Maxim Gorki
Die alte Isergil und andere Erzählungen
Maxim Gorki

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Tschelkasch

Der blaue, vom Staub verdunkelte südliche Himmel ist matt; die heiße Sonne blickt wie durch einen dünnen grauen Schleier auf das grünliche Meer. Sie wird kaum widergespiegelt vom Wasser, das durch Ruderschläge, Dampferschrauben, die scharfen Kiele der türkischen Feluken und anderer Schiffe zerteilt wird, die den engen Hafen in allen Richtungen durchfuhren. Die in Granit gezwängten Meereswellen werden von den riesigen Lasten, die über ihre Kämme hingleiten, niedergedrückt, schlagen gegen die Bordwände der Schiffe, gegen die Ufer und murren, aufschäumend, verschmutzt durch allerlei Plunder.

Das Klirren der Ankerketten, das Dröhnen der Kupplungen an den Eisenbahnwagen, die die Frachten heranschaffen, das metallische Läuten von Eisenblech, das auf Steinpflaster aufschlägt, das gedämpfte Poltern von Holz, das Rattern der Pferdefuhrwerke mit ihren Ladungen, die bald durchdringend schrillen, bald dumpf heulenden Schiffssirenen, die Rufe der Hafenarbeiter, der Matrosen, der Zollwachen – all diese Laute fließen zu der betäubenden Musik eines Arbeitstages zusammen und hängen, unruhig wogend, am niedrigen Himmel über dem Hafen; immer neue Wellen von Lärm steigen von der Erde auf – bald dumpfe, grollende, die finster alles ringsum erschüttern, bald schrille, rasselnde, die die staubige Luft zerreißen.

Der Granit, das Eisen, das Holz, die Straßendämme am Hafen, die Schiffe und die Menschen – alles schwelgt in den überwältigenden Klängen einer leidenschaftlichen Hymne an Merkur. Doch die Stimmen der Menschen sind kaum herauszuhören, sie wirken schwach und lächerlich. Und auch die Menschen selbst, die letzten Endes dieses ganze Getöse hervorgerufen haben, sind komisch und kümmerlich – ihre staubigen, zerlumpten, behenden, vom Gewicht der Lasten, die sie auf dem Rücken tragen, gebeugten Gestalten eilen in Wolken von Staub, in einem Meer von Hitze und Lauten geschäftig hin und her und erscheinen winzig, verglichen mit dem, was sie umgibt – den eisernen Kolossen, den Bergen von Waren, den polternden Eisenbahnwagen und allem, was sie geschaffen haben. Das, was sie geschaffen haben, hat sie versklavt und ihres Gesichts beraubt.

Die unter Dampf stehenden schweren Schiffsriesen heulen, zischen, stoßen tiefe Seufzer aus, und in jedem Laut, den sie von sich geben, scheint ein spöttischer Ton der Verachtung gegenüber den grauen, staubigen menschlichen Gestalten mitzuschwingen, die auf ihren Decks herumkribbeln und die tiefen Laderäume mit den Erzeugnissen ihrer Sklavenarbeit anfüllen. Zum Weinen komisch – diese langen Ketten von Hafenarbeitern, die Tausende von Pud Getreide auf dem Rücken in die eisernen Bäuche der Schiffe schleppen, um ein paar Pfund von ebendiesem Getreide für ihren Magen zu verdienen. Die abgerissenen, verschwitzten, vor Müdigkeit, Lärm und Hitze stumpfsinnig gewordenen Menschen und die von ihnen geschaffenen gewaltigen, vor Gepflegtheit in der Sonne blitzenden Maschinen, diese Maschinen, die am Ende dennoch nicht durch den Dampf, sondern durch die Muskeln, das Blut ihrer Schöpfer in Gang gesetzt wurden – in dieser Gegenüberstellung lag ein ganzes Poem grausamer Ironie.

Der Lärm bedrückte, der Staub kitzelte in der Nase und verklebte die Augen, die Hitze dörrte den Körper aus und erschöpfte ihn, und alles ringsum schien gereizt, am Ende der Geduld, bereit, sich in einer grandiosen Katastrophe zu entladen, einer Explosion, nach der man in der erneuerten Luft wieder frei und leicht atmen würde, auf der Erde Stille eintreten und dieser staubige, betäubende, entnervende, bis zur trübseligen Raserei führende Lärm aufhören mußte – dann würde es in der Stadt, auf dem Meer und am Himmel wieder still, klar und schön werden . . .

Zwölf gleichmäßige, hallende Glockenschläge ertönten. Als der letzte der ehernen Laute erstorben war, klang die wilde Musik der Arbeit schon leiser. Einen Augenblick danach verwandelte sie sich in ein dumpfes, mißmutiges Grollen. Die Stimmen der Menschen und der Wellenschlag des Meeres wurden vernehmlicher. Die Mittagspause war angebrochen.

 

I

Als sich die Schauerleute, die Arbeit unterbrechend, in geräuschvollen Gruppen im Hafen zerstreuten, bei den Händlerinnen allerlei Eßbares erwarben und sich an Ort und Stelle, in einem schattigen Winkel auf dem Straßendamm niederließen, um zu Mittag zu essen, erschien Grischka Tschelkasch, der gehetzte alte Wolf, ein unverbesserlicher Trinker und gewandter, unerschrockener Dieb, den jedermann im Hafen kannte. Er war barfuß und ohne Mütze und hatte nichts als alte, schäbige Manchesterhosen und ein schmutziges Baumwollhemd mit zerschlissenem Kragen an, unter dem sich dürr und kantig, von brauner Haut überzogen, die Knochen abzeichneten. Man sah seinem zerzausten, grau durchzogenen schwarzen Haar und dem zerknitterten, scharfgeschnittenen Raubvogelgesicht an, daß er eben erst aufgestanden war. In dem einen Ende seines braunen Schnurrbarts hatte sich ein Strohhalm verfangen, ein zweiter war zwischen den Borsten der linken, normalerweise rasierten Wange hängengeblieben, und hinter das Ohr hatte er sich einen kleinen, gerade erst abgebrochenen Lindenzweig gesteckt. Lang, knochig, ein wenig vornübergeneigt, schritt er langsam über die Pflastersteine, wandte die gebogene Habichtsnase bald da-, bald dorthin, sah sich blinzelnd mit kalten grauen Augen nach allen Seiten um und schien jemand unter den Hafenarbeitern zu suchen. Sein dichter, langer brauner Schnurrbart zuckte alle Augenblicke wie bei einem Kater, er rieb sich die auf den Rücken gelegten Hände, und seine langen, krummen, griffigen Finger verkrampften sich nervös ineinander. Selbst hier, unter den Hunderten von ebenso ausgeprägten Stromergestalten wie er, zog er sogleich die Aufmerksamkeit auf sich – durch seine Ähnlichkeit mit einem Steppenhabicht, durch seine raubtierhafte Magerkeit und seinen lauernden, äußerlich zwar gemessen und ruhigen, aber im Grunde gespannten und wachsamen Gang, der an den Flug jenes Raubvogels erinnerte, dem er ähnelte.

Als er an einer Gruppe barfüßiger Hafenarbeiter vorbeikam, die sich im Schatten eines Berges von Kohlenkiepen niedergelassen hatten, trat ein stämmiger Bursche mit einfältigem Gesicht voller blauer Flecken und Kratzern im Nacken auf ihn zu, der offenbar erst kürzlich verprügelt worden war. Er stand auf, schloß sich Tschelkasch an und sagte mit gedämpfter Stimme: »Die von der Marine vermissen zwei Ballen Stoff . . . Sie suchen nach ihnen.«

»Na und?« fragte Tschelkasch und maß ihn ruhig mit dem Blick.

»Was heißt – na und? Sie suchen danach. Das ist alles.«

»Möchten sie vielleicht, daß ich suchen helfe?«

Und Tschelkasch sah mit einem Lächeln dorthin, wo sich das Lagerhaus der Freiwilligen Handelsmarine befand.

»Scher dich zum Teufel!«

Der Bursche drehte sich um und ging.

»He, warte mal! Wer hat dich denn so verziert? Schau einer an, wie sie dir das Aushängeschild verdorben haben . . . Hast du nicht irgendwo in der Nähe Mischka gesehen?«

»Nein, schon lange nicht mehr!« rief der Bursche und wandte sich zurück zu den Kameraden.

Tschelkasch ging weiter und wurde von allen, die ihm begegneten, wie ein guter Bekannter begrüßt. Doch er, der sonst immer fröhlich und bissig war, schien heute schlechter Laune zu sein und beantwortete alle Fragen abgehackt und barsch.

Plötzlich tauchte hinter einem Warenstapel ein Zöllner auf, dunkelgrün, staubbedeckt und militärisch aufrecht. Er vertrat Tschelkasch den Weg und pflanzte sich in herausfordernder Haltung vor ihm auf, die linke Hand am Griff des kurzen, dolchartigen Säbels, die rechte zu Tschelkasch ausgestreckt, in der Absicht, ihn am Kragen zu nehmen.

»Halt! Wo willst du hin?«

Tschelkasch trat einen Schritt zurück, sah den Wachmann an und lächelte zurückhaltend.

Das rote, gutmütig-pfiffige Gesicht des Zöllners versuchte, eine drohende Miene anzunehmen, zu welchem Behufe er sich aufblies, rund und dunkelrot wurde, die Brauen bewegte und die Augen aufriß – das wirkte sehr komisch.

»Ich habe dir ein für allemal gesagt, du hast im Hafen nichts zu suchen, sonst brech ich dir die Rippen! Und du bist schon wieder da?« schrie ihn der Zöllner barsch an.

»Guten Tag, Semjonytsch! Lange nicht gesehen«, begrüßte Tschelkasch ihn ruhig und hielt ihm die Hand hin.

»Und wenn ich dich mein Lebtag nicht wiedersehe – geh, geh schon!«

Aber Semjonytsch drückte ihm dann doch die ausgestreckte Hand.

»Du sollst mir nur eins sagen«, fuhr Tschelkasch fort, hielt Semjonytschs Hand mit seinen griffigen Fingern fest und schüttelte sie auf freundschaftlich-familiäre Weise, »hast du nicht Mischka gesehen?«

»Was denn für einen Mischka? Ich kenne keinen Mischka! Mach, daß du fortkommst, mein Freund, sonst sieht dich der Lagerverwalter und gibt es dir . . .«

»Den Rothaarigen, mit dem ich zuletzt auf der ›Kostroma‹ gearbeitet habe«, beharrte Tschelkasch auf seiner Frage.

»Sagen wir lieber – den, mit dem du klauen gehst! Sie haben ihn ins Krankenhaus geschafft, deinen Mischka, ihm ist eine Eisenstange auf den Fuß gefallen. Aber geh jetzt, Verehrter, solange man dich anständig dazu auffordert, sonst mach ich dir Beine!«

»Aha, da sieht man's! Und du behauptest – ich kenne keinen Mischka . . . Natürlich kennst du ihn. Warum bist du eigentlich so ärgerlich, Semjonytsch?«

»Hör zu, rede nicht drum herum, sondern verschwinde!«

Der Zöllner wurde allmählich böse, sah sich nach allen Seiten um und versuchte, die Hand aus der Umklammerung zu befreien. Tschelkasch blickte ihn unter den dichten Augenbrauen hervor ruhig an und fuhr fort, ohne seine Hand loszulassen: »Dräng doch nicht so! Ich spreche mich nur mit dir aus und troll mich. Nun, erzähle – wie geht's, wie steht's? Was machen Frau und Kinder? Alles gesund?« Und er funkelte mit den Augen, bleckte, spöttisch lächelnd, die Zähne und fügte hinzu: »Ich würde ja gern einen Besuch bei dir machen, finde aber einfach nicht die Zeit – ich trinke fortwährend . . .«

»Na, na, das laß mal sein! Treib keine Scherze mit mir, du knochiger Teufel! Sonst nehme ich dich wahrhaftig . . . Oder hast du allen Ernstes vor, in Häuser einzubrechen und dich auf Straßenraub zu verlegen?«

»Weshalb denn? Das, was hier abfällt, reicht für uns beide, solange wir leben. Bei Gott, Semjonytsch, es reicht! Du hast, wie man hört, wieder zwei Ballen Stoff beiseite geschafft? Paß auf, Semjonytsch! Laß dich nicht kriegen!«

Semjonytsch zitterte vor Entrüstung, verspritzte Speichel und versuchte, etwas zu erwidern. Tschelkasch ließ seine Hand los und wandte sich auf seinen langen Beinen gelassen zurück zum Hafentor. Der Zöllner schimpfte wütend hinter ihm her und folgte ihm.

Tschelkaschs Laune hatte sich gebessert; er pfiff, die Hände in den Hosentaschen, leise vor sich hin, ging langsam seines Weges und warf mit giftigen Spötteleien und Scherzen um sich. Man zahlte sie ihm mit gleicher Münze heim.

»Schau einer an, Grischka, wie besorgt die Obrigkeit um dich ist!« rief ihm jemand aus der Schar der Hafenarbeiter zu, die inzwischen gegessen hatten, auf der Erde lagen und sich ausruhten.

»Ich gehe doch, weißt du, barfuß, und da paßt Semjonytsch auf, daß ich nicht fehltrete«, entgegnete Tschelkasch.

Er kam ans Tor. Zwei Soldaten tasteten ihn ab und schoben ihn mit einem leichten Schubs auf die Straße hinaus.

Tschelkasch überquerte den Straßendamm und ließ sich auf dem Prellstein vor einem Kneipeneingang nieder. Ein langer Zug beladener Lastfuhrwerke polterte aus dem Hafentor. Ihnen entgegen jagten leere Fuhrwerke, deren Kutscher auf und nieder schnellten, zum Tor hinein. Der Hafen spie ein heulendes Dröhnen und beißenden Staub aus . . .

Tschelkasch fühlte sich in diesem wilden Getümmel ausgesprochen wohl. Ihm winkte ein beträchtlicher Gewinn, der viel Geschick, aber wenig Arbeit von ihm verlangte. Er war sicher, daß er das erforderliche Geschick besaß, und träumte mit zusammengekniffenen Augen von der Sause, mit der er gleich am nächsten Morgen beginnen würde, sobald die Scheine in seiner Tasche knisterten . . . Ihm fiel sein Kumpel Mischka ein – der wäre ihm, hätte er sich nicht das Bein gebrochen, in dieser Nacht sehr nützlich gewesen. Tschelkasch stieß im stillen einen Fluch aus und sagte sich, er werde die Sache ohne Mischka womöglich nicht hinkriegen. Wie diese Nacht wohl werden würde? Er blickte zum Himmel, dann die Straße entlang.

Ein halbes Dutzend Schritt von ihm entfernt saß, mit dem Rücken an einen Prellstein gelehnt, auf dem Pflaster neben dem Bürgersteig ein junger Bursche in blaugestreiftem Hanfhemd und ebensolchen Hosen, mit Bastschuhen an den Füßen und einer verfärbten, zerrissenen Mütze auf dem Kopf. Neben ihm lagen ein kleiner Rucksack und eine Sense ohne Stiel, die sauber mit Stroh umwickelt und verschnürt war. Der Bursche war breitschultrig, stämmig und blond und hatte ein sonnengebräuntes, wetterhartes Gesicht und große blaue Augen, die Tschelkasch vertrauensvoll und gutmütig anblickten.

Tschelkasch bleckte die Zähne, steckte die Zunge heraus, schnitt eine schauderhafte Fratze und starrte ihn aus aufgerissenen Augen an.

Der Bursche stutzte zuerst und blinzelte, brach dann aber in schallendes Gelächter aus, rief, immer noch lachend: »So ein Kauz!« und wälzte sich, fast ohne sich von der Erde zu lösen, schwerfällig von seinem Prellstein zu jenem, auf dem Tschelkasch saß, wobei er den Rucksack hinter sich her durch den Straßenstaub zog und mit dem Sensenhaken über die Pflastersteine klirrte.

»Du hast wohl tüchtig über den Durst getrunken, Verehrter!« wandte er sich an Tschelkasch und zupfte ihn am Hosenbein.

»Habe ich, habe ich, du Milchbart!« gestand Tschelkasch mit einem Lächeln. Der gesunde, gutmütige Bursche mit den hellen Kinderaugen gefiel ihm auf den ersten Blick. »Du kommst wohl von der Heuernte?«

»Ja, sicher! Eine Werst gemäht – zehn Kopeken verdient. Ein schlechtes Geschäft! Und ein Haufen Volk! Da schleppen sich alle Hungerleider herbei und drücken die Preise, daß man erst gar nicht anfangen möchte. Im Kubangebiet haben sie sechzig Kopeken gezahlt. Und das soll ein Geschäft sein? Dabei haben sie früher, sagt man, drei, vier und sogar fünf Rubel gegeben!«

»Ja, früher! Früher hat man dort drei Rubel bezahlt, schon wenn man einen Russen zu sehen bekam! Ich habe vor zehn Jahren davon gelebt. Da kommt man in ein Kosakendorf und braucht nur zu sagen, ich bin Russe! Und gleich mustern sie dich, befühlen dich und staunen – schon hast du deine drei Rubel weg! Und sie geben dir auch noch zu essen und zu trinken. Kurz – leb, wie es dir gefällt!«

Der Bursche hörte Tschelkasch zunächst mit offenem Munde zu, wobei sich auf seinem runden Gesicht ein staunendes Entzücken malte, begriff dann aber, daß der Zerlumpte neben ihm schwindelte, schnalzte mit der Zunge und lachte. Tschelkasch bewahrte eine ernste Miene und verbarg das Lächeln hinter seinem Schnurrbart.

»Komischer Kauz! Was du sagst, klingt wie die Wahrheit, und ich hör dir zu und glaube es auch noch . . . Nein, wahrhaftig, es muß dort früher . . .«

»Ja, wovon rede ich denn? Ich sage dir doch, daß man dort früher . . .«

»Hör auf!« winkte der Bursche ab. »Du bist wohl Schuhmacher? Oder Schneider? Was bist du eigentlich?«

»Ich?« fragte Tschelkasch zurück, überlegte und entgegnete: »Ich bin Fischer.«

»Fischer! Aha! Du fängst also Fische?«

»Weshalb gerade Fische? Die hiesigen Fischer holen auch anderes heraus – Wasserleichen, alte Anker, versunkene Schiffe, alles, was du willst! Es gibt sogar besondere Angeln dafür . . .«

»Schwindel nur, Schwindel nur, schneid auf! Du gehörst wohl zu jenen Fischern, die von sich singen:

Denn wir werfen unsere Netze
Gerne aus an Land,
Längs des Speichers, längs der Vorratskammer Wand.«

»Und hast du schon welche von ihnen gesehen?« erkundigte sich Tschelkasch und sah ihn spöttisch an.

»Nein, wo sollte ich sie denn gesehen haben? Ich habe nur von ihnen gehört . . .«

»Gefallen sie dir?«

»Ob sie mir gefallen? Sicher! Sind unabhängige, freiheitsliebende Burschen . . .«

»Und was bedeutet dir die Freiheit? Liebst du sie denn?«

»Wie sollte ich nicht? Sein eigner Herr sein, hingehen können, wohin man will, tun und lassen können, was man will . . . Und ob das was ist! Wenn du dich anständig aufführst und dir keine Steine auf den Hals lädst – das Schönste, was es gibt! Leb und vergnüg dich, soviel du willst, aber vergiß den Herrgott nicht . . .«

Tschelkasch spie verächtlich aus und wandte sich von dem Burschen ab.

»Bei mir liegen die Dinge so«, fuhr dieser fort, »mein Vater ist tot, die Wirtschaft ist klein, die Mutter alt, der Boden ausgelaugt – was also fange ich an? Man muß schließlich von etwas leben. Aber wovon? Das ist die Frage. Sagen wir, ich heirate ein – in ein gutes Haus. Schön! Ja, wenn die Tochter ihr Land gleich zugeteilt bekäme! Aber nein – der Satan von Schwiegervater denkt nicht daran. Und ich muß mich für ihn schinden . . . Jahrelang! Du siehst, was das für Sachen sind! Habe ich aber so meine hundertfünfzig Rubel beisammen, dann steh ich ganz anders da und kann zu Antip, dem Schwiegervater, sagen – friß, Vogel, oder stirb! Zahlst du Marfa nun aus oder nicht? Nein? Gut, laß es bleiben! Es gibt ja, Gott sei Dank, noch mehr Mädchen im Dorf. Ich bin dann völlig frei und Herr über mich selbst. Hm, ja . . .« Der Bursche seufzte. »So aber bleibt mir nichts übrig, als Antips Schwiegersohn zu werden. Ich hatte mir gedacht – gehst ins Kubangebiet, kratzt deine zweihundert Rubel zusammen, und fertig, bist ein gemachter Mann! Aber daraus ist nichts geworden. Nun ja, dann muß ich eben Knecht beim Schwiegervater werden . . . Mit meiner eigenen Wirtschaft komme ich nicht hin, auf keinen Fall! Ach wo!«

Dem Burschen fiel es offensichtlich sehr schwer, Schwiegersohn zu werden. Sein Gesicht nahm einen bedrückten Ausdruck an und verfinsterte sich. Er rutschte mißmutig auf der Erde hin und her.

Tschelkasch erkundigte sich: »Wo willst du denn hin?«

»Wo soll ich schon hin? Da fragst du noch? Nach Hause.«

»Kann man nicht wissen, Verehrter. Womöglich willst du in die Türkei.«

»In die Türkei – ei!« entgegnete der Bursche gedehnt. »Welcher Rechtgläubige geht denn in die Türkei? Womit du einem aber auch kommst!«

»So was von Dummkopf!« seufzte Tschelkasch und wandte sich aufs neue von dem Gesprächspartner ab. Dieser gesunde Bauernbursche weckte etwas in ihm.

Ein dumpfes, allmählich zunehmendes ärgerliches Gefühl brodelte irgendwo in der Tiefe seines Bewußtseins und hinderte ihn, sich zusammenzunehmen und daran zu denken, was er in dieser Nacht zu tun hatte.

Der ausgescholtene Bursche murmelte etwas und schielte von Zeit zu Zeit zu dem Landstreicher hin. Seine Wangen bliesen sich spaßig auf, die Lippen schürzten sich, und die zusammengekniffenen Augen zwinkerten komisch und allzu rasch hintereinander. Er hatte offenbar nicht erwartet, daß seine Unterhaltung mit diesem schnurrbärtigen Vagabunden so bald und auf so kränkende Art enden würde.

Der Vagabund beachtete ihn nicht mehr. Er saß auf seinem Prellstein, pfiff nachdenklich vor sich hin und schlug mit dem schmutzigen bloßen Fuß den Takt dazu.

Der Bursche wollte ihm die Kränkung heimzahlen.

»He, du Fischer! Kommt wohl öfter vor, daß du dich betrinkst?« begann er, aber der »Fischer« drehte sich in diesem Augenblick rasch zu ihm um und fragte: »Hör zu, du Milchbart! Willst du heute nacht mit mir arbeiten? Sprich, aber rasch!«

»Was heißt arbeiten?« gab der Bursche mißtrauisch zurück.

»Ja, was wohl? Alles, was ich von dir verlange . . . Wir fahren Fische fangen. Und du sollst rudern.«

»Aha . . . Nun, gut . . ., von mir aus! Arbeiten kann man. Nur eins . . ., ich will dabei nicht in irgendeine Geschichte hineingeraten. Du bist mir zu undurchsichtig, zu dunkel.«

Tschelkasch hatte das Gefühl, irgendwo im Innersten verbrannt worden zu sein, und erwiderte mit gedämpfter Stimme und kalter Wut: »Red nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst! Warte, ich schlag dir gleich auf den Schädel, dann hellt sich's da drin vielleicht ein bißchen auf . . .«

Er schnellte vom Prellstein, zupfte mit der linken Hand an seinem Schnurrbart, ballte die harte, sehnige Rechte zur Faust und funkelte mit den Augen.

Der Bursche erschrak. Er blickte sich rasch nach allen Seiten um und sprang, verschüchtert mit den Augen zwinkernd, ebenfalls auf. Sie maßen einander schweigend mit dem Blick.

»Nun?« fragte Tschelkasch schließlich rauh. Er kochte vor Wut und zitterte von der Kränkung, die dieses Kalb ihm zugefügt hatte; solange er mit ihm sprach, war er ihm verächtlich erschienen, aber jetzt haßte er ihn auf einmal – weil er so unschuldig blaue Augen hatte, ein so gesundes, sonnenverbranntes Gesicht, so kurze, kräftige Hände; weil es irgendwo ein Dorf gab, in dem er ein Haus besaß, weil ein wohlhabender Bauer ihn zum Schwiegersohn wollte; weil sein Leben so völlig anders war und es auch weiterhin sein würde, besonders aber, weil er – ein Kind im Vergleich zu Tschelkasch – sich herausnahm, die Freiheit zu lieben, deren Wert er gar nicht kannte und die er auch nicht brauchte. Es berührte immer unangenehm, einen Menschen vor sich zu sehen, den man für geringer, für niedriger stehend hält als sich selbst, wenn dieser Mensch dasselbe liebt oder dasselbe haßt und sich auf diese Weise auf die gleiche Stufe mit einem stellt.

Der Bursche blickte auf Tschelkasch und spürte den Dienstherrn in ihm.

»Ich bin gar nicht abgeneigt«, begann er. »Arbeit suche ich doch. Und ob ich bei dir oder bei einem anderen arbeite, ist mir gleich. Ich hab es doch nur gesagt, weil du so gar nicht nach Arbeit ausschaust . . . Da bist du denn doch . . ., wie soll ich sagen . . ., zu abgerissen dazu. Nun ja, ich weiß schon, kann jedem passieren. Herrgott im Himmel, als hätt ich noch keinen gesehen, der säuft. Ach, und wie viele! Und noch ganz andere als dich!«

»Schon gut, schon gut! Du machst also mit?« fragte Tschelkasch schon weicher.

»Ich? Ja doch! Mit Vergnügen! Und was bezahlst du mir dafür?«

»Es kommt auf die Arbeit an. Je nachdem, was für Arbeit es gibt. Das heißt – wie der Fang ausfällt . . . Mit einem Fünfrubelschein kannst du wohl rechnen. Verstanden?«

Jetzt, wo es ums Geld ging, wollte der Bauer jedoch genau sein und verlangte dieselbe Genauigkeit auch von seinem Dienstherrn. Und wieder flammten Mißtrauen und Argwohn in ihm auf.

»Das ist mir zu unsicher, Verehrter!«

Tschelkasch fand an seiner Rolle Gefallen.

»Rede nicht, warte ab! Gehen wir erst mal ins Wirtshaus!«

Und sie gingen die Straße entlang nebeneinanderher, Tschelkasch – den Schnurrbart zwirbelnd und mit der wichtigen Miene des Brotherrn, der Bursche mit dem Ausdruck der völligen Bereitschaft, sich unterzuordnen, und dennoch von Mißtrauen und Furcht erfüllt.

»Wie heißt du eigentlich?« fragte Tschelkasch.

»Gawrila!« entgegnete der Bursche.

Als sie die schmutzige, verräucherte Gastwirtschaft erreichten, trat Tschelkasch ans Büfett, bestellte im familiären Ton des Stammgastes eine Flasche Wodka, Kohlsuppe, überbratenes Fleisch und Tee und warf dem Büfettier, nachdem er das Gewünschte aufgezählt hatte, kurz hin: »Alles auf Pump!«, worauf der Büfettier nur schweigend nickte. Hier bekam Gawrila sofort Respekt vor seinem Herrn, der, obzwar er äußerlich an einen Spitzbuben erinnerte, so bekannt war und ein solches Vertrauen genoß.

»So, und jetzt essen wir eine Kleinigkeit und unterhalten uns wie vernünftige Leute. Bleib da, ich habe noch etwas zu erledigen.«

Er ging. Gawrila sah sich um. Die Wirtschaft befand sich im Keller; der Keller war feucht und dunkel und völlig von stickigen Gerüchen erfüllt – es roch nach hochprozentigem Wodka, nach Tabaksqualm, nach Teer und anderem, gleichfalls sehr Beißendem. Am Tisch Gawrila gegenüber saß ein Betrunkener mit rotem Bart, in Matrosenuniform, voller Kohlenstaub und ganz mit Teer beschmiert. Er brummte, alle Augenblicke aufstoßend, ein Lied vor sich hin, das aus lauter abgerissenen, abgebrochenen, bald schauderhaft zischenden, bald kehligen Wörtern bestand. Es war offenbar kein Russe.

Hinter ihm saßen zwei zerlumpte, schwarzhaarige und braungebrannte Moldauerinnen, die ihrerseits mit betrunkenen Stimmen irgendein Lied plärrten.

Dann traten aus dem Halbdunkel allerlei andere Gestalten hervor, alle sonderbar zerzaust, alle angetrunken, übermäßig laut und angeregt . . .

Gawrila wurde unheimlich zumute. Er wünschte sich, sein Herr möge möglichst bald zurückkehren. Der Lärm in der Gastwirtschaft floß zu einem einzigen Ton zusammen; es schien, als knurre hier gereizt irgendein riesiges Tier, das blindlings nach einem Ausgang aus dieser steinernen Gruft sucht und nicht ins Freie findet . . . Gawrila fühlte, wie sich etwas Berauschendes, Bedrückendes an ihm festsog, wovon ihm der Kopf schwindelte und das ihm die Augen vernebelte, die neugierig und ängstlich in der Gastwirtschaft herumirrten.

Tschelkasch kam schließlich zurück, und sie aßen und tranken und unterhielten sich. Gawrila war nach dem dritten Gläschen angegangen. Er erheiterte sich und hätte seinem Herrn, der – feiner Kerl, der er war – ihn mit so wohlschmeckenden Dingen bewirtete, gern etwas Angenehmes gesagt. Doch die Worte, die ihm in regelrechten Wellen bis an die Kehle drangen, wollten aus irgendeinem Grunde nicht von der schwer gewordenen Zunge.

Tschelkasch sah ihn mit spöttischem Lächeln an und meinte:

»Bist ja beschwipst! Ach, du Affe! Und das von fünf Schnäpsen! Wie willst du danach arbeiten?«

»Freund!« lallte Gawrila. »Keine Angst! Ich krieg's schon hin. Komm, laß dir einen Kuß geben! . . . Ja? . . .«

»Schon gut, schon gut, du! Hier, gieß dir noch einen hinter die Binde!«

Gawrila trank, und am Ende war es soweit, daß alles vor seinen Augen in gleichmäßigen, wellenförmigen Bewegungen auf und nieder schwankte. Das war unangenehm, und ihm wurde übel. Sein Gesicht nahm einen dümmlich-verzückten Ausdruck an. Er versuchte, etwas zu sagen, verzog aber nur den Mund und gab unartikulierte Laute von sich. Tschelkasch blickte ihn unverwandt an, als erinnere er sich an etwas, zwirbelte an seinem Schnurrbart und lächelte trübe vor sich hin.

Die Gastwirtschaft dröhnte vom Grölen der Betrunkenen. Der rothaarige Matrose schlief, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt.

»Los, gehen wir!« sagte Tschelkasch und erhob sich.

Gawrila versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht, stieß einen kräftigen Fluch aus und lachte das blöde Lachen des Betrunkenen.

»Total aus dem Leim!« sagte Tschelkasch und ließ sich aufs neue ihm gegenüber nieder.

Gawrila lachte in einem fort und glotzte seinen Herrn stumpfsinnig an. Auch der blickte unverwandt zu ihm hin, aber aufmerksam und nachdenklich. Er sah einen Menschen vor sich, dessen Leben in seine wölfischen Pranken geraten war. Tschelkasch fühlte, daß er die Macht besaß, ihm diese oder jene Wendung zu geben. Er konnte es zerreißen wie eine Spielkarte oder ihm dazu verhelfen, in die gesicherten Bahnen des bäuerlichen Daseins zurückzufinden. Er, der sich als Herr über den anderen fühlte, sagte sich – dieser Bursche werde nie einen so bitteren Kelch zu leeren haben, wie ihm, Tschelkasch, vom Schicksal beschieden war . . . Und er beneidete ihn, bedauerte dieses junge Leben, belächelte es und litt sogar unter dem Gedanken, er könne ein zweites Mal in solche Hände geraten wie seine . . . Und alle diese Gefühle flossen bei Tschelkasch zu guter Letzt in eins zusammen – in etwas wie väterliche Besorgnis. Der Bursche tat ihm leid, aber er brauchte ihn. Tschelkasch faßte ihn unter und führte ihn, ihn leicht von hinten mit dem Knie vorwärts stoßend, auf den Hof der Gastwirtschaft hinaus, wo er ihn im Schatten eines Brennholzstapels auf die Erde bettete; er selbst setzte sich neben ihn und steckte sich eine Pfeife an. Gawrila wälzte sich noch ein bißchen hin und her, lallte etwas und schlief ein.

 

II

»Nun, bist du soweit?« erkundigte sich Tschelkasch mit gedämpfter Stimme bei Gawrila, der sich mit den Rudern zu schaffen machte.

»Gleich, gleich! Die Ruderrolle hat sich gelockert. Kann ich sie mit dem Ruder festklopfen?«

»Auf keinen Fall! Nicht den geringsten Lärm! Drück kräftig mit der Hand darauf, dann sitzt sie wieder, wie sie soll.«

Und beide hantierten leise am Boot, das am Heck einer Segelbark vertäut war; sie gehörte zu einer ganzen Flottille solcher Barken, die mit eichenen Faßdauben, sowie großer türkischer Feluken, die mit Palmenstämmen, Sandelholz und dicken Zypressenklötzen beladen waren.

Die Nacht war dunkel, am Himmel krochen dichte Schichten von zottigen Wolken dahin, das Meer war ruhig, schwarz und dickflüssig wie Öl. Es atmete salzige Feuchtigkeit aus, plätscherte freundlich, klatschte gegen die Bordwände der Schiffe und ans Ufer und schaukelte kaum spürbar Tschelkaschs Boot. Selbst weit vom Ufer entfernt zeichneten sich auf dem Meer noch die dunklen Umrisse von Schiffen ab, deren spitze Masten mit den bunten Topplaternen in den Himmel ragten. Ihre Lichter spiegelten sich im Wasser, das mit zahllosen gelben Tupfen übersät war. Sie zitterten – hübsch anzuschauen – auf seinem weichen, mattschwarzen Samt. Das Meer schlief den tiefen, gesunden Schlaf eines Arbeiters, der sich den Tag über schwer geplagt hat.

»Fahren wir!« sagte Gawrila und tauchte die Ruder ins Wasser.

»Gemacht!« Tschelkasch brachte das Boot durch einen kräftigen Schlag des Steuerruders auf einen Streifen Wasser zwischen den Barken, und es glitt rasch über seine glatte Oberfläche dahin; das Wasser flammte unter den Ruderschlägen mit einem bläulichen phosphoreszierenden Leuchten auf – es schlängelte sich als langes, matt schimmerndes Band hinter dem Heck einher.

»Nun, was macht der Kopf? Tut er weh?« fragte Tschelkasch freundlich.

»Entsetzlich! Brummt wie Gußeisen. Ich feuchte ihn rasch mit Wasser an.«

»Wozu? Hier, nimm das und feuchte damit dein Inneres an, vielleicht kommst du dann eher zu dir.« Und er hielt Gawrila eine Flasche hin.

»Meinst du? Na, dann mit Gott!«

Man hörte ein leises Gluckern.

»He, du! Das paßt dir wohl so? Genug jetzt!« gebot Tschelkasch ihm Einhalt.

Das Boot glitt erneut rasch und geräuschlos dahin und wand sich geschickt zwischen den Schiffen hindurch. Plötzlich löste es sich aus ihrem Gedränge, und das grenzenlose, gewaltige Meer tat sich vor ihnen auf und verlor sich in der blauen Ferne, wo aus seinen Wassern die Wolkengebirge zum Himmel aufstiegen – die grauvioletten mit den wolligen gelben Rändern, die meerfarben-grünlichen und jene düsterbleigrauen, die so schwere, trübselige Schatten warfen. Die Wolken krochen langsam dahin, flossen zusammen oder überholten einander, wechselten ihre Formen und Farben, zergingen und entstanden, finster und majestätisch, aufs neue und in neuen Umrissen. In dieser langsamen Bewegung der seelenlosen Massen lag etwas Schicksalhaftes. Es schien, dort, am Rande des Meeres, gäbe es unendlich viele von ihnen, sie würden immer weiter so gleichgültig am Himmel heraufkriechen, mit dem bösen Ziel, ihn nie wieder über dem schlummernden Meer mit den Millionen seiner goldenen Augen funkeln zu lassen – den bunten, lebendigen, verträumt blickenden Sternen, die in den Menschen, denen ihr reiner Glanz teuer ist, erhabene Wünsche wecken.

»Ist das Meer nicht schön?« fragte Tschelkasch.

»Nicht übel! Nur ein bißchen unheimlich auf ihm«, entgegnete Gawrila und zerteilte das Wasser mit gleichmäßigen, kräftigen Schlägen. Es klang und plätscherte kaum hörbar unter den langen Rudern und leuchtete immer wieder mit dem warmen blauen Schimmer von Phosphor auf.

»Unheimlich! So ein Dummkopf!« brummte Tschelkasch belustigt.

Er, der Dieb, liebte das Meer. Seine unruhige, nervöse, auf Eindrücke begierige Natur wurde nie müde, diese dunklen, uferlosen, freien, gewaltigen Räume zu betrachten. Und er ärgerte sich über eine solche Antwort auf seine Frage nach der Schönheit dessen, was er liebte. Er saß am Heck, zerfurchte das Wasser mit dem Steuerruder und blickte ruhig vor sich hin, erfüllt von dem Wunsch, möglichst lange und möglichst weit auf dieser samtigen glatten Fläche dahinzufahren.

Auf dem Meer stieg immer ein warmes, in die Ferne schweifendes Gefühl in ihm auf – es ergriff seine ganze Seele und reinigte sie ein wenig von all dem Schmutz des Alltags. Er schätzte das und sah sich gerne in einem besseren Licht, hier, inmitten des Wassers und der Luft, wo die Gedanken über das Leben ebensosehr verloren wie das Leben selbst – die Gedanken ihre Schärfe und das Leben seinen Wert. Nachts weht über dem Meer der gleichmäßige weiche Hauch seines Atems, und dieser ungreifbare Klang erfüllt die menschliche Seele mit Gelassenheit, bändigt sanft ihre bösen Regungen, gebiert erhabene Träume in ihr . . .

»Aber wo ist denn die Ausrüstung?« fragte Gawrila plötzlich und sah sich unruhig im Boot um.

»Die Ausrüstung? Die habe ich hier am Heck.«

Es war ihm unangenehm, diesen Bengel zu belügen, und er trauerte den Gedanken und Gefühlen nach, die der Bursche mit seiner Frage ausgelöscht hatte. Er wurde böse. Ein wohlbekanntes scharfes Brennen in Brust und Hals befiel ihn, und er sagte in gebieterischem, hartem Ton: »Hör zu, du, sitz, wo du sitzt, und damit gut! Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen. Du hast dich verdingt zu rudern, also tu's! Und wenn du die Zunge wetzt, wirst du schon merken, was du davon hast. Verstanden?«

Das Boot verlor ruckartig an Fahrt und stand still. Die Ruder lagen auf dem Wasser und brachten es zum Schäumen. Gawrila rutschte unruhig auf der Bank hin und her.

»So ruder schon!«

Ein böser Fluch erschütterte die Luft. Gawrila zog die Ruder durch. Das Boot erschrak gleichsam und schoß, geräuschvoll das Wasser zerteilend, in raschen, nervösen Stößen voran.

»Gleichmäßiger!«

Tschelkasch richtete sich, ohne das Steuerruder loszulassen, am Heck auf und heftete die kalten Augen auf Gawrilas bleiches Gesicht. Geduckt, vornübergebeugt, erinnerte er an eine sprungbereite Katze. Man hörte sein böses Zähneknirschen und das schwache Knacken mit irgendwelchen Knöcheln.

»Wer schreit da?« ertönte ein rauher Zuruf aus Richtung des Meeres.

»Los, rudere, du Teufel! Leise! Ich schlage dich tot, du Hund! Ruder, ruder schon! Eins, zwei . . . Wehe, wenn du dich muckst! Ich reiße dich in Stücke!« zischte Tschelkasch.

»Muttergottes . . ., Jungfrau . . .«, flüsterte Gawrila, zitterte und verging vor Angst und Anspannung.

Das Boot wendete gewandt und fuhr zurück zum Hafen, wo sich die Lichter der Laternen in bunten Haufen drängten und die Mastbäume zu erkennen waren.

»He! Wer brüllt da?« hörten sie aufs neue rufen.

Jetzt klang die Stimme schon entfernter. Tschelkasch beruhigte sich.

»Du selber brüllst!« sagte er in Richtung der Rufe und wandte sich an Gawrila, der immer noch Gebete murmelte. »Dein Glück, mein Bester! Wenn diese Teufel uns verfolgt hätten, wär's aus mit dir. Ahnt dir was? Ich hätte dich sofort . . . und hinunter mit dir zu den Fischen!«

Jetzt, wo Tschelkasch ruhig und sogar gutmütig mit ihm sprach, flehte Gawrila, der immer noch vor Angst zitterte, ihn an: »Hör zu, laß mich gehen! Ich bitte dich um Christi willen, laß mich gehen! Setz mich irgendwo ab! Oh, oh, oh . . ., ich bin verlo-o-oren, endgültig verloren! So denk an Gott und laß mich laufen! Was kann ich dir nützen! Darauf versteh ich mich nicht. Mit solchen Sachen habe ich nie zu tun gehabt . . . Es ist das erste Mal . . . Herrgott im Himmel! Du richtest mich doch zugrunde! Wie konntest du mich so hintergehen? Du versündigst dich! Du verdirbst eine Seele! Sachen sind das . . .«

»Was heißt das?« fragte Tschelkasch barsch. »Nun? Was für Sachen sind das?«

Die Angst des Burschen belustigte ihn, und er genoß sie, wie er den Gedanken genoß, wie furchtgebietend er, Tschelkasch, doch war.

»Dunkle Geschäfte, Verehrter . . . Laß mich laufen! Was kann ich dir schon nützen? Wie? Ach, Lieber . . .«

»Genug, rede nicht! Wenn ich dich nicht brauchte, hätt ich dich nicht mitgenommen. Verstanden? Also schweig schon!«

»Mein Gott!« seufzte Gawrila.

»Na, na, flenne mal nicht!« schnitt ihm Tschelkasch das Wort ab.

Doch Gawrila konnte sich nicht mehr beherrschen, schluchzte leise, weinte, schneuzte sich und rutschte auf seiner Bank hin und her, ruderte aber kräftig, ja verzweifelt. Das Boot schoß dahin wie ein Pfeil. Wieder tauchten auf seinem Wege die dunklen Umrisse der Schiffsrümpfe auf, und das Boot verlor sich zwischen ihnen und drehte sich wie ein Kreisel auf den schmalen Wasserbahnen zwischen den Bordwänden.

»He, du! Hör zu! Wenn dich jemand nach etwas fragt, dann schweig, wenn dir dein Leben lieb ist! Hast du verstanden?«

»Ja doch!« gab Gawrila auf den rauhen Befehl mit einem hoffnungslosen Seufzer zur Antwort und fügte hinzu: »Ach, mein verlorenes Schicksal!«

»Plärr nicht!« flüsterte Tschelkasch ihm eindringlich zu.

Gawrila verlor bei diesem Flüstern die Fähigkeit, irgend etwas zu unterscheiden, und wurde leichenblaß – das Vorgefühl eines Unglücks ließ ihn erschauern. Er tauchte die Ruder mechanisch ins Wasser, warf sich zurück, zog sie durch und versenkte sie erneut, wobei er hartnäckig auf seine Bastschuhe starrte.

Das schläfrige Rauschen der Wellen klang finster und furchterregend. Da war der Hafen . . . Hinter seinen granitnen Molen hörte man menschliche Stimmen, das Plätschern des Wassers, ein Lied und dünne Pfiffe.

»Halt!« flüsterte Tschelkasch. »Zieh die Ruder ein! Klammer dich mit den Händen an die Mauer! Leise, zum Teufel!«

Gawrila griff nach den glitschigen Steinen und drückte das Boot an der Mauer entlang. Es bewegte sich geräuschlos voran, mit der Bordwand den schleimigen Überzug streifend, der die Steine bedeckte.

»Halt! Gib mir die Ruder! Los, her damit! Und wo hast du deinen Paß? Im Rucksack? Reich ihn herüber! Wird's bald? Deinen Paß, mein Freund, den brauche ich, damit du mir nicht entwischst. Jetzt entwischst du mir nicht. Ohne Ruder wäre es allenfalls noch gegangen, aber ohne Paß – nein, das riskierst du nicht! Warte hier! Und wehe, wenn du dich muckst – ich kriege dich, und sei's auf dem Grunde des Meeres!«

Und Tschelkasch klammerte sich an etwas, hing plötzlich in der Luft und verschwand auf der Mole.

Gawrila fuhr zusammen. Es war alles so rasch gekommen. Er fühlte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel, wie die verdammte Last, diese Angst von ihm abglitt, die er in Gegenwart des dürren, schnurrbärtigen Diebes empfand. Jetzt gab es nur eins – fliehen! Und er atmete freier auf und sah sich um. Links ragte ein schwarzer Schiffsrumpf ohne Masten empor – eine Art riesiger Sarg, ohne Ladung und menschenleer. Jeder Wellenschlag an seine Bordwand rief ein dumpfes, lange nachhallendes Echo hervor, das an einen tiefen Seufzer erinnerte. Rechts zog sich über dem Wasser – gleich einer kalten, schweren Schlange – die feuchte steinerne Wand der Mole hin. Hinten erkannte man ebenfalls Umrisse von Schiffen, während vorne, in der Lücke zwischen der Mole und der Bordwand jenes Sarges, das schweigsame, einsame Meer mit den schwarzen Wolken darüber zu sehen war. Sie bewegten sich, riesig und schwer, langsam voran, verströmten aus der Finsternis Schrecken und schienen den Menschen durch ihre Wucht erdrücken zu wollen. Alles war kalt, schwarz, unheilverkündend. Gawrila bekam Angst. Diese Angst war schlimmer als jene, die Tschelkasch ihm eingeflößt hatte; sie schloß Gawrilas Brust fest in ihre Arme, preßte ihn zu einem mutlosen Häufchen zusammen und schmiedete ihn an die Bootsbank . . .

Ringsum war alles still. Kein Laut – außer den Seufzern des Meeres. Die Wolken krochen ebenso langsam und trübselig am Himmel dahin wie bisher, nur türmten sie sich immer zahlreicher über den Wassern auf, und man konnte, wenn man den Himmel ansah, meinen, auch er sei ein Meer, nur ein bewegtes, das über das andere – schlummernde, ruhige, glatte – gestülpt war. Die Wolken erinnerten an Wellen, die mit den zottigen grauen Kämmen nach unten, auf die Erde herabhängen, an Abgründe, aus denen der Wind diese Wellen gerissen hat, an erst entstehende, noch nicht vom grünlichen Schaum der Tollwut und des Zorns bedeckte Wellenberge.

Gawrila fühlte sich von all dieser düsteren Stille und Schönheit erdrückt, fühlte, daß er den Herrn so bald als möglich wieder neben sich sehen wollte. Und wenn er nun nicht zurückkam, wenn er dort blieb? Die Zeit kroch langsam dahin, langsamer als die Wolken am Himmel. Und die Stille wurde allmählich immer unheimlicher. Aber schließlich hörte er hinter der Molenwand ein Plätschern, ein leises Geräusch und etwas wie ein Flüstern, Gawrila war, als müsse er auf der Stelle sterben.

»He! Schläfst du? Halt fest! Aber vorsichtig!« sagte Tschelkasch mit dumpfer Stimme.

Etwas Würfelförmiges, Schweres wurde an der Wand heruntergelassen. Gawrila nahm es in Empfang und legte es ins Boot. Ein zweiter ebensolcher Würfel folgte. Dann ließ sich an der Molenwand die lange Gestalt Tschelkaschs herab, irgendwoher tauchten die Ruder auf, sein Rucksack fiel Gawrila vor die Füße, und der schwer atmende Tschelkasch setzte sich am Heck zurecht.

Gawrila sah ihn freudig und schüchtern lächelnd an.

»Müde?« fragte er.

»Ein bißchen schon, du Kalb! Und nun rudere darauf los! Zeig, was du kannst! Hast ganz anständig verdient, Verehrter! Die Hälfte haben wir hinter uns. Jetzt brauchen wir nur noch unter den Augen dieser Teufel hindurchzuschlüpfen; danach – empfange dein Geld, und auf zu Maschka! Du hast doch eine Maschka? Hast du eine, du Kindskopf?«

»N-nein!« Gawrila mühte sich aus Leibeskräften. Seine Brust arbeitete wie ein Blasebalg und seine Arme wie stählerne Federn. Das Wasser unter dem Boot gluckerte, der blaue Streifen hinter dem Heck erschien breiter. Gawrila war schweißgebadet, fuhr aber fort, mit aller Kraft zu rudern. Nachdem er in dieser Nacht schon zweimal solche Ängste ausgestanden hatte, fürchtete er, es könnte ihm zum drittenmal geschehen, und wünschte sich nur eins – diese verdammte Arbeit möglichst rasch hinter sich zu haben, an Land zu gehen und von diesem Menschen loszukommen, bevor er ihn tatsächlich erschlug oder ins Gefängnis brachte. Er beschloß, sich über nichts mit ihm zu unterhalten, ihm nicht zu widersprechen, alles zu tun, was er befahl, und wenn es ihm gelang, sich glimpflich von ihm zu trennen, gleich am folgenden Tag einen Dankgottesdienst für Nikolai, dem Wundertäter, zu bestellen. Seiner Brust wollte sich ein leidenschaftliches Gebet entringen. Aber er unterdrückte es, schnaufte wie eine Lokomotive, schwieg und blickte Tschelkasch finster an.

Der spähte, lang und vorgeneigt, an einen Vogel erinnernd, der losfliegen will, mit Habichtaugen in das Dunkel vor dem Bug, wandte die Raubvogelnase hin und her, hielt mit der einen Hand das Steuerruder fest und zupfte mit der anderen am Schnurrbart, der jedesmal, wenn ein Lächeln die schmalen Lippen kräuselte, zuckte. Tschelkasch war zufrieden – mit dem gelungenen Unternehmen, mit sich selbst und mit diesem Burschen, den er so eingeschüchtert hatte, daß er zu seinem Sklaven geworden war. Er sah, wie Gawrila sich mühte, er tat ihm leid, und er wollte ihn ermuntern.

»He!« sagte er leise mit einem spöttischen Lächeln. »Was ist? Du hast wohl ziemliche Angst gehabt? Stimmt's?«

»Es geht!« seufzte Gawrila und räusperte sich.

»Du brauchst dich jetzt nicht mehr so ins Zeug zu legen. Wir haben das Schlimmste hinter uns. Jetzt müssen wir nur noch an einer Stelle vorbei . . . Ruh dich mal aus.«

Gawrila legte gehorsam die Ruder aus der Hand, wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß aus dem Gesicht und tauchte die Ruder erneut ins Wasser.

»Also gut, aber ruder jetzt langsamer. Damit man das Wasser nicht hört. Wir müssen durch eine Lücke in der Absperrung. Leise, leise . . . Die Leute hier verstehen nämlich keinen Spaß. Sie greifen gleich zum Gewehr und knallen dir eine vor den Kopf, daß du nicht mal zum letzten Seufzer kommst.«

Das Boot glitt jetzt fast völlig lautlos über das Wasser. Man hörte nur noch die blauen Tropfen von den Rudern fallen, und dort, wo sie aufschlugen, leuchtete für kurze Zeit ein ebenfalls blaues Flämmchen auf. Die Nacht wurde immer dunkler und schweigsamer. Der Himmel erinnerte nicht mehr an ein bewegtes Meer – die Wolken hatten sich verteilt und verhüllten ihn gleich einem glatten, schweren, unbeweglichen Vorhang, der fast bis aufs Wasser hinunterreichte. Das Meer aber war noch ruhiger, noch schwärzer geworden, verströmte einen noch stärkeren, noch wärmeren Geruch von Salz und erschien nicht mehr so weit wie zuvor.

»Ach, wenn es doch regnen würde!« murmelte Tschelkasch. »Dann kämen wir an ihnen vorbei wie hinter einem Vorhang.«

Rechts und links vom Boot tauchten über dem schwarzen Wasser irgendwelche Fahrzeuge auf – regungslose, finstere, schwarze Schaluppen. Auf einer von ihnen bewegte sich ein Licht hin und her – jemand ging mit einer Laterne herum. Das Meer streichelte ihre Bordwände und klang bittend und dumpf, und sie gaben ihm Antwort mit einem hallenden, kalten Echo, als stritten sie sich mit ihm und wollten nicht nachgeben.

»Die Wachboote«, raunte Tschelkasch kaum hörbar.

Seit dem Augenblick, da er Gawrila befohlen hatte, langsamer zu rudern, fühlte sich dieser aufs neue in eine scharfe, abwartende Gespanntheit versetzt. Er strebte mit allen Fasern voran, in die Dunkelheit, und ihm schien, er wachse und werde immer größer – seine Knochen und Sehnen dehnten sich unter dumpfen Schmerzen, der Kopf – von einem einzigen Gedanken beherrscht – tat weh, die Haut auf dem Rücken kribbelte, und kleine, spitze, eiskalte Nadeln stachen in seine Füße. Die Augen schmerzten ihm von dem angestrengten Ausschauen in die Dunkelheit, aus der – wie er erwartete – jeden Augenblick etwas auftauchen und sie anfahren würde: »Anhalten, ihr Diebe!«

Jetzt, als Tschelkasch ihm zuflüsterte: »Die Wachboote!«, fuhr Gawrila zusammen; ein blitzartiger, niederschmetternder Gedanke durchzuckte ihn und berührte seine aufs schärfste gespannten Nerven – er wollte aufschreien, jemand zu Hilfe rufen . . . Er öffnete den Mund, erhob sich ein wenig von der Bank, wölbte die Brust, pumpte die Lungen voller Luft und wollte schon losschreien, als er plötzlich von einem Schrecken gepackt wurde, der ihn traf wie ein Peitschenhieb; er schloß die Augen und sank von seinem Sitz.

Vor dem Boot, weit am Horizont, bohrte sich über dem schwarzen Wasser ein mächtiges, flammend-hellblaues Schwert in die Luft, zerhieb das Dunkel der Nacht, glitt mit der Spitze über die Wolken hin und senkte sich als breites blaues Band auf die Brust des Meeres. In seiner Lichtgarbe tauchten aus der Dunkelheit bis dahin unsichtbare Schiffe auf, schwarz, stumm, üppig behangen mit nächtlicher Düsterkeit. Es schien, als hätten sie lange auf dem Meeresgrund gelegen, durch die gewaltige Kraft des Sturmes dorthin verweht, und seien auf Befehl des aus dem Meer geborenen Schwertes an seine Oberfläche gekommen, um einen Blick auf den Himmel und alles andere zu werfen, das sich über dem Wasser befand. Ihr Takelwerk umflocht die Masten und erinnerte an zähe Algen, die zusammen mit diesem schwarzen, in ihren Netzen verfangenen Riesen vom Meeresgrund heraufgestiegen waren. Und das schreckliche blaue Schwert erhob sich erneut aus der Meerestiefe und zerhieb funkelnd die Nacht, wandte sich aber in eine andere Richtung. Und da, wo es hintraf, wurden aufs neue Umrisse von Schiffen sichtbar, die vorher nicht zu erkennen gewesen waren.

Tschelkaschs Boot hielt still und schaukelte auf dem Wasser, als wüßte es nicht mehr, wohin. Gawrila lag, die Hände vor dem Gesicht, auf dem Boden, während Tschelkasch ihn mit dem Fuß anstieß und außer sich, aber leise zischte: »Dummkopf, das ist doch nur ein Zollkreuzer! Eine elektrische Laterne! Steh auf, du Klotz! Der Strahl kann jeden Augenblick auf uns fallen! Du Teufel richtest uns zugrunde, dich und mich! Komm zu dir!«

Und als einer seiner Fußtritte Gawrilas Rücken empfindlicher traf als die anderen, sprang dieser schließlich auf, setzte sich, ohne vor lauter Angst die Augen zu öffnen, auf seine Bank und tastete nach den Rudern; das Boot ruckte voran.

»Leise! Ich schlag dich tot! Leise, hab ich gesagt! So was von Dummkopf, hol mich der Teufel! Was hat dir solchen Schrecken eingejagt? He? Du Fratze! Eine Laterne, ein Scheinwerfer, das ist alles! Ruder nicht so laut! Satan, verdammter! Sie suchen doch nur nach Schmugglern. Uns kriegen sie sowieso nicht mehr zu fassen – dazu sind sie zu weit entfernt. Hab keine Angst, sie kriegen uns nicht mehr.« Tschelkasch sah sich triumphierend um. »Natürlich, wir sind vorbei! Puh! Hast du aber auch einen Massel, du aufrechte Eiche!«

Gawrila schwieg, ruderte, atmete schwer und schielte dorthin, wo sich noch immer das flammende Schwert erhob oder senkte. Er vermochte Tschelkasch durchaus nicht zu glauben, daß es nur eine Laterne war. Der kalte bläuliche Strahl, der das Dunkel durchbohrte und das Meer silbrig erglänzen ließ, hatte etwas Unerklärliches an sich; Gawrila verfiel wieder einer Hypnose von Angst und Niedergeschlagenheit. Er ruderte wie eine Maschine, kroch immer stärker in sich zusammen, als erwarte er irgendwoher von oben einen Hieb, und hatte keinerlei Wünsche mehr – er war seelisch ausgehöhlt und leer. Die Aufregungen dieser Nacht hatten alles Menschliche in ihm aufgezehrt.

Tschelkasch aber triumphierte. Seine Nerven, die solche Belastungen gewöhnt waren, hatten sich schon beruhigt. Sein Schnurrbart bewegte sich genießerisch hin und her, und seine Augen glommen immer begehrlicher. Er fühlte sich großartig, pfiff leise vor sich hin, atmete gierig die feuchte Meeresluft ein, sah sich nach allen Seiten um und lächelte gutmütig, wenn sein Blick auf Gawrila fiel.

Ein Windstoß fuhr über das Meer – es erwachte, kräuselte sich und begann plötzlich lebhaft zu flimmern. Die Wolken waren irgendwie dünner und durchsichtiger geworden, bedeckten aber noch immer den ganzen Himmel. Sie standen, obwohl der leichte Wind frei über das Meer hinstrich, regungslos still und schienen in irgendwelche grauen, trübseligen Gedanken verloren.

»Nun, Verehrter, komm endlich zu dir! Wird Zeit! Schau einer an, wie es dich mitgenommen hat – als hätten sie dir die Seele aus dem Leib gepreßt und nichts als einen Sack mit Knochen zurückgelassen! Ist doch schon alles vorbei! He. hast du mich verstanden?«

Gawrila war es trotz allem angenehm, eine menschliche Stimme zu hören, auch wenn es die von Tschelkasch war.

»Ja doch!« entgegnete er leise.

»Na also! Waschlappen! Los, setz dich ans Steuer, jetzt rudere ich! Bist sicherlich ausgepumpt!«

Gawrila wechselte mechanisch den Platz. Als Tschelkasch dabei an ihm vorbeikam, ihm ins Gesicht sah und bemerkte, daß er wankte und ihm die Knie zitterten, tat ihm der Bursche noch mehr leid als zuvor. Er klopfte ihm auf die Schulter.

»Na, na, hab dich nicht so! Hast dafür gut verdient. Ich will dich anständig belohnen. Wie wär's mit einem Fünfundzwanziger? In Ordnung?«

»Ich brauche nichts . . . Ich will nur eins – an Land.«

Tschelkasch winkte nur ab, spie aus und griff zu den Rudern, mit denen er, langarmig, wie er war, weit ausholte.

Das Meer war erwacht. Es gebar kleine Wellen, spielte mit ihnen, verbrämte sie mit Schaum, ließ sie gegeneinander anrennen und zu feinem Wasserstaub zersprühen. Der Schaum zerging, zischte und seufzte, und alles ringsum war von einem melodischen Rauschen und Plätschern erfüllt. Die Dunkelheit schien zu leben.

»Nun sage mir«, begann Tschelkasch, »du kehrst jetzt in dein Dorf zurück, heiratest, gräbst die Erde um und säst Korn; deine Frau gebiert dir einen Haufen Kinder, es reicht nicht, um sie alle zu ernähren; und du rackerst dich dein Leben lang ab . . . Was hast du davon? Was findest du daran so Schönes?«

»Was soll schon Schönes daran sein!« entgegnete Gawrila verzagt und zuckte zusammen.

Hier und da riß der Wind die Wolken auf, und durch die Risse lugte ein mattblaues Stückchen Himmel mit zwei, drei Sternen. Sie spiegelten sich im leicht bewegten Meer, schaukelten auf den Wellen, erloschen und leuchteten wieder auf.

»Halte mehr nach rechts!« sagte Tschelkasch. »Wir sind bald da. Hm . . ., ja! . . . Dann haben wir es geschafft. Die Arbeit hat sich gelohnt. Du siehst, wie sich das auszahlt . . . Eine einzige Nacht, und ich stecke ein halbes Tausend in die Tasche.«

»Ein halbes Tausend?« fragte Gawrila ungläubig und gedehnt, erschrak aber sogleich und erkundigte sich, indem er mit dem Fuß gegen den Ballen im Boot stieß: »Was ist denn das für eine Ware?«

»Eine, die allerhand wert ist. Verkauft man sie zum richtigen Preis, dann bringt sie einem auch einen Tausender ein. Nun, ich bin nicht kleinlich . . . Wie habe ich das hingekriegt?«

»Hm . . ., ja . . .«, entgegnete Gawrila gedehnt. »Wenn ich das so haben könnte!« Er seufzte und dachte im selben Augenblick an sein Dorf, an seine kümmerliche Wirtschaft, an seine Mutter, an all das Ferne, Vertraute, um dessentwillen er auf Saisonarbeit ausgezogen war, um derentwillen er sich in dieser Nacht so abgequält hatte. Eine Woge von Erinnerungen an sein Dorf übermannte ihn; es zog sich an einem Steilhang hin, zu einem Flüßchen, das sich in einem Hain von Birken, Weiden, Ebereschen und Faulbeerbäumen verbarg. »Ja, das wäre was!« fügte er mit einem Seufzer hinzu.

»Nun ja . . ., ich kann mir denken, wie du nach Hause eilen würdest . . ., mit der Eisenbahn . . . Und wie verrückt die Mädchen daheim nach dir wären! Ha! Nimm dir, welche du willst! Du könntest dir ein Haus zusammenzimmern . . . Das heißt, für ein Haus würde das Geld wohl nicht ganz reichen . . .«

»Nein . . ., da würde noch einiges fehlen . . . Das Bauholz bei uns ist teuer.«

»Nun gut! Dann würdest du eben das alte überholen. Und wie ist das mit einem Pferd? Hast du eins?«

»Ein Pferd? Ja, ein Pferd habe ich, ist aber schon reichlich alt, die Mähre.«

»Na also, dann kaufst du dir eben ein Pferd. Ein richtiges, gutes Pferd! Und eine Kuh . . . Und Schafe . . . Und allerlei Geflügel . . . Wie?«

»Hör auf! Mein Gott, wie könnte man leben!«

»Hm – ja, Verehrter, wär schon ein Leben . . . Ich verstehe was davon. Auch ich habe einst ein eigenes Nest gehabt. Mein Vater war einer der reichsten Bauern im Dorf . . .«

Tschelkasch riß sich beim Rudern kein Bein aus. Das Boot wiegte sich auf den Wellen, die plätschernd an seine Bordwände schlugen, und bewegte sich auf dem dunklen, immer lebhafter spielenden Meer kaum voran. Die beiden Männer schaukelten auf dem Wasser, träumten und blickten sich nachdenklich nach allen Seiten um. Tschelkasch hatte Gawrila auf den Gedanken an das Dorf gebracht, um ihn ein wenig zu ermuntern und zu beruhigen. Er lächelte anfangs in seinen Schnurrbart hinein, während er sprach, als sie sich dann aber eine Weile unterhalten hatten und er ihm die Freuden des bäuerlichen Lebens ins Gedächtnis rief, über die er selbst längst enttäuscht war, die er vergessen hatte und an die er sich erst jetzt wieder erinnerte, kam er allmählich auf den Geschmack und erzählte selbst, statt den Burschen über sein Dorf und alles, was damit zusammenhing, auszufragen.

»Die Hauptsache am bäuerlichen Leben ist die Freiheit, Verehrter! Du bist dein eigener Herr. Du hast dein Haus – es mag einen Groschen wert sein, aber es ist deins. Du hast eigenes Land – und wenn es eine Handvoll ist, es gehört dir. Auf deinem eigenen Grund und Boden bist du König! Du hast ein Gesicht . . . Du kannst von jedem Achtung verlangen. Hab ich nicht recht?« schloß Tschelkasch angeregt.

Gawrila blickte ihn neugierig an und geriet seinerseits in Stimmung. Er hatte im Laufe der Unterhaltung längst vergessen, mit wem er es zu tun hatte, und glaubte schon, genau so einen Bauern vor sich zu haben, wie er selber war – jemanden, der durch den Schweiß vieler Generationen zeit seines Lebens an seinen Grund und Boden gefesselt und durch Kindheitserinnerungen an ihn gebunden blieb, auch wenn er sich eigenmächtig von ihm und der Sorge um ihn gelöst und die wohlverdiente Strafe dafür empfangen hatte.

»Ja, das ist richtig, du! Ach, wie richtig das ist! Schau nur dich selber an – was bist du jetzt ohne Land? Sein Land, mein Lieber, vergißt man nicht – wie man die Mutter nicht vergißt.«

Tschelkaschs Laune schlug um. Er verspürte jenes quälende Brennen in der Brust, das ihn immer befiel, wenn jemand an seine Eigenliebe rührte – die Eigenliebe des unbekümmerten Hasardeurs –, besonders dann, wenn es jemand tat, der keinen Wert in seinen Augen besaß.

»Fasel nicht!« sagte er grimmig. »Glaubst du vielleicht, das war mein Ernst? Hast du dir so gedacht!«

»Bist ein komischer Kauz!« entgegnete Gawrila, wieder eingeschüchtert. »Rede ich denn von dir? Solche wie dich gibt es doch viele! Ach, wieviel unglückliches Volk sich in der Welt herumtreibt!«

»Setz dich an die Ruder, Walroß!« kommandierte Tschelkasch kurz und unterdrückte aus irgendeinem Grunde einen ganzen Schwall von Schimpfworten, die ihm schon auf der Zunge lagen.

Sie tauschten wieder die Plätze, und Tschelkasch verspürte, als er über die Ballen stieg, um zum Heck zu gelangen, den dringenden Wunsch, Gawrila einen Stoß zu versetzen, damit er ins Wasser falle.

Die kurze Unterhaltung war verstummt, jetzt sprach das Dorf jedoch Tschelkasch selbst aus Gawrilas Schweigen an. Er erinnerte sich vergangener Zeiten, vergaß das Steuern, das Boot wurde durch das bewegte Wasser in eine andere Richtung gedreht und strebte irgendwohin aufs Meer hinaus. Die Wellen schienen zu merken, daß das Boot sein Ziel vergessen hatte, spielten mit ihm, warfen es immer höher und leuchteten unter den Ruderschlägen mit ihrem freundlichen blauen Feuer auf. An Tschelkasch aber zogen in rascher Folge die Bilder der fernen Vergangenheit vorüber, die von der Gegenwart durch eine regelrechte Mauer getrennt war – durch die elf Jahre, die er als Vagabund verbracht hatte. Er sah sich als Kind, sah sein Dorf, seine Mutter vor sich, eine rotwangige füllige Frau mit gutmütigen grauen Augen, und seinen Vater, den rotbärtigen Hünen mit dem strengen Gesicht; er erblickte sich als Bräutigam, erblickte die schwarzäugige, füllige, weichherzige und lustige Anfissa mit ihrem langen Zopf, dann wieder sich selbst als schmucken Gardesoldaten; danach wieder den Vater, aber nun schon ergraut und durch die Arbeit gebeugt, und die Mutter – zur Erde niedergedrückt und das Gesicht voller Falten; er erblickte auch das Bild des Empfanges, das ihm das Dorf bereitete, als er vom Dienst bei der Armee zurückkam; er sah, wie stolz der Vater auf seinen Sohn war, den gesunden, gewandten, schnurrbärtigen schmucken Soldaten . . . Die Erinnerung, diese Geißel der Unglücklichen, haucht selbst den Steinen der Vergangenheit Leben ein und setzt dem Gift, das man getrunken hat, einige Tropfen Honig zu . . .

Tschelkasch fühlte sich von einem Hauch der mit allem versöhnenden, freundlichen Heimatluft umweht, mit dem die zärtlichen Worte der Mutter und die gesetzten Reden des Vaters, eines rechten Bauern, an sein Ohr drangen, zugleich mit vielen vergessenen Lauten; und er verspürte die vielen würzigen Gerüche der heimatlichen Fluren – den Geruch der Erde, wenn der Schnee gerade erst von ihr abgetaut ist, wenn sie frisch umgebrochen ist oder die smaragdgrüne Seide der Wintersaat sie überzieht . . . Er fühlte sich vereinsamt, für immer aus der Lebensordnung ausgestoßen, in der sich das Blut gebildet hatte, das in seinen Adern floß.

»He, wo fahren wir denn hin?« fragte plötzlich Gawrila.

Tschelkasch zuckte zusammen und sah sich mit unruhigem Diebesblick um.

»Da, wie es uns abgetrieben hat! Rudere mal ein bißchen kräftiger . . .«

»Du warst wohl in Gedanken versunken?« erkundigte sich Gawrila lächelnd.

»Ich bin müde.«

»Damit können wir jetzt also nicht mehr hereinfallen?« Gawrila tippte mit dem Fuß an die Ballen.

»Nein. Kannst ganz beruhigt sein. Ich liefere sie gleich ab und empfange das Geld. Hm . . ., ja!«

»Fünfhundert?«

»Wenigstens.«

»Das ist . . ., wie heißt das . . ., eine Summe! Wenn ich armer Schlucker soviel Geld in die Hände bekäme! Hach, würde ich ein Fest feiern!«

»Mit den Bauern?«

»Mit wem denn sonst! Ich würde auf der Stelle . . .«

Und Gawrila flog auf den Flügeln des Traums dahin. Tschelkasch schwieg. Sein Schnurrbart hing herunter, die rechte Hüfte war von Wellenspritzern durchnäßt, die eingesunkenen Augen hatten den Glanz verloren. Alles Raubtierhafte an ihm war erschlafft, durch eine bedrückte Nachdenklichkeit verwischt, die selbst aus den Falten des schmutzigen Hemdes hervorsah.

Er wendete scharf und ließ das Boot auf etwas Schwarzes zugleiten, das aus dem Wasser ragte.

Der Himmel hatte sich wieder völlig bewölkt, und ein feiner, warmer Regen ging nieder, der unter fröhlichem Klatschen auf die Wellenkämme fiel.

»Halt! Langsam!« kommandierte Tschelkasch.

Das Boot stieß mit dem Bug an die Bordwand einer Bark.

»Schlafen wohl, die Teufel?« brummte Tschelkasch und angelte mit dem Bootshaken nach irgendwelchen Leinen, die von Bord herabhingen. »Laßt die Strickleiter herunter! Jetzt muß es auch noch regnen, konnte es das nicht früher tun? . . . He, ihr Schwämme! Hört ihr?«

»Ist das Selkasch?« erklang von oben ein freundliches Schnurren.

»Los, laß die Strickleiter herunter!«

»Kallimera, Selkasch!«

»Die Strickleiter her, geräucherter Satan!« brüllte Tschelkasch ihn an.

»Oh, du bist heute so böse . . . Elou!«

»Kletter hinauf, Gawrila!« wandte sich Tschelkasch an seinen Gefährten.

Sie waren im Nu an Deck, wo drei dunkle bärtige Gestalten, die sich lebhaft in einer sonderbaren, lispelnden Sprache unterhielten, über die Reling beugten und in Tschelkaschs Boot starrten. Ein vierter, der in eine lange Chlamys gehüllt war, trat auf Tschelkasch zu und drückte ihm schweigend die Hand; dann maß er Gawrila mit einem mißtrauischen Blick.

»Halte das Geld für morgen früh bereit«, sagte Tschelkasch kurz. »Und jetzt leg ich mich schlafen. Gawrila, komm! Hast du Hunger?«

»Ich möchte weiter nichts als schlafen . . .«, entgegnete Gawrila und fünf Minuten später schnarchte er; Tschelkasch saß neben ihm, probierte irgendwelche Stiefel an, spie nachdenklich zur Seite und pfiff melancholisch durch die Zähne. Dann streckte er sich neben Gawrila aus, verschränkte die Arme unter dem Kopf und zuckte mit dem Schnurrbart.

Die Bark schaukelte ein wenig auf den spielenden Wellen, irgendwo knarrte in kläglichem Tone Holz, der Regen prasselte weich auf das Deck, und die Wellen schlugen plätschernd an die Bordwände. Alles wirkte traurig und klang wie das Wiegenlied einer Mutter, die keine Hoffnung hat, ihren Sohn glücklich zu sehen . . .

Tschelkasch bleckte die Zähne, hob den Kopf, sah sich um, murmelte etwas und legte sich wieder zurecht. Er spreizte dabei die Beine und bekam Ähnlichkeit mit einer großen Schere.

 

III

Er erwachte als erster, sah sich unruhig um, beruhigte sich aber sogleich und warf einen Blick auf den noch schlafenden Gawrila. Der gab hier und da einen wohligen Schnarcher von sich und lächelte im Traum über das gesunde, sonnengebräunte Gesicht. Tschelkasch seufzte und kletterte über die schmale Strickleiter hinauf. Durch die Luke im Laderaum sah man ein Stück des bleiernen Himmels. Es war hell, aber herbstlich trübe und grau.

Tschelkasch kehrte nach etwa zwei Stunden zurück. Sein Gesicht war rot, die Schnurrbartenden standen verwegen nach oben. Er hatte solide Langschäfter, eine Joppe und Lederhosen an und erinnerte an einen Jäger. Sein ganzer Staat war etwas abgetragen, aber offenbar haltbar und kleidete ihn sehr gut – er ließ ihn breiter erscheinen, verbarg seine Knochigkeit und verlieh ihm etwas Kriegerisches.

»He, steh auf, du Kalb!« Und er stukte Gawrila mit dem Fuß.

Der sprang auf, erkannte ihn vor Verschlafenheit nicht wieder und starrte ihn erschrocken aus trüben Augen an. Tschelkasch brach in Lachen aus.

»Wie du auf einmal ausschaust!« sagte Gawrila schließlich und lächelte über das ganze Gesicht. »Wie ein Herr!«

»Das geht bei uns im Handumdrehen! Du bist aber mir auch ein Hasenfuß! Wie oft in dieser Nacht hast du geglaubt, du müßtest sterben?«

»Aber versteh doch – ich war zum erstenmal dabei! Man setzt schließlich sein Seelenheil aufs Spiel!«

»Und wie ist das, würdest du ein zweites Mal mitmachen?«

»Ein zweites Mal? Es kommt . . ., wie soll ich sagen? Es kommt darauf an, wieviel dabei herausspringt. Das ist es!«

»Wenn also sagen wir, zwei Regenbogenfarbene herausspringen?«

»Das heißt – zwei Hunderter? In Ordnung . . . Da könnte man mitmachen . . .«

»Halt! Und was ist mit dem Seelenheil?«

»Aber vielleicht . . . geschieht der Seele auch gar nichts!« erwiderte Gawrila lächelnd. »Sie bleibt vielleicht, was sie war, und du bist ein gemachter Mann – fürs ganze Leben.«

Tschelkasch lachte belustigt.

»Also gut! Genug der Späße! Fahren wir jetzt an Land!«

Und wieder sitzen sie im Boot. Tschelkasch am Steuer, Gawrila an den Rudern. Über ihnen ein grauer, gleichmäßig verhangener Himmel; die trüb-grünen, noch niedrigen Meereswellen spielen mit dem Boot, schleudern es geräuschvoll hoch und überschütten die Bordwände mit hellen salzigen Spritzern. Weit vorn, vor dem Bug, erkennt man den gelben Streifen des sandigen Ufers, während sich hinter dem Heck das endlose Meer erstreckt, von Wellenrudeln aufgewühlt, die üppig mit weißem Schaum gekrönt sind. Dort, in der Ferne, erkennt man auch zahlreiche Schiffe, weit weg nach links einen ganzen Wald von Masten und zahllose weiße Häuser – die Stadt. Von dorther ergießt sich über das Meer ein dumpfer, grollender Lärm, der mit dem Rauschen der Wellen zu einer schönen, kraftvollen Musik verschmilzt. Und über allem liegt ein dünner Schleier von aschgrauem Nebel, in dem die Gegenstände auseinanderrücken.

»Hach, es wird gegen Abend ganz schön bewegt werden!« sagte Tschelkasch und nickte zum Meer hinüber.

»Gibt es Sturm?« fragte Gawrila und zerteilte die Wellen kräftig mit den Rudern. Er war bereits von den Spritzern durchnäßt, die der Wind über das Meer vor sich herwirbelte.

»Ja doch!« bestätigte Tschelkasch.

Gawrila sah ihn forschend an.

»Nun, wieviel haben sie dir gegeben?« fragte er schließlich, als er merkte, daß Tschelkasch nicht die Absicht hatte, das Gespräch zu beginnen.

»Das hier!« entgegnete Tschelkasch und hielt ihm etwas hin, daß er aus der Tasche zog.

Gawrila erblickte einen Packen bunter Scheine, und alles nahm in seinen Augen grelle, regenbogenfarbene Töne an.

»Ach! Und ich hab doch geglaubt, du schneidest auf! Wieviel sind es?«

»Fünfhundertvierzig.

»Allerhand!« murmelte Gawrila und begleitete die fünfhundertvierzig Rubel, die wieder in der Tasche verschwanden, mit gierigen Augen. »Ach, verdammt! Wenn doch ich mal eine solche Summe beisammen hätte!« Und er gab einen bedrückten Seufzer von sich.

»Jetzt machen wir uns aber einen guten Tag, Bursche!« rief Tschelkasch verzückt. »Hach, werden wir eine Sause machen . . . Glaube nicht, daß ich dir nichts abgebe, Bester! Ich gebe dir vierzig Rubel! Nun? Bist du zufrieden? Ich gebe sie dir, wenn du willst, jetzt gleich.«

»Wenn's dich nicht kränkt – bitte! Ich nehme sie an!«

Gawrila zitterte vor leidenschaftlicher, das Herz zum Stocken bringender Erwartung.

»Ach, du Teufelsbraten! Ich nehme sie an! Nimm sie an, Verehrter, tu mir den Gefallen! Ich bitte dich darum, nimm sie an! Ich weiß nicht, wo ich mit einem solchen Haufen Geld hin soll! Befrei mich davon, hier, nimm sie an!«

Tschelkasch reichte Gawrila mehrere Scheine hinüber. Der legte die Ruder hin, nahm sie mit zitternder Hand in Empfang und verbarg sie irgendwo auf der Brust; seine Augen waren gierig zusammengekniffen, er atmete geräuschvoll ein, als trinke er etwas, das ihm die Kehle verbrannte. Tschelkasch blickte ihn mit spöttischem Lächeln an. Gawrila aber griff gleich wieder zu den Rudern und ruderte – nervös und hastig, als fürchte er sich vor etwas, und mit zu Boden gerichtetem Blick. Seine Schultern und Ohren zuckten.

»Bist aber reichlich gierig! Das ist nicht schön . . . Im übrigen – wie könnte es anders sein? Ein Bauer . . .«, meinte Tschelkasch nachdenklich.

»So bedenke doch, was ich mit dem Geld alles anfangen kann!« rief Gawrila und flammte plötzlich vor leidenschaftlicher Erregung. Und er erging sich zusammenhanglos und hastig, als jage er den eigenen Gedanken nach und hasche nach den Worten, über das Leben auf dem Dorf – mit und ohne Geld. Die allgemeine Achtung, der Wohlstand, die Vergnügtheit . . .

Tschelkasch hörte ihm aufmerksam, mit ernstem Gesicht und nachdenklich zusammengekniffenen Augen zu. Dann und wann lächelte er zufrieden.

»Da sind wir!« unterbrach er Gawrilas Redefluß.

Eine Welle trug das Boot hoch und setzte es mühelos auf den Sand.

»So, Verehrter, damit wären wir am Ende. Das Boot müssen wir möglichst weit an Land ziehen, damit es nicht fortgeschwemmt wird. Es wird hier abgeholt. Und wir beide sagen uns ade! Von hier bis zur Stadt sind es ungefähr acht Werst. Du kehrst wohl in die Stadt zurück? Oder wie?«

Tschelkaschs Gesicht strahlte von einem gutmütig-pfiffigen Lächeln; überhaupt sah er aus, als führe er etwas für ihn sehr Angenehmes und für Gawrila Überraschendes im Schilde. Er hatte die Hand in der Tasche und knisterte mit den Scheinen.

»Nein . . ., ich . . . gehe jetzt nicht hin . . ., ich . . .« Gawrila rang nach Luft und würgte an etwas.

Tschelkasch sah ihn an.

»Was hast du?« fragte er.

»Nichts . . .« Doch Gawrilas Gesicht wurde abwechselnd rot und grau, und er trat unschlüssig auf der Stelle – sei es, daß er sich auf Tschelkasch stürzen wollte, sei es, daß ihn ein anderer schwer erfüllbarer Wunsch zerriß.

Tschelkasch war beim Anblick einer solchen Erregung des Burschen nicht ganz ungeheuer. Er wartete, womit das enden werde.

Gawrila brach in ein seltsames Lachen aus, das an Schluchzen erinnerte. Sein Kopf war gesenkt, den Gesichtsausdruck konnte Tschelkasch nicht erkennen, er sah nur undeutlich seine Ohren, die bald rot, bald blaß wurden.

»Hol dich der Teufel!« Tschelkasch winkte ab. »Hast du dich etwa in mich verliebt, oder was ist? Druckst herum wie ein Mädchen! Fällt dir der Abschied so schwer? He, Milchbart! So rede schon, was hast du? Sonst geh ich!«

»Du gehst?« schrie Gawrila laut auf.

Sein Schrei erschütterte den einsamen Strand; die von den Meereswellen angespülten gelben Sandwellen schienen sich aufzubäumen. Plötzlich riß sich Gawrila von der Stelle los, an der er gestanden hatte, stürzte sich vor Tschelkaschs Füße, umklammerte seine Beine und zog sie an sich. Tschelkasch geriet ins Wanken, setzte sich schwerfällig in den Sand, knirschte mit den Zähnen und holte, die Hand zur Faust geballt, mit dem langen Arm aus. Er kam jedoch nicht zum Zuschlagen – Gawrilas schamhaftes, bittendes Flüstern hielt ihn zurück.

»Du Lieber! Überlaß mir dieses Geld! Gib es mir – um Christi willen! Was bedeutet es schon für dich? Du vertust es in einer Nacht – in einer einzigen Nacht! Und mir reicht es für Jahre . . . Gib es mir, ich will für dich beten! Ich werde mein Leben lang – in drei Kirchen – für dein Seelenheil beten lassen! Du streust es doch nur in den Wind – ich tue es in die Erde! Ach, gib mir das Geld! Was macht es dir schon aus! Was kostet's dich denn? Eine einzige Nacht, und du bist wieder reich! Tu ein gutes Werk! Du bist ja doch ein Verlorener . . . Weißt keinen Weg mehr für dich . . . Während ich – ach! Gib es mir!«

Tschelkasch saß, erschrocken, verblüfft und verärgert im Sand, nach hinten übergeneigt und auf die Hände gestützt, schwieg und starrte den Burschen, der den Kopf an seine Knie gepreßt hatte und ihn atemlos murmelnd anflehte, mit furchterregenden Augen an. Er stieß ihn schließlich von sich, sprang auf, griff in die Tasche und warf Gawrila die Scheine hin.

»Da hast du! Friß . . .«, rief er ihm zu und zitterte vor Erregung, vor heftigem Mitleid, vor Haß auf diesen gierigen Knecht. Und er fühlte sich, nachdem er ihm das Geld hingeworfen hatte, als Held.

»Ich wollte dir selber mehr geben. Ich war gestern gerührt, ich dachte an mein Dorf zurück . . . Gut, hilfst dem Burschen, sagte ich mir. Und ich wartete, was du tun, ob du mich darum bitten würdest oder nicht. Und du . . . Ein Fetzen bist du, ein Bettler! Wie kann man sich des Geldes wegen so zermartern! Dummkopf! Geizige Teufel seid ihr! Irrsinnige, die sich für ein Fünfkopekenstück verkaufen!«

»Du Lieber! Christus errette dich! Was halte ich denn in der Hand? . . . Ich bin . . ., ich bin doch jetzt ein reicher Mann!« winselte Gawrila außer sich, zuckte in einem fort und verbarg das Geld unter dem Hemd. »Ach, du Bester! Das vergesse ich dir nie im Leben! Niemals! Ich lasse Frau und Kinder für dich beten!«

Tschelkasch hörte sich sein Freudengeplärr an, blickte in sein strahlendes, von der Begeisterung der Habgier entstelltes Gesicht und fühlte, daß er – der Dieb, der heimatlose Vagabund – niemals so gierig, so niedrig sein würde, sich nie so vergessen könnte. Nein, so würde er nie werden! Und dieser Gedanke, dieses Gefühl erfüllten ihn mit dem Bewußtsein seiner Freiheit und hielten ihn auf dem einsamen Meeresufer neben Gawrila fest.

»Du hast mich zu einem glücklichen Menschen gemacht!« rief Gawrila, griff nach Tschelkaschs Hand und drückte sie immer wieder ungeschickt an sein Gesicht.

Tschelkasch schwieg und bleckte wölfisch die Zähne. Gawrila fuhr in seinen Herzensergießungen fort: »Weißt du auch, was ich mir gedacht habe? Wir kommen her . . ., habe ich mir gedacht . . ., und ich haue ihm – also dir – mit dem Ruder über den Schädel . . . Das Geld ist mein, und ihn . . ., also dich . . . ins Meer! Wer fragt schon danach? Und selbst wenn sie ihn finden, werden sie nicht erst lange forschen – wer und wieso. Ist schließlich nicht jemand, dessentwegen man viel Aufhebens macht! Einer, den niemand braucht! Wer soll schon für ihn eintreten?«

»Gib das Geld zurück!« brüllte Tschelkasch und packte Gawrila an der Gurgel.

Gawrila versuchte ein-, zweimal sich loszureißen, aber Tschelkaschs anderer Arm umwand ihn wie eine Schlange. Man hörte das Knattern eines zerreißenden Hemdes – dann lag Gawrila im Sand, starrte wie ein Irrer, griff mit den Fingern in die Luft und zappelte mit den Beinen. Tschelkasch – gerade, mager, raubtierhaft sehnig – bleckte böse die Zähne und brach in ein giftiges Kichern aus; sein Schnurrbart zuckte nervös in dem eckigen, scharf geschnittenen Gesicht. Er war noch nie im Leben so schmerzhaft getroffen worden und so erbost gewesen.

»Nun, du glücklicher Mensch?« fragte er Gawrila, immer noch giftig lachend, drehte ihm den Rücken zu und ging in Richtung der Stadt davon. Aber er hatte noch keine fünf Schritte getan, als Gawrila wie eine Katze herumfuhr, aufsprang, weit ausholte und mit einem runden Stein nach ihm warf, wobei er böse ausrief: »Da!«

Tschelkasch ließ ein Ächzen hören, griff sich mit beiden Händen an den Kopf, sank vornüber, drehte sich zu Gawrila um und fiel mit dem Gesicht nach unten in den Sand. Gawrila erstarrte, als er das sah. Jetzt bewegte Tschelkasch das Bein, versuchte den Kopf zu heben, zuckte kurz und streckte sich schnurgerade aus. Da stürzte Gawrila davon, dorthin, wo über der nebligen Steppe eine zottige schwarze Wolke hing und wo es dunkel war. Die Wellen rauschten, überfluteten den Sand, verebbten und fluteten aufs neue heran. Der Schaum zischte, und Wasserspritzer wirbelten durch die Luft.

Es begann zu regnen. Zuerst fielen einzelne Tropfen, die aber rasch in einen dichten, schweren Regen übergingen, der sich in schmalen Bächen vom Himmel ergoß. Sie verflochten sich zu einem ganzen Netz von wäßrigen Fäden, das rasch die Ferne von Himmel und Meer verdeckte. Gawrila war verschwunden. Man sah eine Weile nichts als den Regen und den langen Mann, der im Sand am Meere lag. Aber dann tauchte aus dem Regen wieder Gawrila auf – er rannte, er flog wie ein Vogel dahin; bei Tschelkasch angelangt, kniete er neben ihm nieder und versuchte ihn umzudrehen. Seine Hand griff in etwas Warmes, Rotes, Glitschiges . . . Er zuckte zusammen und fuhr mit irrem, blassem Gesicht zurück.

»Bruder, so steh doch schon auf!« flüsterte er Tschelkasch beim Rauschen des Regens ins Ohr.

Tschelkasch kam zu sich, stieß Gawrila zurück und sagte mit heiserer Stimme: »Mach, daß du fortkommst!«

»Bruder, verzeih mir! Der Böse hat mich . . .«, murmelte Gawrila zitternd und küßte Tschelkasch die Hand.

»Geh . . . Geh schon . . .«, krächzte Tschelkasch.

»Erlöse meine Seele von der Sünde! Verzeih mir, du Lieber!«

»Mach, daß du . . ., geh! Scher dich zum Teufel!« rief plötzlich Tschelkasch und setzte sich im Sand aufrecht. Sein Gesicht war blaß und böse, die trüben Augen fielen in einem fort zu, als habe er das unüberwindliche Bedürfnis zu schlafen. »Was willst du noch von mir? Du hast dein Werk getan . . ., geh jetzt! Hau ab!« Und er versuchte, den zu Tode betrübten Gawrila mit dem Fuß zu stoßen, vermochte es aber nicht und wäre abermals umgesunken, hätte Gawrila ihn nicht um die Schulter gefaßt und gestützt. Ihre Gesichter befanden sich nun dicht nebeneinander. Beide waren bleich und wirkten furchterregend.

»Pfui!« Und Tschelkasch spie seinem Knecht in die weit aufgerissenen Augen.

Der wischte sich demütig mit dem Ärmel ab und flüsterte: »Mach, was du willst . . ., ich sage kein Wort. Aber vergib mir um Christi willen!«

»Geschmeiß! Verstehst nicht einmal zu heucheln!« rief Tschelkasch verächtlich, riß unter der Jacke ein Stück vom Hemd ab und verband sich schweigend, nur hin und wieder mit den Zähnen knirschend, den Kopf. »Hast du das Geld wieder genommen?« stieß er durch die Zähne hervor.

»Nein, Bruder! Ich brauche es nicht. Es bringt nur Unglück!«

Tschelkasch griff in die Jacke, zog einen Packen Geldscheine hervor, steckte einen regenbogenfarbenen Schein wieder in die Tasche und warf alle übrigen Gawrila hin.

»Da, und nun geh!«

»Ich nehme sie nicht! Ich kann nicht! Verzeih mir!«

»Nimm, sage ich dir!« fuhr Tschelkasch ihn an und rollte drohend die Augen.

»Vergib mir! Dann nehme ich sie«, entgegnete Gawrila zaghaft und sank Tschelkasch erneut vor die Füße, in den nassen, ausgiebig vom Regen getränkten Sand.

»Du lügst, du nimmst sie auch so, du Ungeziefer!« sagte Tschelkasch überzeugt, bog mit Mühe Gawrilas Kopf an den Haaren zu sich herauf und hielt ihm die Scheine vor das Gesicht.

»Nimm, nimm nur! Sollst nicht umsonst gearbeitet haben! Nimm, hab keine Angst! Brauchst dich nicht zu schämen, weil du einen Menschen beinahe umgebracht hast! Solcher Leute wegen wie ich wird dich niemand zur Verantwortung ziehen. Sie sagen, wenn sie's erfahren, womöglich noch ›Danke schön!‹. Hier, nimm!«

Gawrila sah, daß Tschelkasch sich über ihn lustig machte, und ihm wurde leichter zumute. Er preßte das Geld in seiner Hand.

»Bruder! Vergibst du mir? Kannst du mir vergeben? Ja?« fragte er weinerlich.

»Du Lieber!« äffte Tschelkasch ihm nach und richtete sich, wenn auch ein wenig unsicher, auf. »Was soll ich dir denn verzeihen? Und wieso? Wie du mir, so ich dir – wenn nicht heute, dann morgen.«

»Ach, Bruder, Bruder!« seufzte Gawrila betrübt und schüttelte den Kopf.

Tschelkasch stand vor ihm und lächelte sonderbar; der Hemdfetzen an seinem Kopf färbte sich nach und nach rot und erinnerte immer mehr an einen türkischen Fes.

Es goß in Strömen. Das Meer grollte dumpf, die Wellen schlugen zornig und wild ans Ufer.

Die beiden Männer schwiegen.

»Nun, leb wohl!« sagte Tschelkasch schließlich spöttisch und wandte sich zum Gehen.

Er wankte, die Beine zitterten, er hielt den Kopf so sonderbar, als fürchte er, ihn jeden Augenblick zu verlieren.

»Verzeih mir, Bruder!« bat Gawrila noch einmal.

»Schon gut!« entgegnete Tschelkasch kühl und machte sich auf den Weg.

Er schritt, ein wenig wankend, dahin, die linke Hand am Kopf, als müsse er ihn stützen, während die rechte behutsam am braunen Schnurrbart zupfte.

Gawrila blickte ihm nach, bis er im Regen verschwand, der sich immer dichter in endlosen dünnen Bächen aus den Wolken ergoß und die Steppe in ein undurchdringliches stahlgraues Dunkel hüllte.

Dann nahm Gawrila seine durchnäßte Mütze ab, bekreuzigte sich, warf einen Blick auf das Geld in seiner Faust, atmete tief und erleichtert auf, verbarg die Scheine unter dem Hemd und ging mit langen, festen Schritten am Ufer davon, entgegengesetzt zu der Richtung, in der Tschelkasch verschwunden war.

Das Meer brüllte und ergoß sich mit hohen, schweren Wellen über den Sandstrand, auf dem sie in Schaum und Spritzer zerstoben. Der Regen peitschte ununterbrochen auf Land und Meer herab . . ., der Wind heulte . . . Alles ringsum verschmolz zu einem einzigen Brüllen, Tosen und Donnern . . . Man sah vor lauter Regen weder Himmel noch Meer.

Der Regen und die Wellenspritzer löschten den roten Fleck an der Stelle, an der Tschelkasch gelegen hatte, bald aus, wie sie die Fußspuren Tschelkaschs und des jungen Burschen auslöschten. Und am einsamen Meeresufer blieb nichts zurück, was an das kleine Drama erinnerte, das sich hier zwischen zwei Menschen abgespielt hatte.

 


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