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Auf den Feldern schmolz der Schnee, am Himmel schmolzen die Winterwolken und gingen als Graupeln oder Regen auf die Erde nieder; immer langsamer legte die Sonne ihre tägliche Bahn zurück, die Luft wurde wärmer, es schien, die Heiterkeit des Frühlings sei schon gekommen, verstecke sich nur zum Spaß irgendwo draußen auf der Flur und werde bald die Stadt überschwemmen. Auf den Straßen – braunroter Schlamm, neben den Bürgersteigen – murmelnde Bäche, auf den abgetauten Stellen des Arrestantskaja-Platzes – fröhlich hüpfende Spatzen. Eine spatzenhafte Geschäftigkeit bemerkt man auch bei den Menschen. Fast ununterbrochen schwingt über dem Rauschen des Frühlings von morgens bis in den Abend fastenzeitlicher Glockenklang und wiegt das Herz mit weichen Stößen – in diesem Klang verbirgt sich, wie in den Reden eines alten Mannes, eine Art Gekränktheit, die Glocken scheinen mit kalter Mutlosigkeit zu sagen: Das gab's, das gab's einmal, das gaaab's . . .
An meinem Namenstage schenkte mir die Werkstatt ein kleines, schön gemaltes Heiligenbild – den »Gottesmann« Alexij, und Shicharew hielt eine lange, eindrucksvolle Rede, an die ich mich gut erinnere.
»Wer bist du schon?« rief er aus, spielte mit den Fingern und hob die Brauen. »Weiter nichts als ein Bürschlein, eine Waise und ganze dreizehn Jahre alt – ich bin fast viermal so alt wie du, aber« ich lobe dich, billige deine Art, weil du dich zu allem ehrlich und grade stellst! Das tu auch weiter, das ist gut!«
Er sprach von den Knechten Gottes und von Gottes Menschen, doch der Unterschied zwischen beiden blieb mir unverständlich und war wohl auch ihm nicht recht klar. Er sprach langweilig, die Werkstatt machte sich über ihn lustig, ich stand, die Ikone in den Händen, im höchsten Grade gerührt und verlegen da und wußte nicht, was ich machen sollte. Schließlich rief Kapendjuchin dem Redner ärgerlich zu: »Hör auf zu predigen, er hat ja schon blaue Ohren!«
Dann klopfte er mir auf die Schulter und lobte mich seinerseits: »Das Gute an dir ist, daß du allen Menschen so nahe bist – das ist es! Es fällt einem schwer, dich zu schelten, geschweige dir eine zu langen, auch wenn du es manchmal verdienst!«
Alle blickten mich wohlwollend an und lachten gutmütig über meine Verlegenheit; es fehlte nicht viel, und ich hätte, überrascht von dem Gefühl, daß diese Menschen mich brauchten, vor Freude geheult. Und gerade an diesem Morgen hatte im Laden der Kommis zu mir hinübergenickt und zu Pjotr Wassiljew gesagt: »Ein unangenehmer Bengel, und völlig unbegabt!«
Ich war wie immer morgens in den Laden gekommen, aber schon kurz nach Mittag sagte der Kommis zu mir: »Geh nach Hause, wirf den Schnee vom Speicherdach und schaufel ihn in den Eiskeller . . .«
Daß ich Namenstag hatte, wußte er nicht; ich war überzeugt gewesen, auch die anderen wüßten es nicht. Nachdem die Gratulationscour in der Werkstatt beendet war, zog ich mich um, lief auf den Hof und kletterte auf die Scheune, um den festen, schweren, in diesem Winter sehr reichlichen Schnee herunterzuwerfen. In meiner Aufregung hatte ich jedoch vergessen, vorher die Kellertür zu öffnen, und verschüttete sie mit Schnee. Als ich hinuntersprang und meinen Fehler sah, machte ich mich sogleich daran, die Tür frei zu schaufeln; der feuchte Schnee hatte sich fest zusammengeballt; die Holzschaufel faßte ihn nur schlecht, eine eiserne war nicht da, und die Schaufel zerbrach – genau in dem Augenblick, als der Kommis in der Pforte erschien; das russische Sprichwort »Auf Freud folgt Leid« bewahrheitete sich.
»Soso«, sagte spöttisch der Kommis und trat auf mich zu. »Ach, du Held, der Teufel soll dich holen! Ich knall dir gleich eine auf deinen hohlen Schädel . . .«
Er holte mit dem Schaufelstiel aus, ich wich zurück und sagte ärgerlich: »Ich habe mich nicht als Hausknecht bei euch verdingt.«
Er warf mir den Stiel an die Beine, ich nahm einen Klumpen Schnee und traf ihn ins Gesicht; er lief prustend davon, während ich die Arbeit niederlegte und in die Werkstatt ging. Wenige Minuten später kam von oben seine Braut gelaufen – zapplig, mit pickligem, leerem Gesicht.
»Maximytsch nach oben!«
»Ich will nicht«, sagte ich.
Larionytsch fragte verwundert; mit leiser Stimme: »Was heißt – du willst nicht?«
Ich erklärte ihm, worum es sich handelte; er ging mit besorgter Miene hinauf, nachdem er mir zugeraunt hatte: »Du bist aber auch frech, mein Freund!«
Die Werkstatt summte durcheinander und schimpfte auf den Kommis. Kapendjuchin sagte: »Jetzt jagen sie dich davon!«
Das schreckte mich nicht. Meine Beziehungen zum Kommis waren längst unerträglich geworden – er haßte mich hartnäckig und immer heftiger, und auch ich konnte ihn nicht leiden, hätte jedoch gern herausgefunden, warum er mich so unsinnig behandelte.
Er verstreute Münzen über den Fußboden im Laden; ich fand sie beim Ausfegen und tat sie in eine Schale auf dem Ladentisch, in der man Ein- und Zweikopekenstücke für die Bettler bereitlegte.
Als ich dahinterkam, was diese häufigen Funde bedeuteten, sagte ich zum Kommis: »Die Falle mit dem Geld stellen Sie mir vergebens!«
Er wurde rot und fuhr mich unbedacht an: »Du hast mich nicht zu belehren, ich weiß schon, was ich tue!«
Doch gleich darauf verbesserte er sich: »Ich stelle dir eine Falle? Das Geld fällt mir von selber aus der Tasche . . .«
Er verbot mir, im Laden Bücher zu lesen; er sagte: »Das ist für dich zu hoch! Gedenkst du etwa Bibelkundiger zu werden, du Schmarotzer?«
Er setzte seine Versuche fort, mich mit einem Zwanzigkopekenstück in die Falle zu locken, und mir war klar, er werde, wenn mir die Münze beim Fegen in eine Fußbodenritze rutschte, überzeugt sein, ich habe sie gestohlen. Ich forderte ihn nochmals auf, dieses Spiel aufzugeben, hörte jedoch noch am selben Tage, als ich mit einer Kanne voll heißem Wasser aus der Gastwirtschaft zurückkehrte, wie er dem kürzlich eingestellten Kommis des Nachbarn vorschlug: »Sieh zu, daß er einen Psalter stiehlt – wir bekommen nächstens drei Kisten davon . . .«
Ich verstand, daß ich gemeint war – als ich den Laden betrat, wurden beide verlegen; ich hatte aber außerdem meine Gründe, sie einer dummen Verschwörung gegen mich zu verdächtigen.
Der Kommis aus dem Nachbarladen war nicht zum erstenmal dort angestellt; er galt als geschickter Verkäufer, verfiel jedoch periodisch der Trunksucht; für die Zeit, da er trank, jagte ihn sein Herr davon, nahm aber den hinfälligen, schwächlichen Mann mit den listigen Augen dann wieder bei sich auf. Äußerlich sanft, jedem Wink seines Herrn gehorsam, lächelte er immerfort gescheit in sein Bärtchen und gab gelegentlich gern ein spitzes Wort zum besten; dabei ging jener üble Geruch von ihm aus, der Menschen mit faulen Zähnen eigen ist, obwohl seine Zähne weiß und fest aussahen.
Eines Tages versetzte er mich in sprachloses Erstaunen – er trat freundlich lächelnd auf mich zu, schlug mir plötzlich die Mütze vom Kopf und packte mich an den Haaren. Wir begannen zu raufen, er drängte mich von der Galerie in den Laden und suchte mich immerfort auf einige große Heiligenschreine zu werfen, die auf dem Fußboden standen – ich hätte, wäre ihm das gelungen, die Scheiben zertrümmert, die Schnitzereien beschädigt, wahrscheinlich auch die teuren Ikonen zerkratzt. Er war sehr schwach, und es gelang mir, ihn zu überwältigen; der bärtige Mann brach zu meiner großen Verwunderung in bittere Tränen aus und wischte sich, auf dem Fußboden sitzend, die blutig geschlagene Nase.
Am nächsten Morgen, als unsere Prinzipale irgendwohin verschwanden und wir allein blieben, sagte er, während er mit dem Finger die angelaufene Nasenwurzel und die Geschwulst unter dem Auge rieb, in freundschaftlichem Ton zu mir: »Glaubst du, ich bin aus freien Stücken, aus eigenem Antrieb über dich hergefallen? Ich bin doch kein Dummkopf, ich habe gewußt, du würdest mich unterkriegen, ich bin ein schwacher Mensch, ein Trinker. Aber mein Herr hat verlangt: ›Verdrisch ihn, sieh jedoch zu, daß er in seinem Laden während der Schlägerei möglichst viel Schaden anrichtet, immerhin ein Verlust für sie!‹ Ich von mir aus hätte nicht angefangen, da – wie du mich zugerichtet hast . . .«
Ich schenkte ihm Glauben; er tat mir leid, ich wußte, er hatte nicht viel zu beißen und lebte mit einer Frau, die ihn schlug.
Dennoch fragte ich ihn: »Und wenn er von dir verlangt, du sollst einen Menschen vergiften – würdest du es tun?«
»Der könnte einen dazu zwingen«, sagte mit kläglichem Lächeln leise der Kommis. »Er kann es . . .«
Bald darauf fragte er mich: »Hör zu, ich habe kein Geld, zu Hause nichts zu fressen, die Alte schimpft – sei ein Freund, stibitze in eurem Lager eine kleine Ikone, und ich verkaufe sie, ja? Stibitzt du eine? Oder vielleicht auch einen Psalter?«
Ich erinnerte mich des Schuhladens und des Kirchendieners und sagte mir – dieser Mensch wird dich verraten! Aber ihn abzuweisen fiel mir zu schwer, und ich gab ihm eine Ikone; einen Psalter zu stehlen, der mehrere Rubel wert war, entschloß ich mich nicht, das schien mir ein großes Verbrechen. Was soll man machen? In der Moral verbirgt sich immer Arithmetik; die heilige Einfalt des Strafgesetzbuches verrät dieses kleine Geheimnis, hinter dem sich die große Lüge vom Eigentum versteckt, sehr deutlich.
Als ich hörte, wie unser Kommis diesem erbärmlichen Menschen zuredete, mich dazu anzustiften, einen Psalter zu stehlen, erschrak ich. Es war mir klar, daß unser Kommis wußte, wie ich auf seine Kosten Wohltätigkeit bewies, und daß der Kommis aus dem Nachbarladen ihm die Sache mit der Ikone erzählt hatte.
Das Widerwärtige einer Wohltätigkeit auf fremde Kosten und diese üble Falle, die man mir stellte – alles das rief bei mir Empörung, Abscheu vor mir selbst und den anderen hervor. Mehrere Tage litt ich bittere Qualen, während ich wartete, daß die Bücherkisten ankämen; schließlich trafen sie ein, ich packte sie im Lagerraum aus, der Kommis aus dem Nachbarladen kam dazu und bat mich, ihm einen Psalter zu geben.
Da fragte ich ihn: »Hast du dem Unseren das von der Ikone erzählt?«
»Ja«, entgegnete er verzagt. »Ich kann nun einmal nichts verbergen, mein Bester.«
Ich war niedergeschmettert, setzte mich auf den Fußboden und starrte ihn an, während er, jämmerlich anzuschauen, verlegen und hastig murmelte: »Siehst du, der Deine ist selber dahintergekommen, das heißt nicht er, sondern mein Chef, und der hat es ihm gesagt . . .«
Ich glaubte mich verloren – diese Leute hatten mich in eine Falle gelockt, die Kolonie für minderjährige Verbrecher war mir sicher! Jetzt war mir alles einerlei. Wenn schon ertrinken, dann wenigstens an einer tiefen Stelle! Ich drückte ihm einen Psalter in die Hand, er versteckte ihn unter dem Mantel und wandte sich zur Tür, kehrte aber gleich wieder um – der Psalter purzelte vor meine Füße, während der Mann fortging und sagte: »Ich nehme ihn nicht! Mit dir ist man verloren . . .«
Ich verstand diese Worte nicht – wieso war man mit mir verloren? Aber ich war sehr zufrieden, daß er das Buch nicht genommen hatte. Unser kleiner Kommis sah mich danach noch mißtrauischer und böser an.
An alles das erinnerte ich mich, als Larionytsch nach oben ging; er blieb nicht lange oben und kam noch bedrückter und stiller zurück als sonst; vor dem Abendessen sagte er unter vier Augen zu mir: »Ich habe mich dafür eingesetzt, daß du vom Dienst im Laden befreit wirst und ganz zur Werkstatt kommst. Daraus ist nichts geworden, Kusma hat was dagegen. Er mag dich nicht . . .«
Ich hatte auch im Hause einen Feind – die Braut des Kommis, ein übertrieben kokettes Mädchen; die Jugend der Werkstatt trieb ihr Allotria mit ihr, lauerte ihr auf und umarmte sie auf dem Flur; sie nahm das weiter nicht übel und winselte vor Vergnügen wie ein kleiner Hund. Von morgens bis abends kaute sie, ihre Taschen waren ständig mit Pfefferkuchen und Plätzchen vollgestopft, die Kiefer blieben pausenlos in Bewegung – ihr leeres Gesicht mit den unruhigen grauen Augen wirkte unangenehm. Mir und Pawel gab sie Rätsel auf, hinter denen sich jedesmal eine ziemlich grobe Schamlosigkeit verbarg, oder sie ließ uns ganz rasch einen Zungenbrecher hersagen, der zu einem unanständigen Wort verschmolz.
Eines Tages sagte einer der älteren Meister zu ihr: »Bist aber reichlich schamlos, Mädchen!«
Sie erwiderte schlagfertig mit den Worten eines übermütigen Liedchens:
»Hat ein Mädchen Scham im Leibe,
Taugt es eben nicht zum Weibe . . .«
Ich sah ein solches Mädchen zum erstenmal, sie war mir, grob aufreizend, wie sie sich gab, zuwider und wurde, als sie erkannte, daß ihre Annäherungsversuche mir nicht behagten, nur aufdringlicher.
Eines Tages, als Pawel und ich ihr im Keller behilflich waren, Kwaß- und Gurkenfässer auszuräuchern, schlug sie uns vor: »Soll ich euch das Küssen beibringen, Jungen?«
»Das kann ich besser als du«, entgegnete lachend Pawel, während ich zu ihr nicht gerade liebenswürdig sagte, sie möge damit zu ihrem Bräutigam gehen.
Sie wurde böse.
»So ein Grobian! Da ist ein Fräulein nett zu ihm, und er rümpft nur die Nase! Wichtigtuer!« Sie drohte mir mit dem Finger und setzte hinzu: »Na warte, daran wirst du noch denken!«
Auch Pawel, der mir zu Hilfe kam, meinte zu ihr: »Wenn dein Bräutigam von deinem Übermut erfährt, dann kriegst du was zu hören.«
Sie verzog geringschätzig das picklige Gesicht.
»Ich habe keine Angst vor ihm! Mit meiner Mitgift bekomme ich ein Dutzend andere, und bessere als ihn! Wann soll sich denn ein Mädel schon vergnügen, wenn nicht vor der Heirat!«
Und sie vertrieb sich die Zeit mit Pawel, während ich eine unermüdliche Verleumderin in ihr erworben hatte.
Der Laden bedrückte mich immer mehr, die geistlichen Bücher hatte ich alle gelesen, die Unterhaltungen oder Dispute zwischen den Bibelkundigen zogen mich nicht mehr an – sie redeten ewig von ein und demselben. Nur Pjotr Wassiljew fesselte mich nach wie vor durch seine Kenntnis des dunklen menschlichen Lebens, durch seine Gabe, interessant und leidenschaftlich zu sprechen. Manchmal dachte ich mir, so wie er müsse einst der Prophet Elias auf Erden gewandelt sein – einsam und rachsüchtig.
Aber jedesmal, wenn ich zum Alten offen über die Menschen, über meine Gedanken sprach und er mich wohlwollend anhörte, erzählte er, was ich gesagt hatte, dem Kommis wieder, worauf der mich in kränkender Weise auslachte oder ärgerlich mit mir schalt.
Eines Tages sagte ich dem Alten, daß ich manche seiner Worte in einem Heft festhalte, in dem ich schon allerlei Verse und Buchzitate eingetragen habe; er war sehr erschrocken, beugte sich rasch zu mir vor und fragte aufgeregt: »Wozu machst du denn das? So was gehört sich nicht, Bursche! Um es nicht zu vergessen? Nein, das laß lieber sein! Was du aber auch für einer bist! Gib mir diese Notizen heraus, ja?«
Er redete mir lange und hartnäckig zu, ihm das Heft auszuhändigen oder es zu verbrennen, und tuschelte später ärgerlich mit dem Kommis.
Als wir nach Hause gingen, sagte der Kommis streng: »Du machst da irgendwelche Notizen? Daß mir das nicht mehr vorkommt! Hast du verstanden? Mit so was befassen sich nur Spitzel.«
Ich fragte unbedacht: »Und Sitanow? Er tut es doch auch!«
»Der auch? Der langbeinige Dummkopf . . .«
Nach einem langen Schweigen schlug er mir ungewohnt weich vor: »Hör zu, zeig mir dein Heft und Sitanows auch – ich gebe dir einen halben Rubel dafür! Aber laß es Sitanow nicht merken, tu's heimlich . . .«
Er war offenbar überzeugt, ich werde seinem Wunsch entsprechen, und eilte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, auf seinen kurzen Beinen davon.
Zu Hause erzählte ich Sitanow vom Vorschlag des Kommis; Jewgenij verfinsterte sich.
»Das hättest du nicht ausplaudern dürfen . . . Jetzt wird er jemand anstiften, uns die Hefte zu stehlen. Gib mir mal deins, ich werde es verstecken . . . Dich ekelt er bald hinaus, paß auf!«
Auch ich war davon überzeugt und beschloß, selber zu gehen, sobald die Großmutter in die Stadt zurückkehren würde – sie verbrachte den ganzen Winter in Balachna, wo sie bei jemand eingeladen war, um junge Mädchen im Spitzenklöppeln zu unterrichten. Der Großvater lebte wieder in Kunawino, ich ging nicht zu ihm hin, und auch er besuchte mich nicht, selbst wenn er gelegentlich in der Stadt war. Eines Tages trafen wir uns auf der Straße; er kam in seinem schweren Waschbärpelz langsam und feierlich daher wie ein Pope; ich begrüßte ihn, er sah mich unter der Hand hervor an und sagte nachdenklich: »Ach du bist es . . . Du bist jetzt doch Herrgottspinsler, ja, ja . . . Nun, geh, geh schon!«
Er schob mich beiseite und schritt langsam und feierlich weiter.
Die Großmutter bekam ich selten zu sehen; sie arbeitete unermüdlich, um den Großvater, der an Altersschwachsinn litt, durchzufüttern, und mühte sich nebenbei mit den Kindern meines Onkels ab. Besonders viel Scherereien hatte sie mit Michails Sohn Sascha, einem hübschen, verträumten Burschen, der gern Bücher las. Er arbeitete in Färbereien, wechselte oft den Brotherrn, lag in den Zwischenzeiten der Großmutter auf der Tasche und wartete ruhig, daß sie ihm eine neue Stelle besorge. Auch Saschas Schwester hatte sie auf dem Hals – sie war unglücklich mit einem ewig betrunkenen Handwerker verheiratet, der sie schlug und immerfort aus dem Haus jagte.
Immer bewußter begeisterte ich mich, wenn ich mit der Großmutter zusammenkam, für ihre Seele, aber ich fühlte bereits: Diese schöne Seele war durch Märchen verblendet, sie vermochte die Erscheinungen der bitteren Wirklichkeit nicht zu erkennen, nicht zu verstehen; das, was mich beunruhigte und bewegte, blieb ihr fremd.
»Man muß Geduld haben, Oljoscha!«
Das war alles, was sie auf meine Erzählungen von den Abscheulichkeiten des Lebens, den Qualen der Menschen, ihrem Kummer, von allem, was mich empörte, zu erwidern hatte.
Geduld zu haben, dafür war ich wenig geeignet, und wenn ich diese Tugend der Haustiere, der Bäume und Steine gelegentlich übte, so tat ich es nur, um mich zu prüfen, um meinen Kräftevorrat zu erkennen, den Grad der Festigkeit, mit dem ich auf der Erde stand. Manchmal heben Halbwüchsige aus törichter Bravour, aus Neid auf die Kraft der Erwachsenen, Lasten, die viel zu schwer für ihre Muskeln und Knochen sind, oder versuchen sich prahlerisch mit einem Zweipudgewicht zu bekreuzigen – wie ein erwachsener Muskelprotz.
Auch ich habe das alles getan, im eigentlichen wie im übertragenen Sinn, körperlich wie geistig, und mich allein durch Zufall nicht zu Tode verhoben, mich nicht fürs ganze Leben verkrüppelt. Denn nichts verkrüppelt den Menschen so furchtbar wie die Geduld, wie die Ergebung in die Gewalt der äußeren Umstände.
Und wenn ich mich am Ende dennoch verkrüppelt unter die Erde legen werde, dann will ich – nicht ohne Stolz – in meiner letzten Stunde sagen: Das hartnäckige, ernsthafte Bemühen, mit dem wohlmeinende Leute vierzig Jahre lang an meiner Seele herumgezerrt haben, ist nicht allzu erfolgreich gewesen.
Immer öfter packte mich der stürmische Drang, Streiche zu spielen, die Menschen zu belustigen, sie zum Lachen zu bringen. Und das gelang mir, ich wußte über die Kaufleute vom Nishnij-Basar zu erzählen und sie auch darzustellen; ich führte vor, wie Bauern und Bauernfrauen Ikonen kauften oder verkauften, wie geschickt sie der Kommis über den Löffel barbierte, wie sich die Bibelkundigen stritten.
Die Werkstatt wälzte sich vor Lachen, nicht selten unterbrachen die Meister ihre Arbeit, um zuzusehen, wie ich agierte; und jedesmal, wenn das geschah, riet mir Larionytsch: »Du solltest deine Vorstellungen bis nach dem Abendessen aufsparen, du störst uns bei der Arbeit . . .«
Hatte ich eine »Vorstellung« beendet, dann fühlte ich mich erleichtert, als hätte ich eine drückende Last abgeworfen; für eine halbe oder eine Stunde wurde es in meinem Kopf angenehm leer, doch dann schien mir aufs neue, er sei mit spitzen kleinen Nägeln angefüllt, die sich bewegten und erhitzten.
Um mich herum brodelte eine Art schmutziger Grütze, ich hatte das Gefühl, daß ich allmählich in ihr zerkochte.
Ich fragte mich: Ist denn das ganze Leben so? Und werde ich leben wie diese Menschen, nichts Besseres zu finden wissen, nichts Besseres zu sehen bekommen?
»Du wirst bitter, Maximytsch«, sagte Shicharew zu mir und sah mich aufmerksam an.
Sitanow fragte mich oft: »Was hast du?«
Ich wußte keine Antwort.
Das Leben wischte eigensinnig und roh seine besten Schriftmale von meiner Seele fort und ersetzte sie boshaft durch allerlei unnützes Zeug – ich wehrte mich erbittert und hartnäckig gegen diese Vergewaltigung, ich schwamm in demselben Strom wie alle, aber für mich war sein Wasser kälter, es trug mich nicht so leicht wie alle anderen; manchmal schien mir, ich versinke in einem Abgrund.
Man behandelte mich immer besser, schrie mich nicht an wie Pawel, kommandierte nicht mit mir herum und rief mich, um seine Anerkennung zu bezeigen, mit dem Vatersnamen. Das war angenehm, aber es quälte mich, wenn ich sah, wieviel Wodka diese Leute tranken, wie widerwärtig sie dann wurden und wie unnatürlich ihre Beziehungen zu den Frauen waren, obwohl ich verstand, daß der Wodka und die Frauen die einzige Kurzweil in einem solchen Leben darstellten.
Oft erinnerte ich mich mit Wehmut, daß selbst die kluge und tapfere Natalja Koslowskaja die Frau eine Kurzweil genannt hatte.
Und wie verhielt es sich dann mit Großmutter? Oder der Königin Margot?
An die Königin Margot dachte ich mit einem Gefühl zurück, das an Furcht grenzte – sie schien mir so fremd, als sähe ich sie im Traum.
Ich dachte jetzt allzuoft an die Frauen und legte mir schon die Frage vor, ob ich am nächsten Feiertag nicht dorthin gehen sollte, wo alle hingingen. Das war keine körperliche Begierde – ich war gesund und wählerisch, aber ich fühlte manchmal ein rasendes Verlangen, jemand Liebes und Kluges zu umarmen und offen, unendlich lange zu diesem Jemand von meinen Seelennöten zu sprechen – wie zu einer Mutter.
Ich beneidete Pawel, wenn er mir nachts von seinem Roman mit dem Stubenmädchen von gegenüber erzählte.
»Das ist ein Ding, mein Lieber! Vor einem Monat habe ich noch mit Schneebällen nach ihr geworfen, und sie gefiel mir nicht; jetzt sitzen wir aneinandergeschmiegt auf der Bank, und es gibt keinen, der mir teurer wäre!«
»Worüber unterhaltet ihr euch?«
»Na, über alles. Sie erzählt mir von sich, ich ihr von mir. Nun ja, und dann küssen wir uns . . . Aber sie ist anständig . . . Sie, mein Lieber, ist schrecklich lieb und ehrlich! . . . Du rauchst aber auch wie ein alter Soldat!«
Ich rauchte viel; der Tabak berauschte mich, beschwichtigte die unruhigen Gedanken, die aufgeregten Gefühle. Der Wodka war mir glücklicherweise durch seinen Geruch und Geschmack zuwider, während Pawel ihn gern trank und, wenn er berauscht war, kläglich jammerte: »Ich will heim, nach Hause! Laßt mich nach Hause . . .«
Er war, wie ich mich erinnere, eine Waise; sein Vater und seine Mutter waren längst gestorben, Geschwister hatte er nicht, er lebte schon seit seinem neunten Jahr unter fremden Menschen.
In dieser Stimmung erregter Unzufriedenheit, zu der die Lockrufe des Frühlings kamen, beschloß ich, mich wieder auf einem Dampfer zu verdingen, bis hinunter nach Astrachan zu fahren und nach Persien zu entfliehen.
Ich weiß nicht mehr, warum gerade nach Persien; vielleicht nur deshalb, weil mir die persischen Kaufleute auf der Nowgoroder Messe so gut gefielen – da saßen sie wie steinerne Götzen in der Sonne, stellten die gefärbten Bärte zur Schau und rauchten gelassen ihre Wasserpfeifen; ihre Augen waren groß, allwissend, dunkel.
Wahrscheinlich wäre ich tatsächlich irgendwohin entflohen, aber ich traf an einem sonnigen Tag in der Osterwoche, als ein Teil der Meister nach Hause, in die Dörfer gefahren war und die übrigen tranken, während ich an der Oka spazierenging, Großmutters Neffen, meinen früheren Herrn.
Er kam in einem leichten grauen Mantel, die Hände in den Hosentaschen, daher, den Hut im Nacken, eine Zigarette zwischen den Lippen und lächelte mit freundschaftlich zu. Er hatte das bestechende Äußere eines freien und wohlgelaunten Mannes; außer uns beiden war niemand auf den Feldern zu sehen.
»Ha, Peschkow! Christ ist erstanden!«
Wir gaben uns den dreifachen Osterkuß, er fragte mich, wie es mir gehe, und ich erzählte ihm offen, daß ich die Werkstatt, die Stadt und überhaupt alles satt habe und entschlossen sei, nach Persien zu gehen.
»Das laß mal sein«, sagte er ernst. »Was zum Teufel willst du in Persien? Ich kenne das, Freund, als ich so alt war wie du, wollte auch ich weiß der Teufel wohin entfliehen . . .«
Mir gefiel, daß er so übermütig mit den Teufeln um sich warf; etwas Gewinnendes, Frühlingshaftes schäumte in ihm, er war ganz aufgekratzt.
»Rauchst du?« fragte er mich und hielt mir sein silbernes Etui mit lauter dicken Zigaretten hin.
Das nahm mich endgültig gefangen.
»Hör zu, Peschkow, komm wieder zu mir!« schlug er mir vor. »Ich, mein Bester, habe in diesem Jahr für so etwa vierzigtausend Rubel Aufträge übernommen – verstehst du! Ich möchte dich auf dem Messegelände einsetzen; du wirst bei mir eine Art Aufseher sein, die Materialien abnehmen und aufpassen, daß alles rechtzeitig an Ort und Stelle ist und die Arbeiter nicht stehlen – abgemacht? Du bekommst fünf Rubel im Monat und fünf Kopeken für jedes Mittagessen! Die Weiber brauchen dich nicht zu kümmern; du gehst frühmorgens aus dem Haus, und kommst am Abend wieder – basta! Nur sage ihnen nicht, daß wir uns schon gesprochen haben, komm einfach am Sonntag nach Ostern zu uns – und damit fertig!«
Wir schieden als Freunde, er drückte mir zum Abschied die Hände und winkte mir noch von weitem leutselig mit dem Hut.
In der Werkstatt rief meine Mitteilung, ich würde kündigen, zunächst bei den meisten ein für mich schmeichelhaftes Bedauern hervor. Besonders aufgeregt war Pawel.
»So überlege doch«, sagte er vorwurfsvoll, »wie willst du mit allerlei Bauernvolk zusammen leben, nachdem du bei uns gearbeitet hast! Mit Zimmerleuten, mit Anstreichern . . . Hach, du! Da kann man nur sagen – vom Prediger zum Kirchendiener . . .«
Shicharew brummte: »Der Fisch strebt dorthin, wo es am tiefsten ist, ein tapferer junger Mann dorthin, wo er's am schwersten hat . . .«
Die Abschiedsfeier, die die Werkstatt für mich veranstaltete, war traurig und unerträglich langweilig.
»Natürlich muß man alles ausprobieren«, sagte Shicharew, noch gelb von einem Katzenjammer. »Das beste aber ist, sich gleich und dann auch richtig, in eine Sache festzubeißen . . .«
»Und das fürs ganze Leben«, fügte mit leiser Stimme Larionytsch hinzu.
Ich fühlte jedoch, daß sie das alles lustlos und sozusagen anstandshalber sagten – das Band, das uns verknüpft hatte, war plötzlich morsch geworden und gerissen.
Auf der Hängepritsche wälzte sich der betrunkene Gogolew von einer Seite auf die andere und lallte: »W–wenn ich will, bring ich euch alle ins Gefängnis! Ich kenne ein Geheimnis! Wer glaubt hier an Gott? A–haaa . . .«
Wie immer lehnten antlitzlose, unvollendete Ikonen an den Wänden; die Glaskugeln klebten an der Decke. Man arbeitete schon längst nicht mehr bei künstlichem Licht, die Kugeln wurden nicht mehr gebraucht und waren mit einer grauen Ruß- oder Staubschicht bedeckt. Alles ringsum hatte sich meinem Gedächtnis so fest eingeprägt, daß ich den ganzen Kellerraum auch noch im Dunkeln, auch mit geschlossenen Augen vor mir sehe – all diese Tische, die Farbenbüchsen auf den Fensterbrettern, die Pinselbündel in den Haltern und die Ikonen, den Spülichtkübel in der Ecke unter dem kupfernen, an einen Feuerwehrhelm erinnernden Wasserbecken, und Gogolews bloßes, von der Hängepritsche herunterbaumelndes Bein, das blau ist wie das eines Ertrunkenen.
Ich wäre am liebsten rasch gegangen, aber in Rußland zieht man traurige Augenblicke gern in die Länge; wenn Menschen auseinandergehen, dann ist es, als zelebrierte man eine Seelenmesse.
Shicharew sagte mit zusammengezogenen Brauen: »Dieses Buch da, den ›Dämon‹, kann ich dir nicht zurückgeben – willst du zwanzig Kopeken dafür?«
Das Buch war mein Eigentum, der alte Brandmeister hatte es mir geschenkt, es tat mir leid, den Lermontow fortzugeben. Als ich jedoch, ein wenig gekränkt, das Geld zurückwies, steckte Shicharew die Münze ruhig wieder ein und erklärte ungerührt: »Wie du willst, das Buch bekommst du jedenfalls nicht! Das ist kein Buch für dich, das ist ein Buch, mit dem man sehr leicht ins Unglück gerät . . .«
»Aber es wird doch im Laden verkauft, ich habe es gesehen!«
Seine Erwiderung war überzeugend genug: »Das will nichts heißen, im Laden werden auch Revolver verkauft.«
Er gab mir den Lermontow tatsächlich nicht zurück.
Als ich nach oben ging, um mich von der Inhaberin zu verabschieden, stieß ich im Flur mit ihrer Nichte zusammen.
Sie fragte: »Du willst gehen?«
»Stimmt.«
»Wenn du nicht gingst, hätte man dich davongejagt«, teilte sie mir zwar nicht gerade liebenswürdig, dafür aber sehr offenherzig mit.
Die angeheiterte Inhaberin sagte: »Leb wohl, Gott sei mit dir! Du bist ein böser, frecher Junge! Ich habe zwar nichts Schlechtes von dir gesehen, doch alle sagen, daß du nichts taugst!«
Plötzlich brach sie in Tränen aus und fuhr weinend fort: »Wenn mein verstorbenes herzensgutes Männchen, die liebe Seele, noch am Leben wäre, hätte er dir gründlich den Kopf gewaschen und ein paar Nasenstüber verpaßt, dich aber dabehalten, dich nicht davongejagt! Heute ist alles anders geworden – kaum stimmt etwas nicht, schon heißt es – fort, hinaus! Wo willst du nur hin, mein Junge, wo findest du einen Halt?«