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Im Winter gab es im Messegelände fast keine Arbeit; ich übte zu Hause wie früher allerlei kleine Pflichten aus; sie nahmen den ganzen Tag in Anspruch, ließen den Abend jedoch frei; ich las der Herrschaft aufs neue die mir nicht zusagenden Romane aus der »Flur« und dem »Moskauer Blättchen« vor, während ich mich nachts mit guten Büchern befaßte und Verse zu schreiben versuchte.
Eines Tages, als die Frauen zur Mitternachtsmesse gegangen waren und der Hausherr, weil er unpäßlich war, das Haus hütete, fragte er mich: »Wiktor macht sich darüber lustig, daß du angeblich Verse schreibst. Stimmt das, Peschkow? Lies mir doch mal was vor!«
Ich konnte seine Bitte nicht gut ablehnen und las ihm einige Gedichte vor; sie gefielen ihm offenbar nicht, aber immerhin sagte er: »Mach nur so weiter! Wer weiß, vielleicht wird noch ein Puschkin aus dir; hast du schon etwas von Puschkin gelesen?
Hält ein Hexlein Hochzeit eben?
Wird ein Kobold beigesetzt?
Zu seiner Zeit glaubte man noch an Hausgeister. Nun, er selbst wird wohl kaum an sie geglaubt, sondern einfach gescherzt haben! Jaaa, Verehrter«, meinte er gedehnt, »du hättest etwas lernen müssen, jetzt ist es für dich zu spät! Weiß der Teufel, was aus dir werden soll . . . Dein Heft halte recht gut versteckt, sonst fallen die Weiber über dich her und lachen dich aus . . . Die Weiber, mein Freund, treffen uns gern an einer empfindlichen Stelle . . .«
Er war seit einiger Zeit recht still und nachdenklich geworden, sah sich in einem fort unruhig um und erschrak bei jedem Klingelzeichen; manchmal versetzte ihn schon eine Kleinigkeit in krankhafte Erregung, er schrie alle an, rannte aus dem Hause und kam spät in der Nacht betrunken zurück . . . Man fühlte, daß etwas in seinem Leben geschehen war, von dem nur er allein wußte und das ihn im Innersten getroffen hatte – er lebte seither lustlos und unsicher, mehr aus Gewohnheit dahin.
Feiertags ging ich vom Mittagessen bis neun Uhr spazieren und saß abends in einer Schankwirtschaft in der Jamskaja-Straße; der Wirt, ein dicker und ewig schwitzender Mann, war ein leidenschaftlicher Liebhaber von Gesang, die Sänger fast aller Kirchenchöre wußten es und versammelten sich bei ihm; er bewirtete sie für ihre Lieder mit Wodka, Bier, Tee. Kirchensänger trinken gern und sind ein uninteressantes Volk; sie sangen lustlos, nur wegen der Bewirtung, und fast immer nur Geistliches; da aber manche frommen Trunkenbolde der Ansicht waren, daß Geistliches nicht in die Kneipe gehöre, bat der Wirt die Sänger in sein Zimmer, und ich konnte den Gesang nur durch die Tür hören. Nicht selten sangen in der Schankwirtschaft jedoch auch Bauern und Handwerker – der Wirt sah sich in der Stadt eigens nach Sängern um, fragte an Basartagen Bauern aus der Umgebung nach ihnen aus und lud sie zu sich ein.
Der Sänger setzte sich stets auf einen Stuhl neben den Schanktisch, am Wodkafäßchen – der Kopf zeichnete sich vor seinem Boden wie in einem runden Rahmen ab.
Besser als alle anderen – und immer besonders schöne Lieder – sang der kleine, dürre Sattler Kleschtschow, ein zerknitterter wie zerbeulter Mann mit rötlichen Haarbüscheln; die kleine Nase glänzte wie die eines Toten, die winzigen, schläfrigen Augen standen still.
Da schloß er sie manchmal, lehnte den Hinterkopf an den Boden des Fäßchens, wölbte die Brust vor und sprudelte mit leiser, aber alles bezwingender Tenorstimme los:
»Nebel sank herab aufs Feld, aufs ebene,
Er verhüllt die Straßen in die Ferne mir . . .«
Hier stand er auf, neigte sich, mit dem Rücken an den Schanktisch gelehnt, zurück und seufzte, das Gesicht zur Decke gewandt:
»Wohin wend ich mich, wohin,
Daß ich wieder auf der breiten Straße bin?«
Seine Stimme war nicht stark, aber unermüdlich; sie schwang wie eine silberne Saite im dumpfen Lärm der Schankwirtschaft, die traurigen Worte, Seufzer und Ausbrüche bezwangen jedermann – selbst die Betrunkenen horchten auf und starrten ernst und schweigend auf die Tischplatten. Mir drohte das Herz zu zerspringen, übervoll jenes mächtigen Gefühls, das gute Musik stets weckt, indem sie auf wunderbare Weise ans Innerste rührt.
In der Schankwirtschaft wird es still wie in einer Kirche, in der der Sänger der freundliche Geistliche ist. Er predigt nicht, er betet wirklich und ehrlich, aus tiefstem Herzen für das ganze Menschengeschlecht, gedenkt ehrlich und allen hörbar der Kümmernisse des armen Lebens. Von überall blicken ihn bärtige Männer an, nachdenklich zwinkern die kindlichen Augen in ihren tierischen Mienen; gelegentlich seufzt jemand, und das unterstreicht die triumphierende Macht des Liedes. In solchen Augenblicken scheint mir immer, daß alle Menschen ein falsches, erklügeltes Leben führen, während das wirkliche Leben so sein muß wie jetzt, wie hier!
In der Ecke sitzt die dickmäulige Händlerin Lyssucha, eine verkommene, schamlose Herumtreiberin; sie hat den Kopf zwischen die fetten Schultern gezogen und weint still vor sich hin – die frechen Augen schwimmen in Tränen. In der Nähe liegt mit der Brust auf dem Tisch der finstere Bassist Mitropolskij, ein langmähniger Bursche, der einem dispensierten Diakon ähnelt, mit riesigen Augen im trunkenen Gesicht; er starrt ins Wodkaglas, nimmt es vom Tisch, führt es an seine Lippen und setzt es behutsam und lautlos wieder ab – er mag aus irgendeinem Grunde nicht trinken.
Alle Besucher der Schankwirtschaft sind erstarrt, alle scheinen auf etwas längst Vergessenes zu horchen, das ihnen teuer und vertraut gewesen ist.
Wenn Kleschtschow sein Lied beendet hatte, setzte er sich bescheiden auf den Stuhl, der Wirt reichte ihm ein Glas Wodka und bemerkte mit zufriedenem Lächeln: »Nun, ja, natürlich wunderbar! Obwohl du eigentlich nicht singst, sondern eher erzählst; aber meisterhaft immerhin, da ist nichts einzuwenden. Dagegen kann man nichts sagen . . .«
Kleschtschow trinkt gelassen seinen Wodka, krächzt vorsichtig und entgegnet mit leiser Stimme: »Singen kann jeder, der Stimme hat, aber die Seele im Liede zeigen – das kann nur ich!«
»Schon gut, prahle mal nicht!«
»Wer keinen Grund dazu hat, der prahlt auch nicht«, erwidert der Sänger ebenso leise, aber schon starrköpfiger.
»Bist anmaßend, Kleschtschow!« ruft ärgerlich der Kneipenwirt aus.
»Höher, als meine Seele fliegt, erhebe ich mich nicht!«
In der Ecke aber dröhnt der finstere Bassist: »Was versteht ihr schon vom Gesang dieses mißgestalten Engels, ihr modriger Schimmel, ihr Gewürm!«
Er war immer anderer Meinung als alle, stritt sich mit allen, prangerte alle an und wurde fast jeden Feiertag unbarmherzig dafür verprügelt – von Kirchensängern und jedem, der Lust dazu hatte und prügeln konnte.
Der Wirt liebt Kletschtschows Lieder, kann aber den Sänger nicht leiden; er beschwert sich bei jedermann über ihn und ist offensichtlich bestrebt, den Sattler zu demütigen, sich über ihn lustig zu machen; das wissen sowohl die Stammgäste als auch Kleschtschow selbst.
»Ein guter Sänger, aber hochnäsig, man muß ihn in die Schranken weisen«, sagt der Wirt, und einige Gäste pflichten ihm bei.
»Es stimmt – der Bursche ist eingebildet!«
»Worauf denn eigentlich? Die Stimme hat er von Gott, sie ist nicht sein Verdienst. Ist sie denn überhaupt groß?« fährt eigensinnig der Schankwirt fort.
Das Publikum pflichtet ihm bei: »Richtig, es ist nicht sosehr die Stimme, es ist das Können.«
Eines Tages, als der Sänger aus seiner Entrücktheit zurückgefunden hatte und gegangen war, versuchte der Wirt Lyssucha zu überreden: »Marja Jewdokimowna, du solltest dich an Kleschtschow heranmachen und ihn ein bißchen zappeln lassen! Was macht es dir schon aus?«
»Ja – wenn ich jünger wäre«, entgegnete lächelnd die Händlerin.
Der Wirt fiel ihr laut und eifrig ins Wort: »Was die Jungen schon können! Nimm du es doch in die Hand! Wirst sehen, wie der um dich herumscharwenzelt! Was meinst du, wie er erst singen wird, wenn er nach dir verschmachtet! Nimm's in die Hand, Jewdokimowna, ich würde mich dankbar erweisen! Machst du's?«
Sie lehnte ab. Groß und üppig, senkte sie den Blick, nestelte an den Fransen ihres Brusttuches und wiederholte träge und eintönig: »Das muß eine Junge tun. Wäre ich jung – ich würde mich nicht erst besinnen . . .«
Der Wirt versuchte fast immer, Kleschtschow betrunken zu machen, doch der sang zwei oder drei Lieder, trank nach jedem ein Glas Wodka, umwickelte seinen Hals sorgsam mit einem Schal, zog die Mütze tief über den zottigen Kopf und ging.
Nicht selten stellte der Wirt Kleschtschow einen Rivalen gegenüber; der Sattler sang sein Lied, worauf der Wirt ihn lobte und aufgeregt erklärte: »Wir haben, beiläufig gesagt, noch einen Sänger unter uns! Also, bitte schön, kommen Sie, zeigen Sie, was Sie können!«
Der Sänger hatte manchmal eine schöne Stimme, ich kann mich jedoch nicht erinnern, daß irgendeiner von Kleschtschows Rivalen so schlicht und innig gesungen hätte wie der kleine, unansehnliche Sattler.
»Hm . . . ja«, meinte mit leisem Bedauern der Wirt, »das ist natürlich gut! Er hat vor allem Stimme, was allerdings die Seele betrifft . . .«
Das Publikum hänselte ihn: »Nein, der Sattler ist offenbar nicht zu schlagen!«
Kleschtschow blickte unter den rötlichen, buschigen Brauen hervor, sah alle an und meinte gelassen und höflich zum Wirt: »Das alles ist vergebliche Liebesmüh! Sie finden keinen wie mich, denn meine Gabe ist von Gott.«
»Wir kommen alle von Gott!«
»Sie ruinieren sich mit den Schnäpsen, aber sie finden keinen . . .«
Der Wirt wurde dunkelrot und murmelte: »Kann man nicht wissen, kann man nicht wissen.«
Kleschtschow fuhr hartnäckig fort: »Ich möchte auch darauf aufmerksam machen, daß Singen nicht etwa ein Hahnenkampf ist.«
»Weiß ich doch! Was setzt du mir eigentlich zu!«
»Ich setze Ihnen nicht zu, ich will nur beweisen: Wenn Singen ein Spaß ist, dann kommt es vom Teufel!«
»Genug jetzt! Sing lieber noch etwas.«
»Singen kann ich immer, und sei's im Schlaf«, willigt Kleschtschow ein, hüstelt sich vorsichtig frei und beginnt.
Und alles Kleinliche, der ganze Plunder von Worten und Absichten, alles Abgeschmackte, alles, was Kneipe war, zerging auf wunderbare Weise zu Rauch; alle streifte der Hauch eines anderen Lebens – nachdenklich und rein, voller Liebe und Schwermut.
Ich beneidete diesen Menschen; ich beneidete ihn heftig um seine Gabe, um seine Macht über die anderen – er wußte diese Macht so wunderbar zu gebrauchen! Ich hätte mich gern mit dem Sattler bekannt gemacht, gern lange mit ihm gesprochen, konnte mich aber nicht entschließen, an ihn heranzutreten – Kleschtschow blickte alle mit seinen farblosen Augen so sonderbar an, als ob er niemanden sähe. Auch hatte er etwas an sich, das mir unangenehm war, mich hinderte, ihn liebzugewinnen – ich wünschte mir, diesen Menschen auch dann lieben zu können, wenn er nicht sang. Er wirkte unangenehm, wenn er die Mütze herunterzog wie ein alter Mann und den Hals möglichst auffällig mit einem roten gestrickten Schal umwickelte, von dem er gelegentlich sagte: »Den hat mir ein Mädel gestrickt, meine Liebste . . .«
Wenn er nicht sang, blies er sich wichtigtuerisch auf, rieb mit dem Finger die leblose, erfrorene Nase und antwortete, wenn man ihn etwas fragte, einsilbig und lustlos. Als ich mich einmal zu ihm setzte und etwas wissen wollte, sagte er, ohne mich eines Blickes zu würdigen: »Hau ab, Bürschlein!«
Viel besser gefiel mir der Bassist Mitropolskij; er betrat die Schankwirtschaft, strebte mit dem Gang eines Mannes, der eine schwere Last trägt, in eine Ecke, rückte mit dem Fuß einen Stuhl zurecht und setzte sich – die Ellenbogen ruhten auf dem Tisch, der große, zottige Kopf lag auf den Händen. Er trank schweigend zwei oder drei Glas Schnaps und krächzte laut; alle fuhren zusammen und wandten sich zu ihm um, während er, das Kinn auf die Hände gestützt, die Leute herausfordernd anblickte; die ungekämmte Mähne hing wirr in sein aufgedunsenes, braunes Gesicht.
»Was starrt ihr mich an? Was gibt es da zu sehen?« fuhr er sie polternd an.
Manchmal entgegnete man ihm: »Den Waldschrat!«
Es gab Abende, an denen er schweigend trank und schweigend, mit schweren, schlurfenden Schritten davonging, aber mehrmals hörte ich auch, wie er die Leute im Tone eines Propheten anprangerte: »Ich bin meines Gottes unbestechlicher Diener und klage euch an gleich Jesaja! Wehe der Stadt Ariel, in der Abscheuliche und Gauner wohnen und allerlei widerwärtiger Abschaum im Schmutze seiner gemeinen Begierden! Wehe den Fittichen der Erde, denn sie tragen schändliche kleine Menschlein über die Bahnen des Alls; ich meine euch, ihr Säufer und Fresser, euch Abschaum der Welt, zahllos, wie ihr Verfluchten seid – die Erde wird euch nicht aufnehmen in ihren Schoß!«
Seine Stimme dröhnte, daß die Fensterscheiben klirrten – das gefiel den Leuten sehr gut, und man spendete dem Propheten Beifall: »Der gibt es uns, der zottige Hund!«
Mit ihm Bekanntschaft zu machen war leicht – man brauchte ihn nur einzuladen; er bestellte eine Karaffe Wodka und eine Portion Rindsleber mit Paprika, sein Lieblingsgericht; es verbrannte einem den Mund und sämtliche Eingeweide. Als ich ihn fragte, welche Bücher man lesen solle, fuhr er mich grimmig an: »Wozu lesen?«
Dann brummte er, durch meine Verwirrung besänftigt: »Hast du den Prediger Salomo gelesen?«
»Ja.«
»Den lies! Und weiter nichts. Darin ist alle Weisheit der Welt, nur Hammel im Quadrat verstehen sie nicht – will sagen, niemand . . . Wer bist du eigentlich – singst du?«
»Nein.«
»Warum nicht? Man muß singen! Es ist die albernste Beschäftigung, die es gibt.«
Er wurde vom Nachbartisch herüber gefragt: »Aber du selber zum Beispiel – singst doch?«
»Ich ja, ich bin ein Tagedieb! Wieso, was hast du?«
»Nichts.«
»Das ist nicht neu. Man weiß, daß du nichts in deinem Schädel hast und auch nie haben wirst. Amen!«
In diesem Ton unterhielt er sich mit allen und selbstverständlich auch mit mir; immerhin behandelte er mich nach zwei, drei Einladungen schon milder und meinte eines Tages sogar mit einem Anflug des Erstaunens: »Da sehe ich dich an und komme nicht dahinter, wen oder was du darstellst und wozu du da bist. Hol dich im übrigen der Teufel!«
Kleschtschow gegenüber verhielt er sich unverständlich; seinen Liedern lauschte er mit offenbarem Genuß, gelegentlich sogar mit einem freundlichen Lächeln, machte sich mit ihm jedoch nicht bekannt und urteilte grob und geringschätzig über ihn: »Er ist ein Dummkopf! Er versteht zwar zu atmen und weiß auch, wovon er singt, ist aber trotzdem ein Esel!«
»Weshalb denn?«
»So, von Natur.«
Ich hätte gern mit ihm gesprochen, solange er einmal nüchtern war, aber dann muhte er nur und blickte alles mit trüben, gelangweilten Augen an. Irgendwoher erfuhr ich, daß dieser rettungslos dem Trunke verfallene Mann an der Kasaner Geistlichen Akademie studiert hatte und Bischof sein könnte – ich glaubte es nicht. Doch eines Tages erwähnte ich, als ich von mir erzählte, den Namen des Bischofs Chrisanf; der Bassist schlenkerte mit dem Kopf und sagte: »Chrisanf? Den kenne ich. Mein Lehrer und Gönner. Aus Kasan, ich erinnere mich. Chrisanf bedeutet – Blume von goldener Farbe, wie es ganz richtig bei Pamwa Berynda heißt. Ja, eine Blume von goldener Farbe, das war er, der Chrisanf!«
»Und wer ist Pamwa Berynda?« erkundigte ich mich, doch Mitropolskij schnitt mir die Frage ab: »Das geht dich nichts an.«
Zu Hause notierte ich in meinem Heft: »Unbedingt Pamwa Berynda lesen« – mir schien, ich würde eben bei diesem Berynda die Antworten auf viele Fragen, die mich beunruhigten, finden.
Der Kirchensänger führte gern mir unbekannte Namen im Munde und gebrauchte allerlei seltsame Wendungen; das ärgerte mich sehr.
»Das Leben ist keine Anisja!« hörte ich ihn gelegentlich sagen.
»Wer ist Anisja?«
»Die ist ganz nützlich«, entgegnete er und weidete sich an meinem Befremden.
Diese Redensarten und die Tatsache, daß er an der Akademie studiert hatte, ließen mich glauben, er müsse allerlei wissen, und ich empfand es als äußerst ärgerlich, daß er von nichts sprechen wollte; tat er es doch, dann immer sehr unklar. Aber vielleicht verstand ich nur nicht, ihn richtig zu fragen?
Immerhin blieb einiges von ihm in meiner Seele zurück; ich ergötzte mich an der trunkenen Kühnheit der Anklagen, mit denen er den Propheten Jesaja nachahmte: »O Aussatz und Pestilenz der Erde!« wetterte er. »Die Schlechtesten unter euch stehen in Ehren, während die Besten verfolget sind; doch es wird kommen der schreckliche Tag, da ihr es bereuen werdet, aber zu spät, zu spät!«
Ich erinnerte mich, während ich seinem Gebrüll zuhörte, an »Gar nicht übel«, an die so ärgerlich und hilflos zugrunde gegangene Wäscherin Natalja, an die in einer Wolke von schmutzigem Klatsch dahinlebende Königin Margot – es gab schon mancherlei, woran ich mich erinnern konnte . . .
Meine kurze Bekanntschaft mit diesem Mann nahm ein kurioses Ende.
Ich traf ihn im Frühjahr draußen vor der Stadt, unweit der Feldlager; er kam einsam und aufgedunsen daher und wiegte den Kopf wie ein Kamel.
»Du gehst spazieren?« fragte er heiser. »Ich auch. Gehn wir zusammen! Ich, mein Freund, bin krank, jawohl . . .«
Wir legten schweigend einige Schritte zurück und erblickten plötzlich einen Mann in einer Grube, die von einer Erdhütte herrührte; er saß seitlich übergeneigt auf dem Grubengrund und lehnte mit der Schulter am Erdhang; der Mantel war auf der einen Seite bis übers Ohr hinaufgerutscht, als hätte er ihn ausziehen wollen, es aber nicht geschafft.
»Ein Betrunkener«, entschied der Kirchensänger und blieb stehen. Doch unter der Hand des Mannes lag auf dem jungen Grase ein großer Revolver, unweit davon seine Mütze, daneben eine gerade angebrochene Flasche Wodka – ihr leerer Hals versank zwischen den grünen Hälmchen. Das Gesicht des Mannes war schamhaft unter dem Mantel versteckt.
Wir standen wohl eine Minute schweigend da, dann spreizte Mitropolskij die Beine und sagte: »Er hat sich erschossen.«
Ich hatte sofort begriffen: Der Mann war nicht betrunken, sondern tot, das wirkte jedoch so überraschend, daß ich es einfach nicht glauben wollte. Ich erinnere mich, beim Anblick des blauen Ohrs und des großen, glatten Schädels, der unter dem Mantel hervorkam, empfand ich weder Schrecken noch Mitleid – es schien so unwahrscheinlich, daß sich der Mann an diesem freundlichen Frühlingstag erschossen haben sollte.
Der Bassist rieb sich, als fröre er, kräftig die unrasierten Wangen und krächzte: »Nicht mehr ganz jung. Vielleicht ist ihm die Frau davongelaufen, oder er hat fremdes Geld durchgebracht . . .«
Er schickte mich in die Stadt nach der Polizei; er selbst setzte sich auf den Grubenrand, ließ die Beine hinunterhängen und wickelte sich fröstelnd in seinen abgetragenen Mantel. Ich benachrichtigte einen Polizisten und kam rasch zurückgelaufen, doch der Bassist hatte inzwischen den Wodka des Toten ausgetrunken und schwenkte zur Begrüßung die leere Flasche.
»Das hier hat ihn zugrunde gerichtet!« dröhnte er und hieb die Flasche gegen die Erde; sie sprang in tausend Scherben.
Gleich nach mir kam auch der Polizist angelaufen; er warf einen Blick in die Grube, nahm die Mütze ab, schlug zögernd ein Kreuz und fragte den Kirchensänger: »Wer bist du?«
»Das geht dich nichts an.«
Der Polizist dachte nach und fragte – schon höflicher: »Wie ist denn das zu verstehen – da liegt ein Toter, und Sie sind betrunken?«
»Ich bin seit zwanzig Jahren betrunken!« entgegnete der Kirchensänger stolz und schlug sich an die Brust.
Ich war überzeugt, man werde ihn verhaften, weil er den Wodka ausgetrunken hatte. Aus der Stadt kamen Menschen gerannt; in einer Droschke fuhr der gestrenge Revieraufseher vor, stieg in die Grube, bog den Mantel des Selbstmörders zurück und warf einen Blick auf sein Gesicht.
»Wer hat ihn als erster bemerkt?«
»Ich«, meldete sich Mitropolskij.
Der Revieraufseher sah ihn kurz an und sagte unheilverkündend gedehnt: »Ach was! Guten Tag, mein Herr!«
Wohl anderthalb Dutzend Neugierige hatten sich eingefunden; außer Atem und aufgeregt, spähten sie in die Grube und gingen um sie herum; jemand rief: »Das ist ein Beamter aus unserer Straße, ich kenne ihn!«
Der Bassist stand schwankend vor dem Revieraufseher, stritt sich, die Mütze in der Hand, mit ihm herum und stieß dann und wann ein dumpfes, unverständliches Wort hervor; schließlich stukte ihn der Revieraufseher vor die Brust, er wankte und setzte sich hin; der Polizist zog ohne Eile einen dünnen Strick aus der Tasche und band dem Kirchensänger die Arme, die dieser, gewohnt – gekonnt, schicksalsergeben auf dem Rücken hielt, während der Revieraufseher die Neugierigen anschrie: »Fort mit euch! Pack . . .«
Dann kam noch ein älterer Polizist gelaufen, mit nassen, geröteten Augen und vor Müdigkeit aufgerissenem Mund, ergriff das Ende des Stricks, mit dem der Bassist gefesselt war, und führte ihn ohne Aufhebens in die Stadt.
Auch ich verließ das Feld; ich war bedrückt; in meiner Erinnerung klangen gleich einem hallenden Echo die strafenden Worte nach: »Wehe der Stadt Ariel!«
Vor meinen Augen aber stand ein peinliches Bild: Der Polizist zieht ohne Eile aus seiner Manteltasche einen dünnen Strick hervor, während der furchterregende Prophet die roten, behaarten Hände schicksalsergeben auf dem Rücken hält und so geübt, gewandt die Handgelenke kreuzt.
Wie ich bald darauf erfuhr, wurde der Prophet auf dem Etappenwege aus der Stadt abgeschoben. Nach ihm verschwand auch Kleschtschow – er hatte vorteilhaft geheiratet und war in den Kreis übergesiedelt, wo er eine Sattlerwerkstatt eröffnete.
Ich hatte die Lieder des Sattlers so eifrig vor meinem Prinzipal in den Himmel gehoben, daß er mir eines Tages sagte: »Man müßte hingehen und sich das anhören . . .«
Und schließlich sitzt er mir gegenüber am Tisch, die Brauen erstaunt gewölbt, die Augen weit aufgerissen.
Auf dem Weg zur Gastwirtschaft hatte er sich über mich lustig gemacht und spöttelte auch noch fort, nachdem wir eingetreten waren – über mich, das Publikum, die stickige Luft. Als der Sattler zu singen begann, setzte er ein hämisches Lächeln auf und schenkte Bier in sein Glas, füllte es aber nur halb, hielt inne und sagte: »Oho . . . Teufel auch!«
Seine Hand zitterte, er stellte die Flasche vorsichtig auf den Tisch und horchte gespannt hin.
»Ja, mein Freund«, sagte er und seufzte, nachdem Kleschtschow geendet hatte, »in der Tat – der kann schon singen, hol ihn der Teufel! Da wird einem geradezu warm . . .«
Der Sattler warf den Kopf zurück, blickte zur Decke und sang aufs neue:
»Auf der Straße kehrte unterm Himmelszelt
Aus dem reichen Dorf ein Mädchen heim durchs Feld . . .«
»Er singt« murmelte der Wirt, wiegte den Kopf und lächelte. Kleschtschow aber klagte wie eine Hirtenflöte:
»Da entgegnet ihm das Mägdelein:
Ich bin Waise, niemand braucht die Schönheit mein . . .«
»Schön«, flüsterte der Wirt und zwinkerte mit den geröteten Augen, »pfui Teufel . . . ist das schön!«
Ich blickte ihn an und freute mich, während die schluchzenden Worte des Liedes das Lärmen der Schankwirtschaft überwanden und immer kraftvoller, schöner, inniger klangen:
»Ungesellig ist es auf dem Dorf bei uns,
Niemand wirbt um eines armen Mädels Gunst,
Ich bin arm, kann mich nicht richtig kleiden,
Was ein rechter Bursche ist, mag mich nicht leiden . . .
Zwar will mich ein Witwer – er braucht eine Magd,
Doch ich will kein Schicksal, das man nur beklagt!«
Mein Prinzipal vergaß alle Scham und brach in Weinen aus, saß da, neigte den Kopf und schnaufte durch seine Adlernase, und die Tränen tropften ihm auf die Knie.
Nach dem dritten Lied erklärte er, erregt und wie zerknittert: »Ich kann hier nicht länger sitzen – ich ersticke . . . diese Gerüche . . . hol sie der Teufel! Komm, fahren wir nach Hause!«
Aber draußen, auf der Straße, schlug er mir vor: »Los, Peschkow, wir gehen in ein Gasthaus, nehmen etwas zu uns . . . und damit fertig . . . Ich will nicht nach Hause!«
Er stieg, ohne zu feilschen, in einen Mietschlitten und sprach während der ganzen Fahrt kein Wort, begann aber im Gasthaus, wo wir an einem Ecktisch Platz fanden, sogleich zu reden – gedämpft und unter scheuem Umblicken, verärgert und bedrückt: »Hat mich ganz schön durcheinandergebracht, dieser Ziegenbock . . . in solche Wehmut versetzt . . . Nein, du zum Beispiel liest doch, denkst nach – so sage mir, wie zum Teufel ist so etwas möglich? Da lebt man und lebt, hat vierzig Jahre hinter sich gebracht, hat Frau und Kinder, doch keinen, mit dem man reden könnte! Wie gern würde man manchmal sein Herz ausschütten, mit jemand reden aber niemand ist da! Spricht man mit ihr, mit seiner Frau, versteht sie einen nicht . . . Was ist sie mir überhaupt? Da sind die Kinder, nun ja, sie hat die Wirtschaft, sie hat zu tun! Im Herzen ist sie mir eine Fremde. Meine Frau war mir freund bis zum ersten Kind . . . wie das so üblich ist. Und überhaupt ist mit ihr . . . nun ja, du siehst es ja selber . . . nichts anzufangen . . . ein Körper ohne Seele, hol sie alle der Teufel! Traurig genug, mein Freund . . .«
Er kippte hastig das kalte, bittere Bier hinunter, schwieg eine Weile, zwirbelte die langen Haare hoch und begann aufs neue: »Überhaupt, mein Lieber, sind die Menschen ein einziges Pack! Da redest du zum Beispiel mit diesen Bauernkerlen über dies und das . . . ich verstehe ja, es gibt sehr viel Verkehrtes, es gibt viel Niedertracht – stimmt schon, mein Freund . . . Überall Diebe! Aber glaubst du vielleicht, das, was du sagst; kommt bei ihnen an? Keine Spur! Bestimmt nicht! Sie – der Pjotr, der Ossip – sind Spitzbuben! Sie erzählen mir alles wieder – wie du dich über mich äußerst und überhaupt . . . Was sagst du nun, Verehrter?«
Ich war verblüfft und schwieg.
»Da siehst du's!« sagte er spöttisch. »Du hattest schon ganz recht, als du nach Persien wolltest, dort kann man die Leute wenigstens nicht verstehen – wegen der fremden Sprache! In seiner eigenen Sprache hört man nichts als Gemeinheiten!«
»Ossip redet über mich?« fragte ich.
»Aber natürlich! Was dachtest du denn? Er schwatzt am meisten von allen. Der, mein Freund, ist nicht so leicht zu durchschauen . . . Nein, Peschkow, da hilft kein Reden! Die Wahrheit, das Recht? Was zum Teufel fange ich damit an? Das ist dasselbe wie Schnee im Herbst – er fällt in den Schmutz und schmilzt. Und der Schmutz nimmt nur noch zu. Es ist schon besser, du schweigst . . .«
Er trank ein Glas Bier nach dem anderen und fuhr, ohne berauscht zu werden, immer rascher, immer ärgerlicher fort: »Das Sprichwort sagt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ach, Freund, wie traurig doch alles ist! . . . Er hat schon ganz richtig gesungen: ›Ungesellig ist es auf dem Dorf bei uns.‹ Ja, der Mensch ist einsam . . .«
Er sah sich nach allen Seiten um, senkte die Stimme und sagte: »Ich hatte mir da eine Herzensfreundin erkoren – ich lernte eine Frau kennen, sozusagen verwitwet, ihr Mann war wegen Falschmünzerei zu Sibirien verurteilt – er saß hier, im Gefängnis. Ich lerne sie also kennen . . . sie hat keine Kopeke und ist, nun ja, mit einem Wort . . . ich werde durch eine Kupplerin mit ihr bekannt . . . Ich schaue hin – was für ein lieber Mensch! Eine Schönheit, weißt du, und jung . . . geradezu wunderbar! Hin, her . . . und schließlich sage ich zu ihr: ›Wie ist denn das, dein Mann ist ein Gauner, und auch du führst nicht gerade ein ehrliches Leben – wieso hast du dir vorgenommen, ihm nach Sibirien zu folgen?‹ Sie wollte, weißt du, in die Zwangsansiedlung mit ihm, jawohl . . . Da sagt sie doch darauf zu mir: ›Wie es auch sei, ich liebe ihn, für mich ist er der Beste! Vielleicht hat er nur meinetwegen die Sünde auf sich genommen? Während ich um seinetwillen mit Ihnen sündige – er braucht eben Geld, er ist als Edelmann ein gutes Leben gewöhnt. Wäre ich‹, sagt sie, ›allein, ich würde ehrlich leben. Auch Sie sind ein guter Mensch und gefallen mir sehr, aber bitte sprechen Sie nicht mehr darüber . . .‹ Teufel auch! Ich gab ihr alles, was ich bei mir hatte – über achtzig Rubel –, und sagte: ›Entschuldigen Sie, ich kann nicht mehr mit Ihnen zusammen sein, ich kann nicht!‹ Ich ging, ja, und nun . . .«
Er verstummte, bekam plötzlich einen Rausch, sank in sich zusammen und murmelte: »Sechsmal war ich bei ihr . . . Du kannst dir nicht vorstellen, was das ist! Ich habe vielleicht noch sechsmal vor ihrer Wohnungstür gestanden . . . ich konnte mich nicht entschließen, hineinzugehen! Jetzt ist sie fort . . .«
Er legte die Hände auf den Tisch, bewegte leise die Finger und flüsterte: »Behüte Gott, daß ich sie noch einmal sehe . . . behüte Gott! Dann wäre alles zum Teufel! Komm . . . gehen wir nach Hause!«
Wir gingen; er schwankte und brummte vor sich hin: »So ist das alles, Verehrter . . .«
Ich war über die Geschichte, die er erzählt hatte, nicht weiter erstaunt – schon lange glaubte ich, ihm werde etwas Ungewöhnliches begegnen.
Sehr niedergedrückt jedoch war ich von allem, was er über das Leben, besonders über Ossip, gesagt hatte.