellen drang nicht bis zu uns – wir befanden uns in einer Art Grube, die von dornigem Buschwerk überwuchert war und an den zottigen Schlund eines versteinerten Tieres erinnerte. Ich blickte auf Schakro und dachte: Das ist mein Weggefährte . . . Ich könnte ihn hier verlassen, aber entgehen kann ich ihm nicht, denn sein Name ist – Legion . . . Er ist mein Weggefährte fürs ganze Leben . . ., er wird mich bis an mein Grab begleiten.
Feodossija erfüllte unsere Erwartungen nicht. Als wir ankamen, waren dort schon an die vierhundert Mann versammelt, die wie wir auf Arbeit gehofft hatten und sich nun mit der Rolle von Zuschauern beim Bau der Mole begnügen mußten. Es arbeiteten Türken, Griechen, Grusinier und Leute aus den Gouvernements Poltawa und Smolensk. Überall – in der Stadt und ihrer Umgebung – streiften die niedergeschlagenen grauen Gestalten der Hungernden in Gruppen umher und streunten Landstreicher vom Asowschen Meer und aus der Tauris wie Wölfe durch die Gegend.
Wir machten uns auf den Weg nach Kertsch.
Mein Weggefährte hielt Wort und »rührte mich nicht mehr an«; er litt jedoch sehr unter dem Hunger und knirschte geradezu mit den Zähnen, wenn er jemanden essen sah; und er brachte mich zum Entsetzen, wenn er schilderte, welche Mengen an der oder jener Nahrung er hinunterschlingen könnte. Seit einiger Zeit beschäftigte er sich in seinen Reden auch mit den Frauen. Zuerst nur beiläufig, dann immer häufiger und mit dem lüsternen Lächeln des »Mänschen aus dem Orient«; am Ende war er so weit, daß er kein Wesen weiblichen Geschlechts, einerlei, in welchem Alter es stand und wie es aussah, an sich vorbeilassen konnte, ohne mir eine praktisch-philosophische Schlüpfrigkeit hinsichtlich dieses oder jenes Körperteils des betreffenden Wesens mitzuteilen. Er erging sich so frei, mit solcher Kenntnis des Gegenstandes über die Frauen und betrachtete sie von einem so erstaunlich unverfrorenen Standpunkt, daß ich nur ausspie . . . Eines Tages versuchte ich, ihm zu beweisen, daß eine Frau ein Wesen sei, das ihm in keiner Weise nachstehe, sah jedoch, daß er über meine Ansichten nicht nur gekränkt war, sondern über die Demütigung, der ich ihn seiner Meinung nach aussetzte, beinah in Raserei geriet; und ich beschloß, meine Versuche so lange zurückzustellen, bis er sich satt gegessen haben würde.
Nach Kertsch gingen wir – zwecks Abkürzung des Weges – nicht mehr entlang der Küste, sondern durch die Steppe; in meinem Tippelsack hatten wir nur einen Gerstenfladen von etwa drei Pfund, den wir für unsere letzten fünf Kopeken bei einem Tataren erstanden hatten. Schakros Versuche, in den Dörfern um Brot zu betteln, führten zu nichts; überall hieß es kurz: »Ihr seid zu viele!« Das war die reinste Wahrheit – es gab in diesem schweren Jahr tatsächlich erschreckend viele Menschen, die ein Stück Brot suchten.
Mein Weggefährte konnte die »Hungernden« nicht ausstehen – sie waren seine Konkurrenz beim Betteln. Trotz aller Mühsal des Wanderns und der schlechten Ernährung hinderte ihn sein Vorrat an Lebenskraft daran, das ausgemergelte, klägliche Aussehen zu erwerben, auf das jene mit gutem Recht stolz sein konnten – als etwas auf seine Art Vollkommenes. Schon wenn er sie von weitem erblickte, sagte er: »Da – wieder welche! Pfui, pfui, pfui! Was wollen sie hier? Was kommen sie ärrst her? Ist Rußland denn so eng? Värrsteh ich nicht! Särr dummes Volk – die Russen!«
Und wenn ich ihm die Gründe auseinandersetzte, die das »dumme« russische Volk bewogen, sich auf der Krim nach einem Stück Brot umzutun, schüttelte er nur ungläubig den Kopf und entgegnete: »Värrsteh ich nicht! Wie ist das möglich? Bei uns in Grusinien gibt solche Dummheiten nicht!«
Wir kamen in Kertsch am späten Abend an und sahen uns genötigt, unter dem Steg zu übernachten, der von einer Dampferanlegestelle zum Ufer führte. Wir hatten unsere Gründe, uns zu verbergen; uns war bekannt, daß man kurz vor unserer Ankunft alles überflüssige Volk – die Stromer – aus Kertsch ausgewiesen hatte, und wir befürchteten, von der Polizei ergriffen zu werden; da aber Schakro mit einem fremden Paß unterwegs war, konnte das zu ernsthaften Komplikationen in unserem Schicksal führen.
Die Wellen der Meerenge überschütteten uns die ganze Nacht ausgiebig mit Spritzern, und als der Morgen graute, kamen wir naß und durchfroren unter dem Steg hervor. Wir streiften den ganzen Tag am Ufer umher, aber alles, was uns zu verdienen gelang, waren zehn Kopeken – ich bekam sie von einer Popenfrau, der ich einen Sack Zuckermelonen vom Markt nach Hause trug.
Wir mußten über die Meerenge nach Taman. Aber kein Fährmann war bereit, uns als Ruderer ans andere Ufer mitzunehmen, sosehr ich auch darum bat. Alle waren gegen die Stromer eingestellt, die hier kurz vor unserer Ankunft allerlei Heldentaten vollbracht hatten; und uns zählte man nicht zu Unrecht zu dieser Kategorie.
Als es Abend wurde, entschloß ich mich – aus Ärger über meine Mißerfolge und über die ganze Welt – zu einem ziemlich gewagten Unternehmen, das ich mit Anbruch der Nacht zur Ausführung brachte.
Schakro und ich näherten uns vorsichtig einer Brandwache der Zollverwaltung, neben der drei Boote lagen, mit Ketten an Ringen festgemacht, die in die steinerne Kaimauer eingelassen waren. Es war dunkel und windig, die Boote stießen aneinander, die Ketten klirrten. Die richtigen Umstände, um einen Ring zu lockern und aus der Mauer zu reißen . . .
Etwa fünf Arschin über uns ging eine Zollwache auf und ab und pfiff vor sich hin. Wenn der Wachmann in der Nähe stehenblieb, unterbrach ich die Arbeit, aber das war übertriebene Vorsicht; er konnte nicht annehmen, daß unten jemand bis an den Hals im Wasser saß. Außerdem klirrten die Ketten ununterbrochen, auch ohne mein Zutun. Schakro lag bereits auf dem Boden des Bootes ausgestreckt und flüsterte mir etwas zu, das ich des Rauschens der Wellen wegen aber nicht verstehen konnte. Schließlich hielt ich den Ring in meinen Händen . . . Eine Welle warf das Boot hoch und trug es vom Ufer fort. Ich hielt mich an der Kette fest und schwamm neben ihm her; dann kletterte ich hinein. Wir deckten zwei Laufplanken ab, schoben sie in die Rudergabeln und fuhren los.
Die Wellen gingen hoch, und Schakro, der am Heck saß, versank vor meinen Augen zusammen mit dem Heck irgendwo in der Tiefe, oder er tauchte hoch über mir auf, schrie und stürzte beinahe auf mich. Ich riet ihm, nicht zu schreien, wenn der Wachtposten ihn nicht hören sollte. Da schwieg er. Ich sah an Stelle seines Gesichts nur einen weißen Fleck. Er hielt die ganze Zeit das Steuer. Wir kamen nicht dazu, die Rollen zu tauschen, und fürchteten uns auch, die Plätze zu wechseln. Ich rief ihm zu, wie er das Steuer halten sollte, er verstand mich sofort und führte alles mit der Promptheit eines geborenen Seemannes aus. Die Bretter, die uns die Ruder ersetzen mußten, nutzten mir nicht viel. Der Wind blies von achtern, ich kümmerte mich wenig darum, wohin er uns trieb, und achtete nur darauf, daß der Bug quer zur Meerenge stand. Das ließ sich leicht feststellen, da die Lichter von Kertsch noch zu sehen waren. Die Wellen lugten über die Bordwände zu uns herein und rauschten ärgerlich; je weiter es uns in die Meerenge hinaustrieb, desto höher wurden sie. In der Ferne hörte man schon ein wildes, bedrohliches Brüllen. Das Boot aber jagte immer schneller dahin, und es war äußerst schwer, den Kurs zu halten. Wir stürzten alle Augenblicke in einen tiefen Abgrund, oder wir schossen einen Wellenberg hinauf; die Nacht wurde immer dunkler, die Wolken sanken immer tiefer auf uns herab. Die Lichter hinter dem Heck erloschen in der Finsternis, es wurde auf einmal unheimlich. Die Fläche des zornigen Wassers schien keine Grenzen zu haben. Man sah nur Wellen, die aus dem Dunkel auf uns zujagten. Sie rissen mir das eine Brett aus der Hand, das andere warf ich auf den Bootsboden und klammerte mich mit beiden Händen an die Bordwände. Schakro heulte jedesmal wie ein Irrer auf, wenn das Boot in die Höhe geschleudert wurde. Ich fühlte mich in dieser Finsternis, umgeben von den tobenden Elementen und betäubt von ihrem Lärmen, kläglich und ohnmächtig. Ohne Hoffnung im Herzen, von böser Verzweiflung gepackt, unterschied ich nur die Wellen neben mir mit ihren weißlichen, in salzige Spritzer zersprühenden Kämmen und über mir die dichten, zottigen Wolken, die an Wellen erinnerten. Ich verstand nur eins – alles, was sich um mich herum tat, hätte unvergleich wilder und schrecklicher sein können, und es kränkte mich, daß es sich zurückhielt und nicht so war. Der Tod ist unausbleiblich. Doch dieses leidenschaftslose, alles nivellierende Gesetz will irgendwie beschönigt sein – es ist denn doch zu niederschmetternd und roh. Wenn ich die Wahl hätte, im Feuer zu verbrennen oder im Sumpf zu enden, ich würde das erste vorziehen – das ist immerhin irgendwie schicklicher . . .
»Setzen wir Segel!« rief Schakro.
»Wo ist es?« fragte ich.
»Hier – der Kosakenrock . . .«
»Wirf ihn herüber! Aber laß das Steuer nicht los!«
Schakro machte sich schweigend am Heck zu schaffen.
»Halt fest!«
Er warf mir den Kosakenrock zu. Ich riß, mit Mühe und Not auf dem Bootsboden herumkriechend, eine weitere Laufplanke los, schob ihr Ende in den Ärmel des festen Kleidungsstücks, richtete sie neben der Bootsbank auf, wobei ich mich mit den Fäusten gegen sie stemmte, und nahm gerade den anderen Ärmel und den Rockschoß in die Hände, als etwas Überraschendes geschah . . . Das Boot schoß irgendwie besonders hoch, sauste wieder in die Tiefe, und ich lag plötzlich im Wasser, in der einen Hand den Kosakenrock und mit der anderen die Rettungsleine umklammernd, die außen am Bord entlanglief. Die Wellen ergossen sich über meinen Kopf, und ich schluckte salziges, bitter schmeckendes Wasser. Es füllte meine Ohren, die Nase, den Mund. Mit beiden Händen fest an die Leine geklammert, hob und senkte ich mich mit den Wellen, schleuderte den Kosakenrock ins Boot und versuchte, selber hineinzuschnellen. Einer von meinen Dutzend Versuchen gelang, ich saß rittlings auf unserem Boot und erblickte im selben Augenblick Schakro, der sich im Wasser überschlug und mit beiden Händen an der Leine festhielt, die ich soeben losgelassen hatte. Sie lief, wie sich herausstellte, um das Boot herum und war durch eiserne Ringe gezogen, die in die Bordwand eingelassen waren.
»Du lebst!« rief ich ihm zu.
Auch er schnellte sich aus dem Wasser und plumpste auf den Boden des Bootes. Ich fing ihn dabei auf, und wir befanden uns plötzlich Kopf an Kopf nebeneinander. Ich saß auf dem Boot, als wäre es ein Pferd, die Füße unter der Leine durchgesteckt wie in Steigbügeln, was jedoch eine wenig verläßliche Sicherung war – jede Welle konnte mich leicht aus dem Sattel heben. Schakro umklammerte meine Knie und drückte den Kopf an meine Brust. Er zitterte am ganzen Körper, und ich hörte, wie seine Kinnladen klapperten. Es mußte etwas geschehen! Der Bootsboden war glitschig, als wäre er geölt. Ich sagte zu Schakro, er solle wieder ins Wasser steigen und sich auf seiner Seite an der Leine festhalten, ich würde dasselbe auf der anderen tun. Statt zu antworten, stukte er mich mit dem Kopf gegen die Brust. Die Wellen brausten alle Augenblicke in wildem Tanz über uns hinweg, und wir konnten uns kaum noch halten – die Leine schnitt mich äußerst schmerzhaft in den einen Fuß. Überall in Sichtweite wuchsen hohe Wellenberge empor, die wieder in sich zusammensanken.
Ich wiederholte das Gesagte, nun schon im Ton eines Befehls. Schakro stieß mich noch heftiger mit dem Kopf gegen die Brust. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich riß seine Hände nacheinander von mir los und versuchte, ihn ins Wasser zu drängen, wobei ich aber darauf achtete, daß er die Leine fassen konnte. Und hier geschah etwas, das mich mehr erschreckte als alles andere in dieser Nacht.
»Du willst mich ärrtränken?« flüsterte Schakro und sah mir in die Augen.
Das war tatsächlich furchtbar! Furchtbar war seine Frage, noch furchtbarer der Ton, in dem sowohl scheue Ergebenheit als auch die Bitte um Gnade und der letzte Seufzer eines Menschen mitklangen, der die Hoffnung verloren hat, dem Verhängnis zu entrinnen. Am furchtbarsten aber waren die Augen in seinem nassen, totenblassen Gesicht.
Ich rief ihm zu:
»Halt dich gut fest!« Und ich ließ mich, die Hände an der Leine, selber ins Wasser gleiten. Ich stieß gegen etwas mit dem Fuß und begriff vor Schmerzen im ersten Augenblick nicht das geringste. Aber dann verstand ich. Etwas Heißes flammte in mir auf, ich war wie berauscht und fühlte mich stark wie noch nie . . .
»Land!« schrie ich auf.
Vielleicht haben die großen Seefahrer, wenn sie neue Länder entdecken, dieses Wort bei ihrem Anblick mit tieferem Gefühl hinausgeschrien als ich, aber ich glaube nicht, daß sie es lauter taten. Schakro brach in ein Freudengeheul aus, und wir warfen uns ins Wasser. Doch wir kühlten beide rasch wieder ab – das Wasser ging uns noch bis an die Brust, und von wesentlicheren Merkmalen trockenen Landes war nirgends etwas zu entdecken. Die Wellen gingen allerdings nicht mehr so hoch und stürzten nicht über uns, sondern rollten nur träge über uns hin. Das Boot hatte ich zum Glück nicht losgelassen. Schakro und ich stellten uns an seine beiden Seiten, machten uns, die eine Hand an der Rettungsleine, vorsichtig irgendwohin auf den Weg und zogen es hinter uns her.
Schakro murmelte etwas vor sich hin und lachte. Ich sah mich besorgt nach allen Seiten um. Es war dunkel. Hinter uns und rechts von uns klang das Rauschen der Wellen lauter, vor uns und links leiser. Wir hielten uns mehr links. Der Boden war sandig und fest, aber voller Unebenheiten; manchmal hatten wir keinen Grund und ruderten mit den Beinen und der einen Hand, während wir uns mit der anderen am Boot festhielten; dann wieder reichte uns das Wasser nur bis ans Knie. An den tiefen Stellen brach Schakro in Jammergeheul aus, während ich vor Angst zitterte. Und plötzlich – die Rettung! Ein Licht blitzte vor uns auf.
Schakro brüllte darauf los, so laut er konnte; ich vergaß keinen Augenblick, daß das Boot staatliches Eigentum war, und machte ihn schleunigst darauf aufmerksam. Er verstummte, aber wenige Minuten später hörte ich ihn schluchzen. Ich konnte ihn nicht beruhigen – ich wußte nicht, womit.
Das Wasser wurde immer seichter . . ., es reichte uns nur noch bis an das Knie . . ., dann nur noch bis an den Knöchel . . . Wir zogen noch immer das Boot hinter uns her; aber dann verließen uns die Kräfte, und wir gaben es auf. Auf unserem Wege lag irgendein schwarzer Knorren. Wir übersprangen ihn und gerieten mit den nackten Füßen in stachliges Gras. Das tat weh und war von seiten des trockenen Landes nicht eben gastfreundlich, doch wir beachteten es nicht und liefen auf das Feuer zu. Es mochte eine Werst von uns entfernt sein, loderte lustig und schien uns lachend zu begrüßen.
Drei riesige zottige Hunde, die sich irgendwoher aus der Dunkelheit lösten, stürzten auf uns zu. Schakro, der die ganze Zeit krampfhaft geschluchzt hatte, schrie auf und ließ sich auf die Erde fallen. Ich warf mit dem nassen Kosakenrock nach ihnen, bückte mich und tastete mit der Hand nach einem Stock oder einem Stein. Es fand sich nichts, und ich zerstach mir nur am harschen Gras die Hände. Die Hunde sprangen mich einmütig an. Da steckte ich zwei Finger in den Mund und pfiff, so laut ich konnte. Sie wichen zurück, und im selben Augenblick hörte man ein Stampfen und die Stimmen von herbeieilenden Menschen.
Wenige Minuten später saßen wir am Lagerfeuer im Kreis von vier Schafhirten, die mit Schafpelzen bekleidet waren, das Fell nach außen.
Zwei davon saßen auf der Erde und rauchten, ein dritter – hochgewachsen, mit dichtem schwarzem Bart, eine kaukasische Pelzmütze auf dem Kopf – stand hinter uns und stützte sich auf einen Stock mit einem riesigen Knauf aus Wurzelholz; der vierte, ein blonder junger Bursche, half dem weinenden Schakro beim Ausziehen. Ungefähr fünf Sashen von uns entfernt war die Erde weithin mit einer dicken, wellenförmigen grauen Schicht bedeckt, die an Schnee im Frühling erinnerte, wenn es zu tauen beginnt. Nur wenn man lange und aufmerksam hinsah, konnte man die Umrisse der einzelnen dicht aneinandergeschmiegten Schafe erkennen. Es waren mehrere Tausend; der Schlaf und die nächtliche Dunkelheit hatten sie zu einer dichten, warmen, dicken Schicht zusammengedrängt, die die Steppe bedeckte. Dann und wann hörte man ein klägliches, furchtsames Blöken.
Ich trocknete den Kosakenrock über dem Feuer, erzählte den Schafhirten, wie sich alles zugetragen hatte, und verschwieg auch nicht, auf welche Weise ich in den Besitz des Bootes gekommen war.
»Wo ist es nun, dieses Boot?« fragte mich ein strenger grauhaariger Alter, der mich unverwandt anblickte.
Ich sagte es ihm.
»Geh doch mal hin, Michal, und sieh nach!«
Michal – das war der mit dem schwarzen Bart – schulterte seinen Stock und machte sich auf den Weg zum Strand.
Schakro, der vor Kälte zitterte, bat mich, ihm den warmen, aber noch nassen Kosakenrock zu geben, doch der Alte sagte: »Warte! Lauf erst ein Stück, damit sich das Blut erwärmt. Lauf um das Feuer herum, los!«
Schakro verstand nicht gleich, sprang dann aber plötzlich auf und führte, nackt, wie er war, einen wilden Tanz auf, flog wie ein Ball über das Feuer, drehte sich auf der Stelle, stampfte mit den Füßen, schrie aus voller Kehle und schwang die Arme. Es war ein Bild zum Totlachen. Zwei von den Hirten wälzten sich auf der Erde und wieherten; und nur der Alte bemühte sich mit ernster, unerschütterlicher Miene, im Takt des Tanzes in die Hände zu klatschen, schaffte es aber nicht, den Takt zu erfassen; er sah Schakro kopfschüttelnd und mit zuckendem Schnurrbart zu und rief in einem fort mit tiefer Baßstimme: »Hei – ha! Ja, so! Hei – ha! Buz, buz!«
Schakro wand sich im Schein des Feuers wie eine Schlange, hüpfte auf einem Bein oder tänzelte auf beiden dahin; sein Körper glänzte und bedeckte sich mit großen Schweißtropfen, die rot erschienen wie Blut.
Jetzt klatschten schon alle drei Schafhirten in die Hände; ich ließ mich, vor Kälte zitternd, am Feuer trocknen und sagte mir, das Erlebnis dieses Abenteuers hätte einen Verehrer Coopers oder Jules Vernes glücklich gemacht; alles war da – ein Schiffbruch, gastfreie Eingeborene und der Tanz eines Wilden um das Lagerfeuer.
Schließlich saß Schakro, in den Kosakenrock gemummt, auf der Erde, aß etwas und blickte mich mit seinen schwarzen Augen an, in denen etwas glomm, das mich unangenehm berührte. Seine Kleidung trocknete an Stangen, die neben dem Feuer in der Erde steckten. Auch mir gab man Brot und gesalzenen Speck.
Michal kam zurück und setzte sich schweigend neben den Alten.
»Nun?« fragte der Alte.
»Das Boot ist da!« sagte Michal kurz.
»Kann es nicht fortgeschwemmt werden?«
»Nein.«
Und alle verstummten und blickten mich forschend an.
»Was ist?« fragte schließlich Michal, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Schaffen wir sie nun in das Kosakendorf zum Ataman oder direkt zu den Zöllnern?«
Niemand gab Antwort. Schakro aß ruhig weiter.
»Man kann sie zum Ataman schaffen . . ., man kann sie auch zu den Zöllnern schaffen . . . Das eine ist so gut wie das andere . . .«, sagte nach einigem Schweigen der Alte.
»Warte mal, Großvater . . .«, begann ich.
Doch er beachtete mich nicht im geringsten.
»Ja, so ist das, Michal! Das Boot ist also da?«
»Ja . . .«
»Gut. Und das Wasser wird es nicht fortschwemmen?«
»Bestimmt nicht.«
»Dann soll es doch liegenbleiben, wo es liegt. Und morgen, wenn die Fährleute nach Kertsch fahren, nehmen sie es mit. Weshalb sollten sie auch ein leeres Boot nicht mitnehmen? Wie? Na eben . . . Und ihr . . . Zerschlissenen – Zerrissenen . . ., habt ihr . . ., wie heißt das? . . . Habt ihr denn keine Angst gehabt? Nein? Schau einer an! Und dabei – noch eine halbe Werst, und ihr wäret auf dem offenen Meer gewesen! Was hättet ihr gemacht, wenn's euch hinausgetrieben hätte? He? Ihr wärt doch untergegangen wie zwei Beile! Ertrunken wärt ihr, und aus!«
Der Alte hielt inne, sah mich an und lächelte spöttisch in den Bart hinein.
»Warum sagst du denn nichts, mein Junge?«
Ich hatte seine Betrachtungen, die ich nicht verstand und für Spott hielt, satt.
»Weil ich dir zuhöre!« entgegnete ich ziemlich barsch.
»Na und?« erkundigte sich der Alte.
»Na und gar nichts!«
»Und wieso äffst du mir nach? Gehört sich das, jemand nachzuäffen, der älter ist als man selbst?«
Ich schwieg.
»Und willst du noch etwas essen?« fuhr der Alte fort.
»Nein.«
»Gut, dann laß es bleiben. Wer nicht will, der hat schon. Aber vielleicht nimmst du etwas Brot auf den Weg mit?«
Ich zuckte vor Freude zusammen, verriet mich aber nicht.
»Auf den Weg schon«, entgegnete ich ruhig.
»Aha! Dann gebt ihnen also Brot und Speck mit auf den Weg. Aber vielleicht ist noch etwas anderes da? Dann gebt ihnen auch davon.«
»Ja, lassen wir sie denn laufen?« fragte Michal.
Die beiden anderen blickten den Alten an.
»Was sollen sie denn bei uns?«
»Aber wir wollten sie doch zum Ataman . . . oder zu den Zöllnern bringen . . .«, wandte Michal enttäuscht ein.
Schakro wurde neben dem Lagerfeuer lebendig und steckte den Kopf unter dem Kosakenrock hervor. Er war gelassen.
»Was sollen sie denn beim Ataman? Sie haben dort, meine ich, nichts verloren. Sie können ja später zu ihm hingehen . . ., wenn sie wollen.«
»Und was ist mit dem Boot?« Michal gab nicht nach.
»Mit dem Boot?« fragte der Alte zurück. »Was soll schon mit ihm sein? Es liegt doch dort?«
»Das tut es«, entgegnete Michal.
»Na also, soll es doch! Morgen früh fährt es Iwaschka zur Anlegestelle . . ., und von dort nehmen sie's mit nach Kertsch. Weiter haben wir mit dem Boot nichts zu schaffen.«
Ich blickte den alten Schafhirten unverwandt an, konnte aber auf seinem phlegmatischen, sonnengebräunten und wetterharten Gesicht, auf dem die Schatten vom Lagerfeuer spielten, keinerlei Bewegung entdecken.
»Wenn wir nur keine Unannehmlichkeiten bekommen . . .«, lenkte Michal allmählich ein.
»Wenn du die Zunge im Zaum hältst, sollten wohl keine dabei herauskommen. Bringt man sie aber zum Ataman, dann würde das, mein ich, allerlei Scherereien ergeben – sowohl für sie als auch für uns. Wir haben mit unserer Arbeit zu tun, und sie müssen weiter. He, wo wollt ihr denn hin?« erkundigte sich der Alte, obwohl ich es ihm bereits gesagt hatte.
»Nach Tiflis.«
»Ein weiter Weg! Da siehst du's! Der Ataman aber würde sie eine Weile festhalten. Wenn er sie aber festhält, wann kommen sie dann ans Ziel? Sollen sie also ihres Weges ziehen! Was meint ihr?«
»Nun ja, warum auch nicht, sollen sie nur!« pflichteten die Gefährten bei, als der Alte seine langsamen Erörterungen beendet hatte, die Lippen fest aufeinanderpreßte, die grauen Barthaare zwischen den Fingern drehte und sich fragend im Kreise umsah.
»Also, Jungen, dann geht, geht mit Gott!« winkte der Alte ab. »Und das Boot schicken wir morgen hin, wo es hingehört. Einverstanden?«
»Hab Dank, Großvater!« sagte ich und nahm die Mütze ab.
»Ja, wofür denn?«
»Hab Dank, hab Dank, du Guter!« wiederholte ich bewegt.
»Aber wofür bedankst du dich denn? Seltsamer Kauz! Ich habe gesagt – geht mit Gott, und er bedankt sich dafür! Ja, hast du denn geglaubt, ich würde euch zum Teufel schicken? Wie?«
»Ja, das habe ich, muß ich zu meiner Schande bekennen!« entgegnete ich.
»Oh!« sagte der Alte und hob die Brauen. »Warum sollte ich einen Menschen auf den Pfad des Bösen schicken? Ich schicke ihn lieber auf den, den ich selber gehe. Vielleicht begegnen wir uns noch einmal – dann sind wir schon alte Bekannte. Wer weiß, ob man einander nicht wieder helfen muß . . . Lebt wohl!«
Er nahm die zottige Lammfellmütze ab und verneigte sich vor uns. Das taten auch seine Gefährten. Wir wollten nach Anapa, fragten nach dem Weg und gingen. Schakro lachte aus irgendeinem Grunde . . .
»Warum lachst du?« fragte ich ihn.
Ich war vom alten Schafhirten und von seiner Lebensmoral entzückt, war entzückt vom frischen, leichten vormorgendlichen Wind, der uns entgegenwehte, ich war entzückt, weil es aufklarte, weil am heiteren Himmel bald die Sonne aufgehen mußte, weil ein funkelnder, schöner Tag über der Erde heraufzuziehen versprach.
Schakro blinzelte mir pfiffig zu und lachte noch lauter. Auch ich mußte lächeln, von seinem fröhlichen, gesunden Lachen angesteckt. Nach den zwei, drei Stunden, die wir am Lagerfeuer der Schafhirten verbracht hatten, und dem schmackhaften Brot mit Speck, das wir gegessen hatten, verspürten wir trotz unseres anstrengenden Abenteuers nur noch ein leichtes Schmerzen in den Knochen; aber das tat unserer Freude keinen Abbruch.
»Nun, warum lachst du? Du freust dich wohl, daß du am Leben geblieben bist? Daß du am Leben geblieben und obendrein auch noch satt bist?«
Schakro schüttelte verneinend den Kopf, stieß mich mit dem Ellenbogen in die Seite, schnitt eine Grimasse, lachte von neuem los und begann schließlich in seiner gebrochenen Redeweise: »Du värrstehst nicht, warum ich lache? Nein? Wirst du gleich värrstehen! Weißt du, was ich machen, wenn sie uns zu diesem Ataman gebracht hätten? Du weißt es nicht? Ich hätte von dir gesagt: Ärr wollte mich ärrtränken! Und wäre in Tränen ausgebrochen. Dann hätte ich ihnen leid getan und wäre nicht in Gefängnis gesetzt. Värrstehst du?«
Ich hielt das zuerst für einen Scherz, aber leider wußte er mich vom Ernst seines Vorhabens zu überzeugen. Er setzte mir alles so gründlich und so eindeutig auseinander, daß ich, statt seines naiven Zynismus wegen wütend auf ihn zu werden, tiefstes Mitleid mit ihm empfand. Was kann man auch anderes für einen Menschen empfinden, der mit strahlendem Lächeln und in offenherzigstem Ton erzählt, er habe einen umbringen wollen? Was fängt man mit ihm an, wenn er eine solche Handlung als netten, geistreichen Scherz betrachtet?
Ich machte mich mit Eifer daran, Schakro die ganze Unmoral seiner Absicht zu beweisen. Er hielt mir ganz einfach entgegen, ich verstünde mich nicht auf seinen Vorteil, vergesse, daß er mit einem fremden Ausweis lebe und daß man kein Verständnis dafür aufbringen werde.
Plötzlich blitzte ein böser Gedanke in mir auf.
»Warte mal!« sagte ich, »glaubst du denn wirklich, daß ich dich ertränken wollte?«
»Nein! Als du mich in Wasser gedrängt, habe ich es geglaubt, als du aber selber hinein – da nicht!«
»Gott sei gelobt!« rief ich. »Auch dafür meinen Dank!«
»Nein, sag mir nicht Dank! Ich wärrde danken! Dort, an Lagerfeuer – du hast gefroren, und ich habe gefroren. Der Kosakenrock gehört dir – du hast ihn dir nicht genommen. Du hast ihn getrocknet und mir gegeben. Und selber nichts gehabt. Da hast du mein Dank! Ich värrstehe – du bist ein särr guter Mensch. Wann wir kommen nach Tiflis, kriegst du für alles zurück. Ich führe dich zu mein Vater. Ich sage zu mein Vater – das ist ein Mensch! Gib ihm zu essen, gib ihm zu trinken, aber mich – in Eselstall! So wärrde ich sagen! Du wirst bei uns leben, wirst Gärtner machen, wirst Wein trinken und essen, was du willst! Ei, ei, ei! Wirst ein särr gutes Lebben haben! Ganz einfach – iß und trink aus ein und derselben Schüssel mit mir!«
Er malte lange und in aller Ausführlichkeit die Reize des Lebens aus, das ich bei ihm in Tiflis dank seiner Fürsorge führen würde. Ich ließ ihn reden und dachte an das große Elend jener Menschen, die, mit einer neuen Moral und neuen Wünschen ausgerüstet, einsam den anderen vorauseilen und auf Weggefährten stoßen, die ihnen fremd sind, die unfähig sind, sie zu verstehen . . . Das Leben dieser Einsamen ist schwer! Sie schweben über der Erde, in der Luft . . . Aber sie treiben in ihr gleich Samen von gutem Getreide dahin, wenn sie auch selten auf fruchtbaren Boden fallen . . .
Es tagte. Das ferne Meer erglänzte wie rosa Gold.
»Ich will schlafen!« sagte Schakro.
Wir machten halt. Er legte sich in eine Senke, die der Wind unweit des Ufers im trockenen Sand gegraben hatte, hüllte sich – gleich mit dem Kopf – in den Kosakenrock und schlief ein. Ich saß neben ihm und blickte aufs Meer.
Es lebte sein großes, von machtvoller Bewegung erfülltes Leben. Die Wellen rollten rauschend aufs Ufer zu und zerschellten auf dem Sand – er sog das Wasser ein und zischte leise. Die weißen Mähnen schüttelnd, schlugen die vordersten donnernd gegen das Land und fluteten, von ihm abgewehrt, zurück; sie trafen auf andere, die kamen, um sie zu unterstützen. Fest umschlungen, rollten sie, in Schaum und Spritzer gehüllt, wieder das Ufer hinauf und peitschten es im Bestreben, die Schranken ihres Lebens auszudehnen. Vom Horizont bis zum Ufer, über der ganzen Fläche des Meeres, bäumten sich starke, geschmeidige Wogen auf und drängten geschlossen voran, eng miteinander verbunden durch die Einheit des Ziels . . . Die Sonne tauchte ihre Kämme in immer grelleres Licht, und am Horizont, bei den entferntesten Wellen, erschienen sie blutrot. Kein Tropfen ging spurlos in dieser titanenhaften Bewegung der Wassermassen verloren, die – so konnte man meinen – von einem bewußten Ziel beseelt waren und es nun mit diesen wuchtigen rhythmischen Schlägen zu erreichen suchten. Die schöne Tapferkeit der vordersten Wellen, die hitzig das schweigende Ufer hinaufstürmten, fesselte das Auge, und es tat wohl, zu sehen, wie hinter ihnen einmütig und ruhig das ganze Meer gezogen kam, dieses gewaltige, von der Sonne nun schon in alle Regenbogenfarben getauchte und vom Bewußtsein seiner Schönheit und seiner Kraft erfüllte Meer.
Die Wellen zerteilend, kam hinter einem Kap ein riesiger Dampfer zum Vorschein und glitt, selbstgefällig auf dem bewegten Schoß des Meeres schaukelnd, rasch über die Kämme der Wellen dahin, die sich zornig auf seine Bordwände stürzten. Stark und schön, funkelte er metallisch in der Sonne und hätte mich zu anderer Zeit vielleicht auf den Gedanken vom stolzen Triumpf der Menschen über die Naturgewalten gebracht . . . Aber neben mir lag ein Mensch, der selber ein Stück Naturgewalt war.
Wir befanden uns im Gebiet des Terek. Schakro war unwahrscheinlich zerlumpt und abgerissen, dabei verteufelt böse, obwohl er nicht mehr zu hungern brauchte, da es genug zu verdienen gab. Er erwies sich als zu jeder Arbeit unfähig. Eines Tages versuchte er, sich an die Dreschmaschine zu stellen und das Stroh beiseite zu harken, hörte aber bei Halbzeit auf, weil er sich an den Handflächen blutige Schwielen geholt hatte. Ein anderes Mal verdingten wir uns, Kreuzdornsträucher zu roden, und er riß sich mit der Hacke die Haut am Halse auf.
Wir kamen ziemlich langsam voran – zwei Tage Arbeit, einen unterwegs. Schakro legte sich beim Essen nicht die geringste Mäßigung auf; ich konnte infolge seiner Bauchdienerei beim besten Willen nicht das Erforderliche einsparen, um dies oder jenes Stück seiner Kleidung zu erneuern. Jedes dieser Stücke stellte ein Sortiment der verschiedenartigsten Löcher dar, die, so gut es ging, durch bunte Flicken zusammengehalten wurden.
Eines Tages stibitzte er mir in einem Kosakendorf fünf Rubel aus meinem Ranzen, die ich mit vieler Mühe heimlich beiseite gelegt hatte, und tauchte abends im Gemüsegarten auf, in dem ich arbeitete – betrunken und mit einem dicken Kosakenweib, das mich mit folgenden Worten begrüßte:
»Guten Tag, verdammter Ketzer!«
Und als ich sie, erstaunt über dieses Epitheton, fragte, wieso ich ein Ketzer sei, gab sie mir mit Aplomb zur Antwort:
»Weil du Teufel dem Burschen verbietest, das weibliche Geschlecht zu lieben! Wie kannst du etwas verbieten, was die Gebote erlauben? Du Gottverfluchter!«
Schakro stand neben ihr und nickte zustimmend mit dem Kopf. Er war schwer betrunken und schwankte haltlos, sobald er eine Bewegung machte. Die Unterlippe hing herunter. Die trüben Augen starrten mir verständnislos ins Gesicht.
»Nun, was glotzt du uns so an? Gib sein Geld heraus!« schrie das tapfere Weib.
»Was für ein Geld?« fragte ich erstaunt.
»Los, her damit! Sonst schleife ich dich zur Amtsstube! Gib die hundertfünfzig Rubel heraus, die du ihm in Odessa abgenommen hast!«
Was sollte ich machen? Womöglich schleppte mich das verdammte Frauenzimmer in ihrer Trunkenheit tatsächlich zur Amtsstube, und die Obrigkeit des Kosakendorfes verhaftete uns, streng gegen alles fahrende Volk, wie sie war. Wer weiß, welche Folgen sich für mich und Schakro daraus ergeben konnten! Ich begann also, das Frauenzimmer auf diplomatische Art einzuwickeln, was mich natürlich nicht allzuviel Mühe kostete. Es gelang mir, sie mit Hilfe von drei Flaschen Wodka einigermaßen zu besänftigen. Sie sank um und schlief zwischen den Wassermelonen ein. Ich bettete Schakro auf die Erde, und am frühen Morgen des folgenden Tages verließen wir das Kosakendorf und mit ihm das Frauenzimmer zwischen den Wassermelonen.
Verkatert, mit zerknittertem und verquollenem Gesicht, spie Schakro alle Augenblicke aus und seufzte tief. Ich versuchte, ihn in ein Gespräch zu ziehen, er gab jedoch keine Antwort und schlenkerte nur mit seinem Zottelkopf wie ein Schaf.
Wir zogen auf einem schmalen Pfad dahin, auf dem kleine rote Schlangen herumkrochen und sich vor unseren Füßen hin und her wanden. Die Stille, die ringsum herrschte, versetzte mich in eine träumerisch-schläfrige Stimmung. Am Himmel segelten langsam Rudel von schwarzen Wolken hinter uns her. Sie flossen ineinander und überzogen den ganzen Himmel hinter uns, während er vorne noch klar blieb und nur einzelne Wolkenfetzen bis zu ihm vorstießen und, uns überholend, munter an ihm dahintrieben. Irgendwo in der Ferne grollte der Donner; sein Brummen kam immer näher. Regentropfen fielen. Das Gras raschelte metallisch.
Wir hatten keine Möglichkeit, irgendwo unterzuschlüpfen. Es wurde auf einmal dunkel; das Rascheln des Grases klang lauter, klang erschrocken. Der Donner krachte, die Wolken zuckten zusammen und flammten blau auf. Große Regentropfen ergossen sich in Strömen, die Donnerschläge folgten einer dem anderen, ihr Grollen hallte pausenlos über die einsame Steppe hin. Wind und Regen beugten das Gras zur Erde. Alles zitterte und erregte sich. Blitze zerrissen, das Auge blendend, die Wolken. In ihrem bläulichen Schein zeichnete sich in der Ferne, kalt und silbern funkelnd, eine Gebirgskette ab und verschwand, wenn die Blitze erloschen, als versinke sie in einen dunklen Abgrund. Es war, als reinige sich der trübe und zornige Himmel durch Feuer vom Staub und von all den Abscheulichkeiten, die von der Erde zu ihm aufstiegen, als bebe die Erde aus Furcht vor seinem Zorn.
Schakro knurrte wie ein verängstigter Hund. Mir dagegen war fröhlich zumute; ich beobachtete das düster-gewaltige Schauspiel des Steppengewitters und fühlte mich aus dem Alltäglichen herausgehoben. Das herrliche Chaos bannte mich, stimmte mich auf einen heroischen Ton und erfüllte die Seele mit grimmiger Harmonie.
Und ich verspürte das Bedürfnis, mich zu beteiligen und die Verzücktheit vor dieser Gewalt, deren mein Herz übervoll war, zum Ausdruck zu bringen. Die blaue Flamme, die über den Himmel hinging, schien auch in meinem Herzen zu lodern – womit konnte ich meine tiefe Erregung, meine Begeisterung zum Ausdruck bringen? Ich sang, sang laut, sang aus voller Kehle. Der Donner brüllte, die Blitze krachten, es raschelte das Gras, während ich sang und mich in vollster Übereinstimmung mit all diesen Lauten fühlte. Ich gebärdete mich wie ein Besessener; das war verzeihlich, denn es schadete niemand außer mir. Der Sturm auf dem Meer und das Gewitter über der Steppe! Ich kenne keine grandiosere Erscheinung in der Natur!
Ich sang also – ich schrie – in der festen Überzeugung, daß ich niemand durch mein Benehmen belästigen, niemand Anlaß zu einer strengen Kritik an meinem Verhalten geben könne. Aber plötzlich zog mir jemand die Beine weg, und ich setzte mich unfreiwillig in eine Pfütze . . .
Schakro sah mir mit ernsten und zornigen Augen ins Gesicht.
»Bist du von Sinnen? Nein? Bist du nicht? Dann schweig still! Schrei nicht! Ich zerreiße dir Gurgel! Hast du värrstanden?«
Ich war verblüfft und erkundigte mich, womit ich ihn den störe.
»Du ärrschreckst mich! Hast du värrstanden? Wenn Donner dröhnt, spricht Gott. Und du brüllst! Was denkst du dir dabei?«
Ich erklärte ihm, ich hätte das Recht, zu singen, wann ich wolle, genausogut wie er.
»Ich will aber nicht!« schnitt er kategorisch ab.
»Dann laß es bleiben!« stimmte ich bei.
»Und du sing auch nicht!« verlangte Schakro streng.
»Ich möchte aber gerne . . .«
»Hör zu – was bildest du ein?« begann er zornig. »Wärr bist du? Hast du ein Haus? Hast du eine Mutter? Ein Vater? Oder Verwandte? Besitzt du vielleicht Land? Was bist du auf der Ärrde? Du glaubst – ein Mensch? Ein Mensch – bin ich! Ich habe alles!« Er pochte sich an die Brust. »Ich bin ein Fürst! Und du bist gar nichts! Und hast nichts! Mich kennt man in Tiflis, mich kennt man in Kutais! Värrstehst du? Stell dich nicht gegen mich! Du dienst mir? Du wirst zufrieden sein! Ich gebbe dir zehnmal zurück! Du machst umsonst? Du kannst nicht anders machen; du hast selber gesagt, Gott will, daß man allen dient ohne Belohnung! Aber ich wärrde dich belohnen! Warum quälst du mich? Warum belehrst du mich und machst mir Angst? Du willst, daß ich bin wie du? Das ist nicht schön von dir! Pfui, pfui!«
Er redete, schmatzte, prustete, seufzte . . . Ich blickte ihm ins Gesicht und staunte mit offenem Mund. Offenbar ließ er all seine Empörung, all seine Gekränktheit und Unzufriedenheit an mir aus, die sich während der ganzen Wanderung in ihm angesammelt hatte. Er stieß mir der größeren Überzeugungskraft halber den Finger gegen die Brust, packte mich an der Schulter und schüttelte mich und drang an besonders kraftvollen Stellen mit seinem ganzen Körper auf mich ein. Der Regen durchnäßte uns, über uns rollte ununterbrochen der Donner, und Schakro rief, damit ich ihn hörte, so laut er konnte.
Die Tragikomik meiner Lage stand mir deutlicher als alles andere vor Augen und ließ mich in schallendes Gelächter ausbrechen . . .
Schakro spie aus und wandte sich von mir ab.
Je mehr wir uns Tiflis näherten, desto zurückhaltender und finsterer wurde Schakro. Etwas Neues trat auf seinem abgemagerten, aber unverändert regungslosen Gesicht hervor. Unweit von Wladikawkas bogen wir in ein Tscherkessendorf ab und verdingten uns zur Maisernte.
Nachdem wir zwei Tage unter den Tscherkessen gearbeitet hatten, die kaum ein Wort Russisch konnten, sich ununterbrochen über uns lustig machten und in ihrer Sprache auf uns schimpften, beschlossen wir, erschrocken über ihr zunehmend feindseligeres Verhalten, das Dorf zu verlassen. Als wir zehn Werst von ihm entfernt waren, zog Schakro plötzlich eine Rolle lesginischen Mull unter dem Rock hervor, hielt sie mir triumphierend hin und rief: »Arbeiten brauchen wir nicht märr! Wir värrkaufen ihm und haben alles! Reicht bis Tiflis! Värrstehst du?«
Ich war bis zum äußersten empört, entriß ihm den Mull, warf ihn beiseite und blickte mich um. Tscherkessen verstehen keinen Spaß. Kurz zuvor hatten wir von Kosaken die folgende Geschichte gehört. Ein Landstreicher ließ beim Verlassen eines Dorfes, in dem er gearbeitet hatte, einen eisernen Löffel mitgehen. Die Tscherkessen holten ihn ein, durchsuchten ihn und fanden den eisernen Löffel; sie schlitzten ihm mit dem Dolch den Bauch auf, steckten den Löffel tief in die Wunde hinein, ritten seelenruhig davon und ließen ihn in der Steppe liegen, wo er halbtot von den Kosaken aufgelesen wurde. Er erzählte es ihnen und starb auf dem Wege ins Dorf. Die Kosaken warnten uns des öfteren mit Nachdruck vor den Tscherkessen und erzählten lehrreiche Geschichten in der Art der angeführten – ich hatte keinen Grund, sie ihnen nicht zu glauben.
Und ich erinnerte Schakro daran. Er stand vor mir, hörte zu und stürzte sich plötzlich wortlos, mit gebleckten Zähnen und zusammengekniffenen Augen wie eine Katze auf mich. Wir schlugen wohl fünf Minuten gehörig aufeinander ein – bis Schakro mir zornig zurief: »Genug jetzt!«
Dann saßen wir uns lange erschöpft und schweigend gegenüber. Schakro warf einen bedauernden Blick dorthin, wohin ich den gestohlenen Mull geschleudert hatte, und sagte: »Weshalb haben wir uns geprügelt! Pah, pah, pah . . . Särr dumm von uns! Hab ich ihn dir gestohlen? Tut dir vielleicht leid? Mir tust du selber leid – darum habe ich ihn gestohlen. Du arbeitest, aber ich värrsteh nicht. Was soll ich machen? Ich wollte dir helfen . . .«
Ich versuchte ihm zu erklären, was Diebstahl ist.
»Bitte, schweig still! Du hast Kopf wie Holz«, gab er verächtlich zur Antwort und erläuterte: »Wenn du stärrben wirst – wirst du stehlen? Na also! Und ist das vielleicht Lebben? Schweig still!«
Ich schwieg aus Furcht, ich könnte ihn aufs neue reizen. Es war bei ihm schon der zweite Fall eines Diebstahls. Schon damals am Schwarzen Meer hatte er griechischen Fischern eine Taschenwaage stibitzt. Auch da hatten wir uns beinah geschlagen.
»Nun, was ist, gehen wir weiter?« fragte er, nachdem wir uns einigermaßen beruhigt, wieder versöhnt und ausgeruht hatten.
Wir gingen weiter. Er wurde mit der Zeit immer finsterer. Eines Tages, als wir schon die Schlucht von Darjal hinter uns hatten und den Gudaur hinunterstiegen, wurde er gesprächig. »Zwei, drei Tage värrgehen, und wir sind in Tiflis. Zze, zze, zze!« Er schnalzte mit der Zunge und blühte regelrecht auf. »Ich komme nach Hause – wo bist du gewesen? Auf Reise! Ich gehe in Dampfbad – jawohl! Und wärrde viel essen . . ., oh, särr viel! Ich sage zu Mutter – habe särr großen Hunger! Ich sage zu Vater – värrzeih mir! Ich habe viel Kummer gesehen, habe Lebben gesehen, ganz verschiedenes! Landstreicher särr gute Menschen! Wenn ich treffe, gebe ihm einen Rubel, führe ihn in Duchan und sage – trink Wein, ich bin selbst Vagabund gewesen! Und ärrzähle Vater von dir . . . Das ist ein Mensch! War wie älterer Bruder zu mir. Hat mich gelehrt. Und hat mich geschlagen, der Hund! Aber ärrnährt. Jetzt wärrde ich sagen, ärrnähre du ihn. Ein Jahr. Ein ganzes Jahr – jawohl! Hörst du, Maxim?«
Ich hörte gerne zu, wenn er so sprach; er bekam in solchen Augenblicken etwas Einfaches und Kindliches. Reden wie diese waren für mich auch darum von Interesse, weil ich in Tiflis keinen einzigen Bekannten hatte und der Winter vor der Tür stand. Auf dem Gudaur waren wir schon in einen Schneesturm geraten. Ich hoffte ein wenig auf Schakro.
Wir kamen jetzt rasch voran. Schon lag Mzcheta, die uralte Hauptstadt Iberiens, vor uns. Ein Tag noch, und wir würden in Tiflis sein.
Bereits von weitem, aus einer Entfernung von rund fünf Werst, erblickte ich die zwischen zwei Bergen eingeklemmte Hauptstadt des Kaukasus.
Wir waren am Ziel! Ich freute mich aus irgendeinem Grunde, Schakro blieb gleichgültig. Er starrte mit stumpfem Blick vor sich hin, spie den Speichel aus, der ihm vor Hunger im Munde zusammenlief, und faßte sich alle Augenblicke mit krampfhaft verzerrtem Gesicht an den Bauch. Er hatte unvorsichtigerweise unterwegs »geerntete« rohe Mohrrüben gegessen.
»Du glaubst, ich als grusinische Edelmann gehe bei Tage in meine Stadt – so, wie ich bin, schmutzig und abgerissen? O nein! Wir warten bis Abend. Halt!«
Wir ließen uns an der Wand eines leerstehenden Gebäudes nieder, drehten jeder unsere letzte Zigarette und rauchten. Von der Grusinischen Heerstraße blies ein starker, schneidender Wind herüber. Schakro saß da und summte ein trauriges Lied. Ich dachte an ein warmes Zimmer und an andere Dinge, die das seßhafte Leben dem Nomadenleben voraus hat.
»Gehen wir!« sagte Schakro und erhob sich mit entschlossener Miene.
Es dunkelte. Die Stadt entzündete ihre Lichter. Es war hübsch anzuschauen, wie sie nach und nach in der Dunkelheit aufblitzten, die das Tal mit der in ihm verborgenen Stadt verhüllte.
»Hör zu! Gib mir dein Baschlyk, damit ich das Gesicht värrdecken kann . . ., sonst ärrkennen mich vielleicht irgendwelche Bekannten.«
Ich gab ihm den Baschlyk. Wir gingen die Olginskaja-Straße entlang. Schakro pfiff etwas Energisches vor sich hin.
»Maxim! Siehst du Pfärrdebahnhaltestelle Werijski-Brücke? Sitz hier und warte! Bitte warte! Ich gehe nur in ein Haus und ärrkundige mich bei ein Gefährte nach den Meinen – nach Vater, nach Mutter.«
»Du bleibst doch nicht lange weg?«
»Nein, nur einen Moment!«
Er huschte rasch in eine schmale und dunkle Gasse und verschwand – für alle Zeiten.
Ich habe ihn nie wiedergesehen, diesen Weggefährten, der mich beinah vier Monate lang durch mein Leben begleitete, aber ich denke oft an ihn zurück – mit einem guten Gefühl und einem fröhlichen Lachen.
Er hat mich vieles gelehrt, das man in keinem der dicken, von allerlei Wissen verfaßten Folianten findet – denn die Weisheit des Lebens ist immer tiefer und umfassender als die Weisheit der Menschen.