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Dichte graue Rauchwolken ausstoßend, entschwand der Personenzug wie ein ungeheures Reptil im gelben Getreidemeer der endlosen Steppe.
Mit dem Rauch der Lokomotive in der glühenden Luft verlor sich auch der bösartige Lärm, der einige Minuten lang das gleichmütige Schweigen der weiten und öden Ebene unterbrochen hatte, in deren Mitte die kleine Eisenbahnstation in ihrer Vereinsamung ein wehmütiges Gefühl erweckte.
Als sich das dumpfe, aber belebende Getöse des Zuges zerstreut hatte und unter der klaren Kuppel des wolkenlosen Himmels verstummt war, herrschte rings um die Station von neuem drückende Stille.
Goldgeld war die Steppe – grellblau der Himmel. Beides von unermeßlicher Weite; dazwischen lagen wie ein störender Pinselstrich inmitten eines melancholischen, von einem phantasielosen Künstler mit Fleiß geschaffenen Gemäldes die braunen Bauten der Station.
Täglich um zwölf Uhr mittags und um vier Uhr nachmittags treffen die Züge aus der Steppe ein und halten zwei Minuten. Diese vier Minuten bilden die hauptsächlichste, ja die einzige Abwechslung auf der Station: Sie sind es, die den Angestellten die Eindrücke aus der Welt vermitteln.
Jeder Zug bringt eine Menge verschiedenartiger Menschen in verschiedenster Kleidung mit. Nur für einen Moment erscheinen sie; an den Fenstern der Wagen huschen ihre müden, ungeduldigen und gleichgültigen Gesichter vorüber – ein Glockenton, Pfiffe – und mit Getöse werden sie durch die weite Steppe in die Städte davongetragen, wo das geräuschvolle Leben brodelt.
Für die Stationsbeamten ist es interessant, diese Gesichter zu sehen, sie teilen einander die Eindrücke mit, die sie in der Eile aufgefangen haben. Ringsum liegt die schweigsame Steppe, über ihnen der teilnahmslose Himmel, und in ihren Herzen ein dunkler Neid gegen diese Menschen, die Tag für Tag an ihnen vorbei irgendwohin streben, während sie zurückbleiben, eingeschlossen in dieser Öde, wie außerhalb des Lebens lebend.
Und nachdem sie den Zug abgefertigt haben, stehen sie auf dem Bahnsteig, und ihre Augen begleiten das schwarze Band, das im goldnen Getreidemeer verschwindet – und schweigen unter dem Eindruck des Lebens, das an ihnen vorübergeflogen ist.
Sie sind fast alle da: der Stationsvorsteher, ein gutmütiger korpulenter Blonder mit langem Kosakenschnurrbart; sein Gehilfe, ein junger Mann mit roten Haaren und kleinem Spitzbart; der Stationswächter Luka, klein, flink und schlau, und einer der beiden Weichensteller – Gomosow, ein schweigsamer stämmiger Bauer mit breitem Bart.
Auf der Bank neben der Tür sitzt die Frau des Stationsvorstehers, eine kleine dicke Person, die stark unter der Hitze leidet. Auf ihren Knien schläft ein Kind, dessen Gesicht ebenso aufgedunsen und rot ist wie das der Mutter.
Der Zug verschwindet in einer Senkung, es sieht aus, als ob er in die Erde gekrochen wäre.
Dann sagt der Stationsvorsteher zu seiner Frau gewandt: »Nun, Sonja, ist der Samowar fertig?«
»Natürlich«, antwortet sie träge und leise.
»Luka, du fegst den Damm und den Bahnsteig . . ., sieh mal, was sie da alles herausgeworfen haben . . .«
»Ich weiß, Matwej Jegorowitsch . . .«
»Nun . . ., was ist? Wollen wir Tee trinken, Nikolai Petrowitsch?«
»Versteht sich«, antwortet der Gehilfe.
Nach der Durchfahrt des Mittagszuges fragt Matwej Jegorowitsch seine Frau: »Nun, Sonja, ist das Mittagessen fertig?«
Dann gibt er Luka den immer gleichlautenden Befehl und fordert den Gehilfen auf, der bei ihnen beköstigt wird: »Nun also? Wollen wir Mittagessen?«
Und der Gehilfe antwortet ihm folgerichtig: »Versteht sich . . .«
Sie gehen hinein ins Zimmer, wo viele Blumen und wenig Möbel stehen, wo es nach Küche und nach Windeln riecht, und dort am Tisch reden sie über das, was an ihnen vorbeigehuscht ist.
»Haben Sie die Brünette in der zweiten Klasse bemerkt, Nikolai Petrowitsch? Ein giftiges Weib!«
»Nicht übel, doch geschmacklos gekleidet«, antwortet der Gehilfe.
Er spricht immer kurz und überzeugt, da er sich für einen Menschen hält, der das Leben kennt und Bildung hat. Er hat das Gymnasium besucht und besitzt ein in schwarzen Kaliko gebundenes Heft, in das er Aussprüche berühmter Männer einträgt, die er aus Zeitungsfeuilletons und Büchern, die zufällig in seine Hände geraten, abschreibt. Der Stationsvorsteher erkennt seine Autorität, soweit sie sich nicht auf den Dienst bezieht, in allen Dingen an und hört ihm aufmerksam zu. Besonders gefallen ihm die Weisheiten aus dem Heftchen, die Nikolai Petrowitsch vermerkt hat und von denen er immer aufrichtig entzückt ist. Die Bemerkung des Gehilfen über das Kleid der Brünetten veranlaßt Matwej Jegorowitsch zu der Frage: »Steht denn Brünetten die gelbe Farbe nicht?«
»Ich spreche vom Schnitt und nicht von der Farbe«, erklärt Nikolai Petrowitsch, während er sich aus einer Glasschale sorgsam Konfitüre auf seinen kleinen Teller nimmt.
»Der Schnitt, das ist eine andere Sache!« stimmt ihm der Stationsvorsteher zu.
In das Gespräch greift seine Frau ein, weil sie dieses Thema berührt und ihr verständlich ist. Doch da der Verstand dieser Leute wenig geübt ist, zieht sich die Unterhaltung langsam hin und erregt ihre Empfindungen nur selten.
Zum Fenster aber schaut die Steppe mit ihrem bezaubernden Schweigen herein und der Himmel in seiner erhabenen wunderbaren Ruhe.
Fast alle Stunden kommen Güterzüge durch; das Begleitpersonal ist ihnen längst bekannt. Alle diese Schaffner sind wie Schlafwandelnde, erdrückt von der Langenweile der Fahrten durch die Steppe. Manchmal erzählen sie übrigens von Ereignissen auf der Strecke: Da und da war jemand überfahren worden; oder sie berichten über die neuesten Dienstangelegenheiten: Dieser war bestraft, jener versetzt worden. Diese Neuigkeiten werden nicht besprochen – sie werden genossen, wie Feinschmecker eine schmackhafte und seltene Speise genießen.
Die Sonne senkt sich langsam zum Rande der Steppe, und wenn sie die Erde fast berührt, wird sie purpurrot. Ein rötlicher Glanz legt sich über die Steppe, der ein schwermütiges Gefühl erweckt, eine undeutliche Sehnsucht nach der Ferne, fort aus dieser Einöde. Dann berührt die Sonne die Erde und verschwindet träge in ihr oder hinter ihr. Wenn sie versunken ist, spielen die grellen Farben der Abendröte noch lange am Himmel, doch sie verblassen immer mehr, und die Dämmerung bricht warm und schweigend herein. Die Sterne blitzen auf und erzittern wie erschrocken über die Langeweile auf der Erde.
In der Dämmerung zieht sich die Steppe gleichsam zusammen: Von allen Seiten kriechen die nächtlichen Schatten lautlos an die Station heran. Und dann kommt die Nacht – schwarz und düster.
Auf der Station werden die Lichter angezündet; greller und höher als alle anderen das grünliche Licht des Zeichentelegrafen. Um ihn herrscht Finsternis und Schweigen.
Von Zeit zu Zeit ertönt ein Glockensignal – die Ankündigung eines Zuges; der eilige Ton der Glocke entschwebt in die Steppe und verhallt schnell.
Bald nach dem Glockenzeichen taucht aus der Ferne ein blitzendes rotes Licht auf, und die Stille der Steppe erdröhnt von dem dumpfen Getöse des Zuges, der sich der einsamen, von Finsternis umgebenen Station nähert.
Die untere Schicht der kleinen Gesellschaft auf der Station lebt etwas anders als die Aristokratie. Der Wächter Luka kämpft beständig mit dem Wunsch, zu seiner Frau und seinem Bruder ins Dorf zu laufen, das sieben Werst von der Station entfernt liegt. Dort hat er eine Wirtschaft, wie er Gomosow erzählt, wenn er den schweigsamen und gesetzten Weichensteller bittet, für ihn den Dienst auf der Station zu übernehmen.
Bei dem Wort »Wirtschaft« seufzt Gomosow jedesmal tief auf und sagt zu Luka: »Nun, was schon, geh. Eine Wirtschaft verlangt Aufsicht, das ist richtig . . .«
Der andere Weichensteller, Afanassij Jagodka, ein alter Soldat mit einem roten runden Gesicht und borstigen grauen Haaren, ein spottlustiger, boshafter Mensch, glaubt Luka nicht.
»Eine Wirtschaft!« ruft er spöttisch lachend. »Eine Frau! . . . Ich weiß schon, was das ist . . ., deine Frau ist wohl eine Witwe, ist es nicht so? Oder eine Soldatenfrau?«
»Ach, du Vogelgouverneur!« antwortet Luka verächtlich.
Er nennt Jagodka so, weil der alte Soldat Vögel leidenschaftlich liebt. Sein Bahnwärterhäuschen ist innen und außen mit Käfigen und Vogelhecken behängt; drinnen und draußen ertönt den ganzen Tag unermüdliches Vogelgezwitscher. Die vom Soldaten gefangenen Wachteln rufen beständig ihr eintöniges »Potpolot«, die Stare führen lange Reden, verschiedenfarbige kleine Vögel zwitschern, pfeifen, singen ununterbrochen und erhellen das einsame Leben des Soldaten. In seiner ganzen freien Zeit beschäftigt er sich mit ihnen, geht freundlich und sorgsam mit ihnen um und zeigt für seine Kameraden kein Interesse. Luka nennt er eine Natter und Gomosow Kazap und schämt sich nicht, ihnen ins Gesicht zu sagen, daß sie beide Schürzenjäger seien und daß man sie dafür prügeln müßte.
Luka achtet nur wenig auf seine Worte, doch wenn es dem Soldaten gelingt, ihn in Wut zu bringen, schimpft Luka lange und bissig: »Du von den Mäusen angenagter Kommißhengst! Was kannst du schon begreifen, du verabschiedeter Dudelsackpfeifer? Du hast dein ganzes Leben lang Frösche unter der Kanone weggejagt und den Regimentskohl bewacht . . ., kannst du überhaupt mitreden? Geh zu deinen Wachteln, du Vogelkommandeur!«
Jagodka hört sich ruhig das Geschimpfe des Wächters an und geht zum Stationsvorsteher, um sich über ihn zu beschweren; der aber schreit auf ihn ein, daß man ihm mit solchen Kleinigkeiten nicht kommen solle, und jagt den Soldaten fort. Dann begegnet Jagodka Luka und beginnt, ihn nun selber zu beschimpfen – ohne in Hitze zu geraten, ruhig, mit so schwerwiegenden und gemeinen Worten, daß Luka ausspuckt und weggeht.
Gomosow antwortet auf die Beschuldigungen des Soldaten mit Seufzern und verlegenen Rechtfertigungen.
»Was soll man schon machen? Mit dem kannst du nichts anfangen . . . Natürlich . . ., das ist eine Ungezogenheit . . . Im übrigen aber, richte nicht, damit du nicht gerichtet werdest . . .«
Eines Tages entgegnete der Soldat hämisch lachend: »Was wiederholst du das immer: Richte nicht, richte nicht . . . Wenn niemand gerichtet würde, hätten die Menschen über nichts zu reden . . .«
Außer der Frau des Stationsvorstehers lebte noch ein zweites weibliches Wesen auf der Station, die Köchin. Sie hieß Arina, mochte vierzig Jahre zählen und war sehr häßlich: untersetzt, mit Hängebrüsten, immer schmutzig und abgerissen. Sie hatte einen watschelnden Gang, und in ihrem pockennarbigen Gesicht glänzten ein paar schmale, erschrockene kleine Augen, die von Fältchen umgeben waren. Es lag etwas Sklavisches, Eingeschüchtertes in ihrer ungelenken Figur, ihre dicken Lippen waren ständig in einer Art verzogen, als wollte sie alle Menschen um Verzeihung bitten und sich ihnen zu Füßen werfen, ohne daß sie dabei zu weinen wagte. Gomosow lebte bereits acht Monate auf der Station, ohne Arina Aufmerksamkeit zu schenken; wenn er ihr begegnete, sagte er guten Tag! und sie antwortete ihm ebenso, höchstens, daß sie zwei, drei Redensarten wechselten, worauf jeder seiner Wege ging. Eines Tages jedoch kam Gomosow in die Küche des Stationsvorstehers und schlug Arina vor, ihm Hemden zu nähen. Sie ging darauf ein, nähte ihm die Hemden und brachte sie aus irgendeinem Grund selbst zu ihm.
»Nun, danke schön!« sagte Gomosow. »Drei Hemden zu zehn Kopeken das Stück macht dreißig Kopeken, die du zu bekommen hast . . . Stimmt das?«
»Es wird schon stimmen«, antwortete Arina.
Gomosow versank in Nachdenken und schwieg lange.
»Aus welchem Gouvernement stammst du?« fragte er schließlich die Frau, die die ganze Zeit seinen Bart betrachtet hatte.
»Aus dem Rjasanschen«, sagte sie.
»Recht weit her! Wie bist du denn hierhergekommen?«
»Einfach so . . ., ich bin allein . . . und einsam . . .«
»Das kann einen auch noch weiter treiben«, seufzte Gomosow.
Und wieder schwiegen sie.
»Ich bin auch allein«, sagte Gomosow. »Ich stamme aus der Nishni Nowgoroder Gegend, aus dem Sergatschewskijschen Kreis. Auch ich stehe allein, ganz allein. Ich hatte eine Wirtschaft, eine Frau hatte ich auch . . ., und zwei Kinder. Die Frau starb an der Cholera, und die Kinder einfach so . . . Und mich – hat der Kummer zugrunde gerichtet. Jaja . . . Dann versuchte ich hochzukommen – aber es ging nicht, die Maschine versagte, sie wollte nicht mehr. Und da verließ ich alles und ging davon . . . Schon das dritte Jahr schlage ich mich herum.«
»Es ist schlimm, wenn man kein eignes Nest hat«, sagte Arina leise.
»Und wie! . . . Bist du Witwe?«
»Jungfer . . .«
»Ach wo!« sagte Gomosow, der dies anzweifelte.
»Bei Gott, ich bin Jungfer«, beteuerte Arina.
»Warum hast du nicht geheiratet?«
»Wer nimmt mich schon? Ich habe doch nichts . . . Wem bin ich denn nütze? Und häßlich bin ich auch . . .«
»Jaja . . .«, sagte Gomosow nachdenklich und strich seinen Bart, wobei er sie neugierig betrachtete. Dann fragte er sie, wieviel Lohn sie erhalte.
»Zweieinhalb Rubel . . .«
»So . . . Also du bekommst dreißig Kopeken von mir? Komm doch heute abend und hol sie dir . . ., so gegen zehn Uhr, was? Ich gebe sie dir dann . . ., wir wollen Tee trinken und etwas plaudern aus Langerweile . . . Wir sind beide einsam . . ., komm!«
»Ich werde kommen«, sagte sie einfach und ging.
Sie kam pünktlich um zehn Uhr abends zu ihm und verließ ihn erst beim Morgengrauen.
Gomosow lud sie nicht mehr ein und gab ihr auch die dreißig Kopeken nicht. Sie erschien von selbst bei ihm, stumpfsinnig und unterwürfig, sie kam herein und stand schweigend vor ihm. Er lag auf dem Bett, betrachtete sie und sagte, indem er näher zur Wand rückte: »Setz dich.«
Als sie Platz genommen hatte, erklärte er ihr: »Hör mal, du – halt es nur ja geheim. Daß niemand was merkt! Sonst kann es mir schlecht gehen . . . Ich bin nicht mehr jung, du auch nicht . . . Hast du verstanden?«
Sie nickte.
Als er sie hinausbegleitete, gab er ihr seine Sachen zum Flicken mit und erinnerte sie: »Daß nur keine Seele dahinterkommt!«
So lebten sie miteinander und hielten ihre Beziehungen vor allen geheim.
Arina stahl sich in den Nächten zu ihm, fast auf allen vieren kriechend. Er empfing sie herablassend mit der Miene des Gebieters und sagte manchmal mit völliger Offenheit: »Bist du aber häßlich!«
Sie schwieg und lächelte nur mit einem blassen, schuldbewußten Lächeln, und wenn sie ihn verließ, nahm sie fast immer eine Arbeit mit, die er ihr aufgegeben hatte.
Sie sahen sich nicht oft. Bisweilen jedoch sagte Gomosow, wenn er sie irgendwo auf der Station traf, halblaut zu ihr: »Komm heute . . .«
Und sie erschien bei ihm so unterwürfig, mit einem so ernsten Ausdruck im pockennarbigen Gesicht, als ob sie gekommen wäre, eine Pflicht zu erfüllen, deren Wichtigkeit sie zu begreifen begann.
Wenn sie dann nach Hause ging, lag schon wieder der gewohnte starre Ausdruck des Schuldbewußtseins und des Schreckens auf ihrem Gesicht.
Manchmal blieb sie irgendwo in einem Winkel oder hinter einem Baum stehen und schaute lange in die Steppe. Dort herrschte die Nacht, und ihr strenges Schweigen ließ ihr Herz erschauern.
Eines Tages veranstaltete der Stationsvorstand, nachdem der Abendzug abgefertigt worden war, das Teetrinken im Garten vor den Wohnungsfenstern von Matwej Jegorowitsch im dichten Schatten der Pappeln.
An heißen Tagen pflegten sie das oft zu tun. Es brachte eine gewisse Abwechslung in ihr monotones Leben.
Sie tranken Tee und schwiegen, da das Gespräch über die Eindrücke, die sie von dem Zug empfangen hatten, erschöpft war.
»Es ist heute noch heißer als gestern«, sagte Matwej Jegorowitsch, während er seiner Frau mit der einen Hand das leere Glas reichte und sich mit der anderen den Schweiß vom Gesicht wischte.
Die Frau nahm das Glas und erklärte: »Dir ist nur aus Langerweile heißer . . .«
»Hm, mag sein, daß es so ist . . ., in solchem Falle wäre eine Kartenpartie angebracht . . . Aber . . . wir sind nur drei . . .«
Nikolai Petrowitsch zuckte die Achseln, kniff die Augen zusammen und sagte bestimmt: »Nach Schopenhauer ist das Kartenspiel der Bankrott allen Denkens.«
»Sehr gut!« sagte Matwej Jegorowitsch bewegt. »Ja, Bankrott des Denkens . . . Wer hat das gesagt?«
»Schopenhauer, ein Deutscher, ein Philosoph . . .«
»Philoso-oph? Hm . . .«
»Sind diese Philosophen an der Universität angestellt?« fragte Sofja Iwanowna neugierig.
»Ja, wie soll ich Ihnen das erklären? Das ist kein Rang, sondern sozusagen eine angeborene Fähigkeit . . . Philosoph kann jeder sein, der mit der Gewohnheit zu denken geboren ist und in allem nach dem Anfang und dem Ende sucht. Gewiß gibt es auch an den Universitäten Philosophen aber sie können auch einfach so irgendwo leben . . ., sogar bei der Eisenbahn dienen.«
»Und verdienen die viel, die bei den Universitäten angestellt sind?«
»Das hängt vom Verstand ab . . .«
»Aber wenn wir einen vierten Mann hätten, könnten wir eine schöne Partie Wint spielen«, sagte mit einem Seufzer Matwej Jegorowitsch.
Das Gespräch brach ab.
Am blauen Himmel singen die Lerchen, in den Pappeln hüpfen die Grasmücken von Ast zu Ast und pfeifen leise. Im Zimmer weint das Kind.
»Ist Arina dort?« fragt Matwej Jegorowitsch.
»Natürlich«, antwortet seine Frau kurz.
»Ein originelles Weibsbild ist diese Arina; haben Sie gemerkt, Nikolai Petrowitsch . . .«
»Originalität – ist das erste Merkmal von Banalität«, sagt wie zu sich selber Nikolai Petrowitsch und setzt eine nachdenkliche und grübelnde Miene auf.
»Wie war das?« fragt der Vorsteher lebhaft.
Und als Nikolai Petrowitsch den Ausspruch mit Überzeugung wiederholt, blinzelt er vergnügt mit den Augen, während Sofja Iwanowna mit matter Stimme sagt: »Wie gut Sie alles behalten, was Sie gelesen haben . . . Ich erinnere mich, wenn ich etwas gelesen habe, am nächsten Tag an nichts mehr, und wenn man mich totschlagen würde. Da habe ich neulich in der ›Niwa‹ etwas so Interessantes, so Unterhaltendes gelesen – und nicht ein Wort habe ich behalten!«
»Alles Gewohnheit!« erklärt Nikolai Petrowitsch kurz.
»Nein, das ist noch besser, als das von . . ., wie hieß er doch? Schopenhauer«, sagt lächelnd Matwej Jegorowitsch. »Es besagt, daß alles Neue rasch veraltet.«
»Und umgekehrt, denn ein Dichter hat gesagt: ›Die Weisheit des Lebens ist sparsam: alles Neue wird aus Altem zusammengenäht!‹«
»Teufel noch mal! Wie das alles bei Ihnen herauskommt, wie durch ein Sieb geschüttet!«
Matwej Jegorowitsch lacht zufrieden, seine Frau lächelt freundlich mit, und Nikolai Petrowitsch bemüht sich vergeblich zu verbergen, daß er sich geschmeichelt fühlt.
»Wer hat das von der Banalität gesagt?«
»Barjatinskij, ein Dichter.«
»Und das andere?«
»Auch ein Dichter – Fofanow.«
»Schlaue Leute!« lobt Matwej Jegorowitsch und wiederholt den Spruch mit singender Stimme und mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht.
Die Langeweile spielt gleichsam mit ihnen, befreit sie für einen Augenblick aus ihrer klammernden Umarmung, um sie von neuem zu umfangen. Dann schweigen sie wieder, atmen schwer vor Hitze, die durch den Tee noch gesteigert wird.
In der Steppe ist nur Sonne.
»Ach so, ich sprach über Arina«, erinnert sich Matwej Jegorowitsch. »Ein eigenartiges Frauenzimmer, wenn ich sie ansehe, staune ich. Sie ist wie auf den Kopf gefallen: sie lacht nicht, singt nicht, spricht wenig . . ., wie ein Klotz. Im übrigen arbeitet sie sehr gut und, wissen Sie, sie gibt sich so viel mit der kleinen Lelja ab, ist so achtsam mit dem Kind . . .«
Er spricht leise, da er nicht will, daß Arina seine Worte durch das Fenster hört. Er weiß, daß man Dienstboten nicht loben darf, wenn man nicht will, daß sie hochmütig werden. Seine Frau unterbricht ihn mit einem vielsagenden Stirnrunzeln: »Nun laß schon . . ., du weißt nicht alles von ihr!«
»Sklave der Liebe!
Ich bin so schwach
Im Kampf mit
Meinem Dämon!«
singt Nikolai Petrowitsch leise im Rezitativ vor sich hin und schlägt dabei mit dem Löffel den Takt auf den Tisch. Er lächelt.
»Was, was ist da? Sie . . . Nun, nun, da schwindelt ihr doch beide!«
Und Matwej Jegorowitsch lacht laut auf. Seine Wangen zittern, und von seiner Stirn rinnen schnell Schweißtropfen.
»Das ist gar nicht zum Lachen!« unterbricht ihn die Frau. »Erstens hat sie für das Kind zu sorgen; zweitens – siehst du, was mit dem Brot los ist? Übersäuert und verbrannt . . ., und warum?«
»Jaja, das Brot! Es war wirklich nicht gut . . ., man muß ihr einen Verweis erteilen! Aber weiß Gott, das . . ., das hätte ich nicht erwartet! Sie ist doch ein Mehlkloß! Ach, hol's der Teufel! Aber er, wer ist es? Lukaschka? Ich werde ihn lächerlich machen, diesen alten Teufel! Oder ist es Jagodka? So ein Pinsel!«
»Gomosow«, sagt Nikolai Petrowitsch kurz.
»Wa-as, so ein gesetzter Bauer? Aber ihr wollt mir wohl . . . etwas aufbinden?«
Matwej Jegorowitsch interessiert diese außerordentlich komische Geschichte sehr. Bald lacht er mit tränenfeuchten Augen, bald spricht er ernsthaft von der Notwendigkeit, den Verliebten einen strengen Verweis zu erteilen, dann stellt er sich die zärtlichen Gespräche zwischen ihnen vor und lacht aufs neue dröhnend.
Schließlich ist er in Begeisterung geraten. Da macht Nikolai Petrowitsch ein ernstes Gesicht und Sofja Iwanowna unterbricht ihren Mann schroff.
»Ach, diese Teufel! Na, über euch werde ich noch lachen! Ist das interessant . . .« Matwej Jegorowitsch kann sich gar nicht beruhigen.
Luka erscheint und meldet: »Der Telegraf . . .«
»Ich komme. Gib das Signal für den Zug zweiundvierzig.« Er begibt sich schnell mit dem Gehilfen zur Station, wo Luka mit kurzen Glockenschlägen das Signal gibt. Nikolai Petrowitsch setzt sich an den Apparat und fragt bei der Nachbarstation an: »Kann ich den Zug Nummer zweiundvierzig abfahren lassen?« Und sein Vorgesetzter geht im Büro auf und ab, lächelt und sagt: »Wollen wir die beiden Teufel mal zum besten haben? Nur aus Langerweile, um ein wenig zu lachen . . .«
»Das ist erlaubt!« stimmt Nikolai Petrowitsch ihm zu, während er mit dem Schlüssel am Apparat hantiert.
Er weiß, daß ein Philosoph sich lakonisch äußert.
Bald bot sich ihnen eine Gelegenheit zum Lachen.
Eines Nachts kam Gomosow zu Arina in den Keller, wo sie sich auf sein Geheiß und mit Erlaubnis der Vorsteherin zwischen allerlei Wirtschaftsgerümpel ein Bett hergerichtet hatte. Es war dort feucht und kühl, und die zerbrochenen Stühle, Zuber, Bretter und sonstiges Gerumpel nahmen in der Dunkelheit erschreckende Formen an; wenn Arina allein war, fürchtete sie sich so, daß sie fast nicht schlief, mit offenen Augen auf ihrem Strohsack lag und die ihr geläufigen Gebete flüsterte.
Gomosow kam, drückte und knutschte sie lange schweigend; als er müde wurde, schlief er ein. Doch bald weckte ihn Arina mit aufgeregtem Geflüster: »Timofej Petrowitsch! Timofej Petrowitsch!«
»Was ist los«, fragte Gomosow halb verschlafen und mißmutig.
»Man hat uns eingeschlossen!«
»Wieso?« fragte er und sprang auf.
»Jemand kam und . . . schloß ab . . .«
»Du lügst!« flüsterte er erschrocken und zornig und stieß sie von sich.
»Sieh selbst nach«, sagte sie unterwürfig.
Er erhob sich und ging zur Tür, wobei er an alles anstieß, was ihm in den Weg kam, rüttelte an der Tür, schwieg und sagte dann finster: »Das war der Soldat . . .«
Hinter der Tür ertönte ein triumphierendes Lachen.
»Laß mich heraus!« bat Gomosow laut.
»Was?« ertönte die Stimme des Soldaten.
»Herauslassen sollst du mich . . .«
»Morgen früh lassen wir dich heraus«, sagte der Soldat und entfernte sich.
»Ich habe Dienst, du Teufel!« schrie Gomosow ärgerlich und bittend zugleich.
»Den Dienst übernehme ich . . . Bleib du nur sitzen!«
Und der Soldat ging fort.
»Ach, dieser Hund!« flüsterte der Weichensteller ergrimmt. »Warte nur . . ., du kannst mich ja nicht einsperren . . ., es gibt ja einen Vorgesetzten . . . Was wirst du ihm sagen, wenn er dich fragt: ›Wo ist Gomosow?‹ Was wirst du ihm dann antworten . . .?«
»Am Ende hat der Stationsvorsteher es ihm selber befohlen«, sagte leise und hoffnungslos Arina.
»Der Vorsteher?« wiederholte Gomosow erschrocken. »Warum sollte er das?« Und nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, schrie er sie an:
»Du lügst!«
Sie antwortete mit einem tiefen Seufzer.
»Was wird nur daraus werden?« fragte der Weichensteller, während er sich auf einen Kübel neben der Tür setzte. »Welche Schande für mich! Und an allem bist nur du schuld, du teuflische Mißgeburt . . . Ach du!«
Er drohte mit der geballten Faust in die Richtung, aus der er ihren schweren Atem vernahm. Sie schwieg.
Feuchte Dunkelheit umgab sie – Dunkelheit, die erfüllt war mit dem Geruch von Sauerkohl und Schimmel und noch irgendeinem anderen scharfen, der in die Nase stieg. Durch die Türritzen drang Mondlicht. Draußen dröhnte ein abfahrender Güterzug.
»Was schweigst du, du Gespenst?« sagte Gomosow voller Zorn und Verachtung. »Was soll jetzt aus mir werden? Hast was Schönes angerichtet – und schweigst! Denk nach, du Teufel, was sollen wir jetzt anfangen? Wo soll ich mich vor Scham verbergen? Ach, du mein Gott! Warum mußte ich mich auch mit so einer einlassen!«
»Ich werde um Verzeihung bitten«, erklärte Arina mit leiser Stimme.
»Nun, und?«
»Vielleicht verzeihen Sie . . .«
»Was habe ich davon? Wenn sie dir auch verzeihen, an mir bleibt es doch hängen, oder nicht? Werden sie denn nicht über mich lachen?«
Er schwieg und begann sie dann aufs neue mit Vorwürfen und Schimpfworten zu überhäufen. Aber die Zeit verging mit grausamer Langsamkeit. Endlich bat die Frau mit bebender Stimme: »Verzeih mir, Timofej Petrowitsch!«
»Mit einem Zaunpfahl über den Schädel müßte man dir verzeihen!«
Und wieder trat düsteres, niederdrückendes Schweigen ein, voll dumpfen Schmerzes für zwei in der Finsternis eingeschlossene Menschen.
»Mein Gott, wenn es doch bald hell würde!« klagte wehmütig Arina.
»Schweig du . . ., sonst werde ich dir heimleuchten!« drohte ihr Gomosow und begann abermals mit schweren Vorwürfen. Dann folgte wieder die Folter der Stille und des Schweigens. Und die Zeit dehnte sich grausam, je näher die Dämmerung schien, als ob jede Minute zögerte zu schwinden, um sich an der lächerlichen Lage dieser beiden Menschen zu ergötzen.
Gomosow schlief zuletzt ein und wurde durch den Hahn geweckt, der neben dem Keller krähte.
»He, du Hexe! Schläfst du?« fragte er dumpf.
»Nein«, antwortete Arina mit einem schweren Seufzer.
»Schlaf lieber«, schlug der Weichensteller ihr ironisch vor. »Ach du . . .«
»Timofej Petrowitsch«, rief Arina fast wimmernd, »sei nicht böse auf mich! Hab doch Mitleid mit mir! Um Christi willen bitte ich dich – habe Mitleid! Ich bin doch allein, ganz allein und einsam! Und du hast mir doch . . ., du mein Lieber . . ., du hast mir doch . . .«
»Heul nicht – mach dich vor den Menschen nicht lächerlich«, unterbrach Gomosow streng das hysterische Flüstern der Frau, das ihn etwas weicher gestimmt hatte. »Schweig schon . . . wenn wir nun einmal so blöd . . .«
Und wieder begannen sie stumm zu warten, Minute um Minute. Doch die Minuten vergingen und brachten ihnen nichts. Endlich drangen Sonnenstrahlen durch die Türritzen und durchschnitten mit glänzenden Fäden das Dunkel im Keller. Bald wurden Schritte in der Nähe vernehmbar. Jemand trat an die Tür, stand eine Weile da und entfernte sich wieder.
»Quälgeister!« brüllte Gomosow und spuckte aus.
Abermals begann das Warten, wortloses, angespanntes Warten.
»Mein Gott . . ., erbarme dich . . .«, flüsterte Arina.
Dann war es, als ob jemand leise an den Keller heranschlich . . . Das Schloß klirrte, und die strenge Stimme des Vorstehers rief: »Gomosow, nimm Arina an die Hand und komm heraus – nun, schnell!«
»Komm!« sagte Gomosow halblaut. Arina trat zu ihm und senkte den Kopf.
Die Tür wurde geöffnet, vor ihnen stand der Stationsvorsteher. Er verneigte sich und sagte: »Gratuliere zur gesetzlichen Eheschließung! Wenn ich bitten darf! Musik!«
Gomosow schritt über die Schwelle und blieb betäubt vom Ausbruch eines unsinnigen Lärms stehen. Hinter der Tür standen Luka, Jagodka und Nikolai Petrowitsch.
Luka schlug mit der Faust auf einen Eimer und grölte mit meckerndem Tenor; der Soldat blies auf seinem Signalhorn, und Nikolai Petrowitsch fuchtelte mit dem Arm in der Luft herum, blies die Backen auf und ahmte eine Trompete nach: »Wumtata, wumtata!«
Der Eimer klirrte, das Signalhorn heulte und brüllte. Matwej Jegorowitsch hielt sich vor Lachen die Seiten. Auch sein Gehilfe lachte beim Anblick Gomosows, der ganz verwirrt, mit grauem Gesicht und verlegenem Lächeln auf den zitternden Lippen vor ihnen stand . . . Hinter ihm Arina, unbeweglich, wie versteinert und mit tief auf die Brust gesenktem Kopf.
»Süße Worte sagt Orina
Ihrem Liebsten Timofej!«
sang Luka und schnitt Gomosow widerliche Grimassen. Der Soldat näherte sich Gomosow, setzte ihm sein Horn ans Ohr und blies und blies.
»Nun geht nun reich ihr den Arm!« schrie der Stationsvorsteher und lachte sich halbtot. Auf der Treppe saß seine Frau, schwankte von einer Seite auf die andere und kreischte: »Motja . . ., genug . . . Ach! Ich sterbe!«
»Für das süße Widersehn
Will ich gerne leiden!«
sang Nikolai Petrowitsch dicht unter Gomosows Nase.
»Ein Hurra den Neuvermählten!« kommandierte Matwej Jegorowitsch, als Gomosow vorwärtsschritt. Und alle vier brüllten einmütig hurra, wobei der Soldat mit seinem Baß aus vollem Halse schrie.
Arina ging hinter Gomosow her, den Kopf erhoben, mit offenem Mund, während ihre Arme schlaff herabhingen. Ihre Augen blickten dumpf geradeaus, ohne zu sehen.
»Motja, befiehl ihnen, sich zu küssen! Hahahha!«
»Küßt euch!« schrie Nikolai Petrowitsch, und Matwej Jegorowitsch mußte sich an den Baum lehnen, da er sich vor Lachen nicht mehr auf den Füßen halten konnte. Und der Eimer dröhnte, daß Signalhorn schmetterte, heulte und höhnte immer weiter, während Luka tänzelnd sang:
»Ach, Orina, ach, Orina,
Hast 'nen guten Brei gekocht!«
Und Nikolai Petrowitsch trompetete: »Wumtata, wumtata!«
Gomosow ging zum Arbeiterhaus hinüber und verschwand in der Tür. Arina blieb von den besessenen Menschen umgeben auf dem Hof zurück. Sie brüllten, lachten, pfiffen ihr in die Ohren und sprangen in einem Anfall von grenzenloser Ausgelassenheit um sie herum. Sie stand mit unbeweglichem Gesicht, zerzaust, schmutzig, kläglich und lächerlich vor ihnen.
»Der junge Ehemann ist ausgerückt, und . . . sie ist geblieben«, schrie Matwej Jegorowitsch seiner Frau zu, indem er auf Arina zeigte, und krümmte sich vor Lachen.
Arina wandte den Kopf nach ihm um und ging am Arbeiterhaus vorbei – in die Steppe. Pfeifen, Schreien und Lachen begleiteten sie.
»Genug damit! Hört auf!« rief Sofja Iwanowna. »Gebt ihr Zeit, zu sich zu kommen! Das Mittagessen muß gekocht werden!«
Arina aber ging in die Steppe, wo jenseits der Bahnlinie ein Streifen mit borstigem Getreide stand.
Sie ging langsam wie ein Mensch, der tief in Gedanken versunken ist.
»Wie war das, wie war das?« fragte Matwej Jegorowitsch die anderen, die sich kleine Einzelheiten im Verhalten der »Neuvermählten« erzählten. Alle lachten. Nikolai Petrowitsch fand selbst hier Gelegenheit, einen weisen Spruch anzubringen.
»Lachen ist nicht strafbar,
Wenn das Leben heiter ist!«
sagte er zu Sofja Iwanowna und fügte nachdenklich hinzu: »Aber zuviel lachen ist schädlich!«
Gelacht wurde an diesem Tage auf der Station viel, aber schlecht gegessen, weil Arina nicht zum Kochen erschienen war und die Stationsvorsteherin selber das Mittagessen zubereiten mußte. Aber auch das schlechte Essen vermochte die gute Stimmung nicht zu stören. Gomosow verließ das Arbeiterhaus nicht, bevor er den Dienst antreten mußte, aber als er heraustrat, wurde er ins Büro des Vorstehers gerufen, wo ihn Nikolai Petrowitsch unter dem Gelächter von Matwej Jegorowitsch und Luka zu befragen begann, wie er seine Schöne »verführt« habe.
»Wirklich originell – das ist ein Sündenfall ersten Ranges«, sagte Nikolai Petrowitsch zum Vorsteher.
»Ein Sündenfall ist es schon«, erwiderte finster lächelnd der gesetzte Weichensteller. Er begriff, wenn er über Arina so sprach, daß man sich über sie lustig machte, würde man weniger über ihn selber lachen. Und er erzählte: »Anfangs hat sie mir immer mit den Augen gewinkt.«
»Mit den Augen gewinkt? Hahaha! Stellen Sie sich das doch nur vor, Nikolai Petrowitsch, die mit ihrer Fratze . . ., hat ihm zugeblinzelt . . ., allerliebst!«
»Also sie winkt mir, und ich sehe es und denke für mich: So siehst du aus! Und dann sagt sie zu mir: ›Wenn du willst, nähe ich dir deine Hemden!‹«
»Doch ›nicht aufs Nähen kam's hier an‹ . . .«, bemerkte Nikolai Petrowitsch und erklärte dem Vorsteher: »Wissen Sie, das ist aus Nekrassows ›Die Reiche und die Arme‹. Weiter, Timofej!«
Und Timofej fuhr fort zu erzählen, anfangs gezwungen, dann allmählich von seinen Lügen hingerissen, die, wie er sah, ihm von Nutzen waren.
Doch die Frau, von der er sprach, lag währenddessen in der Steppe. Sie war weit in das Getreidemeer hineingegangen, sank dort auf die Erde nieder und lag lange unbeweglich da. Als die Sonne ihren Rücken so heiß durchgeglüht hatte, daß sie ihre sengenden Strahlen nicht mehr ertragen konnte, drehte sie sich um und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, um den Himmel nicht sehen zu müssen, diesen allzu hellen Himmel mit der grell leuchtenden Sonne.
Die reifen Getreideähren umrauschten die Frau, die von ihrer Schande niedergeschmettert war, und unermüdlich, geschäftig zirpten unzählige Grillen. Es war heiß. Sie versuchte sich an Gebete zu erinnern und konnte es nicht: Vor ihren Augen drehten sich lachende Fratzen, und in ihren Ohren dröhnte Lukas Tenor, heulte das Horn und gellte Gelächter. Dies alles oder die Hitze beengte ihre Brust, sie öffnete ihre Jacke und setzte ihren Körper den Strahlen der Sonne aus in Erwartung, daß ihr das Atmen leichter würde. Und während die Sonne ihre Haut sengte, bohrte in ihrer Brust ein Schmerz wie Sodbrennen. Tief aufseufzend flüsterte sie von Zeit zu Zeit: »Herrgott . . . erbarm dich!«
Als Antwort hörte sie das trockene Rascheln der Ähren und das Zirpen der Grillen. Sie hob den Kopf über das wogende Getreide und sah das goldige Farbenspiel, den schwarzen Schornstein des Wasserturms in der Schlucht fern von der Station und die Dächer des Stationsgebäudes. Sonst war in der endlosen gelben Ebene, über der sich die blaue Himmelskuppel wölbte, nichts zu sehen, und es schien Arina, als wäre sie allein mitten auf der Erde, und niemand würde kommen, die Last der Einsamkeit mit ihr zu teilen – niemand, nie . . .
Am Abend hörte sie Stimmen rufen: »Ari‑ina! Arischka, zum Teufel auch!«
Die eine Stimme gehörte Luka, die andre dem Soldaten. Sie wollte die dritte hören, doch er rief sie nicht, da begann sie zu weinen, und ein Strom von Tränen rann über die pockennarbigen Wangen auf ihre Brust. So weinte sie und preßte ihre nackte Brust an die trockene warme Erde, den Schmerz zu betäuben, der sie immer heftiger quälte. Sie weinte und schwieg und unterdrückte ihre Seufzer, als ob sie fürchtete, jemand könnte sie hören und ihr das Weinen verbieten.
Als die Nacht hereinbrach, stand sie auf und ging langsam zur Station.
Am Stationsgebäude angekommen, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Kellerwand, blieb lange dort stehen und schaute auf die Steppe. Es kamen und gingen die Güterzüge; sie hörte, wie der Soldat den Schaffnern von ihrer Schande erzählte und wie sie lachten. Weit in die öde Steppe, wo kaum hörbar die Zieselmäuse pfiffen, wurde dieses Lachen hinausgetragen.
»Herr, erbarme dich . . .«, seufzte die Frau und drückte sich dicht an die Wand. Doch diese Seufzer erleichterten die Last nicht, die ihr Herz beschwerte.
Gegen Morgen schlich sie sich vorsichtig auf den Boden des Stationsgebäudes und erhängte sich dort mit der Leine, die sie zum Wäschetrocknen benutzt hatte.
Durch den Verwesungsgeruch aufmerksam geworden, fand man Arina nach zwei Tagen. Erst erschraken alle, dann begannen sie zu erörtern, wer an dieser Geschichte schuld sei. Nikolai Petrowitsch bewies unwiderleglich, daß es Gomosow sei. Da gab der Stationsvorsteher dem Weichensteller eins in die Fresse und befahl ihm unter Drohungen, zu schweigen.
Die Behörden erschienen, und eine Untersuchung wurde durchgeführt. Es stellte sich heraus, daß Arina an Melancholie gelitten hatte . . . Die Arbeiter des Bahnmeisters erhielten den Auftrag, sie in die Steppe zu bringen und dort zu begraben. Als das ausgeführt war, herrschte erneut Ruhe und Ordnung auf der Station.
Und wieder begannen ihre Bewohner täglich vier Minuten lang zu leben und vergingen vor Langerweile und Einsamkeit, vor Müßiggang und Hitze, und mit Neid verfolgten ihre Augen die Züge, die an ihnen vorüberflogen.
Im Winter aber, wenn heulend und tobend die Schneestürme durch die Steppe brausen und unter wildem Tosen die kleine Station bedecken, ist das Leben ihrer Bewohner noch langweiliger.