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Im Spätherbst, als der Dampfer seine Fahrten einstellte, trat ich als Lehrling in eine Ikonenwerkstatt ein, doch schon am Tage darauf erklärte mir die Inhaberin, eine weiche, meist angesäuselte alte Frau, im Wladimirer Tonfall: »Die Tage sind jetzt kurz, die Abende lang, du wirst also morgens in den Laden gehen und als Laufjunge an der Tür stehen; abends kannst du dann lernen!«
Und sie gab mich in die Gewalt eines schnellfüßigen kleinen Kommis, eines jungen Burschen mit hübschem, aber unangenehm süßlichem Gesicht. Wir gehen morgens im kalten Halblicht des Tagesgrauens die schläfrige Kaufmannsstraße Iljinka entlang durch die ganze Stadt zum Nishnij-Basar; dort befindet sich im ersten Stock der Verkaufshalle der Laden. Dieser dunkle, aus einem Lagerraum umgebaute Laden mit seiner eisernen Tür und dem kleinen, auf eine eisengedeckte Terrasse gehenden Fenster ist mit Ikonen in den verschiedensten Formaten, glatten oder »gekörnten« Heiligenschreinen und kirchenslawischen Büchern in gelben Ledereinbänden vollgepfropft. Im Laden nebenan handelt – ebenfalls mit Ikonen und Büchern – ein schwarzbärtiger Kaufmann, Verwandter eines im Kershenez-Gebiet, jenseits der Wolga, bekannten altgläubigen Bibelgelehrten; er wird dabei von seinem Sohn unterstützt, einem trockenen, flinken Jungen in meinem Alter, mit kleinem grauem Altmännergesicht und unruhigen Mäuseaugen.
Ich hatte, sobald der Laden geöffnet wurde, aus der Gastwirtschaft nebenan heißes Wasser zu holen, nach dem Tee im Laden aufzuräumen, die Waren abzustauben, danach auf der Terrasse herumzustehen und mit Argusaugen darüber zu wachen, daß die Kunden nicht in den Nachbarladen gingen.
»Der Kunde ist dumm«, erklärte mir selbstbewußt der Kommis. »Ihm ist es einerlei, wo er kauft, Hauptsache, er kauft billig, von der Ware versteht er nichts!«
Er klapperte hurtig mit den Ikonentäfelchen und belehrte mich, mit seiner Sachkenntnis prahlend: »Arbeiten aus Mstjora sind billige Ware, dreimal vier Werschok – Selbstkostenpreis soundso viel, sechsmal sieben Werschok – Selbstkostenpreis soundso viel. Weißt du mit den Heiligen Bescheid? Merke dir: Wonifatij hilft gegen Trunksucht, die Großmärtyrerin Warwara gegen Zahnweh und unverhofften Tod, der heilige Wassilij gegen Fieber und Fieberwahn . . . Kennst du die Muttergottestypen? Schau her: die Schmerzensreiche, die Muttergottes mit den drei Armen, die Abalazkaja-Snamenije, ›Weine nicht, meine Mutter‹, ›Tröste mich in meinem Kummer‹, die von Kasan, die Fürbitterin, die Semistrelnaja . . .«
Die Preise für die Ikonen – sie richteten sich nach Format und Qualität der Arbeit – merkte ich mir rasch, ebenso die Unterschiede zwischen den Muttergottesbildern, dagegen fiel es mir schwer, die vielen Heiligen zu behalten.
Da stehe ich manchmal, in Gedanken versunken, an der Ladentür, und der Kommis fängt plötzlich an, meine Kenntnisse zu prüfen: »Der Helfer bei schweren Entbindungen wer ist es?«
Wenn ich mich irre, fragt er geringschätzig: »Wozu hast du einen Kopf?«
Noch schwerer fiel es mir, die Kunden in den Laden zu locken; die Ikonen mit ihren seltsamen Formen gefielen mir nicht, es war mir peinlich, sie zu verkaufen. Ich stellte mir die Muttergottes nach Großmutters Erzählungen jung, schön und lieb vor; so erschien sie auch auf den Abbildungen in den Zeitschriften, während die Ikonen sie alt und streng, mit langer, gekrümmter Nase und kleinen hölzernen Händen darstellten.
An den Markttagen, mittwochs und freitags, ging der Handel flott, auf der Terrasse tauchten in einem fort Bauern und alte Frauen, gelegentlich auch ganze Familien auf, alles Altgläubige aus dem Gebiet jenseits der Wolga, mißtrauisches, finsteres Waldvolk. Da kommt über die Galerie langsam, als fürchte er durchzubrechen, ein schwerer Mann gestapft, im Schafpelz, in dickes, zu Hause gewalktes Tuch eingemummt, und es ist mir peinlich, ich schäme mich vor ihm. Mit vieler Mühe überwinde ich mich, stelle mich ihm in den Weg, scharwenzele vor seinen Füßen, die in pudschweren Stiefeln stecken, und plärre wie eine Mücke: »Was ist gefällig, Verehrter? Psalter – mit Gebeten nach dem Kirchenkalender oder mit Erläuterungen zur Heiligen Schrift, die Bücher Jefrem des Syrers und Kirills, Gottesdienstordnungen, Kirchengebetbücher – treten Sie näher, sehen Sie sich alles an! Ikonen nach jedem Geschmack, in den verschiedensten Preislagen, in allerbester Qualität und dunklen Farben! Wir malen Ihnen auf Bestellung, wen Sie wollen, alle Heiligen und alle Muttergottestypen! Vielleicht wünschen Sie eine von Ihrem Namensheiligen, eine Familienikone in Auftrag zu geben? Die beste Werkstatt in ganz Rußland! Das erste Geschäft am Platz!«
Der undurchdringliche, nicht zu enträtselnde Kunde schweigt eine Weile und blickt mich an wie einen Hund, schiebt mich plötzlich mit steifer Hand beiseite und verschwindet im Nachbarladen, während sich mein Kommis die großen Ohren reibt und ärgerlich knurrt: »Hast ihn dir entgehen lassen, du Kaufmann!«
Im Nachbarladen tönt eine weiche, süßliche Stimme, strömen, die Sinne benebelnd, Worte wie diese dahin: »Wir, du Guter, handeln nicht mit Schaffellen oder Stiefeln, sondern mit den Segnungen des Herrn, die unvergleichlich höher stehen als alles Gold und Silber und einfach nicht zu bezahlen sind . . .«
»T–teufel auch!« murmelt neidisch und hingerissen mein Kommis. »Der seift den Bauernkerl ein! Lerne! Gib dir Mühe!«
Ich gab mir alle Mühe – wenn man eine Arbeit übernimmt, dann soll man sie auch gut machen. Dennoch kam ich im Einfangen von Kunden und überhaupt im Handel nicht recht voran: All diese finsteren, wortkargen Bauern, all diese alten Frauen, die mich an Ratten erinnerten und irgendwie verschüchtert, bedrückt erschienen, riefen mein Mitleid hervor; am liebsten hätte ich den Kunden den wirklichen Wert der Ikonen genannt, ohne ihnen zwanzig Kopeken zuviel abzuverlangen. Sie alle erschienen mir arm und hungrig; ich wunderte mich, wenn ich sah, daß sie drei Rubel fünfzig für einen Psalter auf den Tisch legten – das Buch, das sie am häufigsten kauften.
Sie verblüfften mich durch ihre Kenntnis der Bücher, der handwerklichen Qualitäten der Ikonen; eines Tages sagte ein grauhaariges altes Männlein, das ich in den Laden zu manövrieren ersuchte, mit sanfter Stimme: »Es dürfte wohl nicht richtig sein, mein Junge, daß eure Ikonenwerkstatt die beste in ganz Rußland ist, die beste ist die von Rogoshin in Moskau!«
Ich war verwirrt und machte ihm Platz, während er still davonging und auch den Nachbarladen nicht betrat.
»Hat's geklappt?« erkundigte sich giftig der Kommis.
»Von der Werkstatt dieses Rogoshin haben Sie mir nichts gesagt . . .«
Er schalt: »Da schleichen diese Duckmäuser umher, verstehen sich auf alles, die Vermaledeiten, wissen mit allem Bescheid, die alten Hunde.«
Angenehm in seinem Äußeren, satt und selbstgefällig, haßte er die Bauern und beklagte sich gelegentlich in einer schwachen Stunde über sie: »Ich bin gescheit, liebe die Sauberkeit und gute Gerüche – Weihrauch, Eau de Cologne – und muß mich bei all meinen Qualitäten vor einem stinkenden Bauernkerl bis an die Erde verneigen, damit er der Inhaberin einen Sechser Gewinn einbringt! Glaubst du, mir ist das angenehm? Was ist der Bauer? Ein säuerlich riechendes Schaffell, nicht mehr als eine Erdlaus, und dennoch muß ich . . .«
Er schwieg ärgerlich still.
Mir gefielen die Bauern, sie hatten alle etwas Geheimnisvolles – wie Jakow.
Da wälzt sich eine schwere Gestalt in weitem, über den Halbpelz gezogenem Rock in unseren Laden, legt die zottige Mütze ab, bekreuzigt sich, die ungeweihten Ikonen geflissentlich übersehend, mit dem Gesicht zur Ecke, in der das Ewige Lämpchen glimmt, tastet schweigend mit dem Blick über die Umgebung hin und sagt: »Gib mir mal einen Psalter mit Erläuterungen!«
Die Rockärmel zurückgeschoben, liest er langsam das Titelblatt; die erdigen, von blutroten Sprüngen zerstrichelten Lippen bewegen sich.
»Sind keine älteren da?«
»Die alten kosten, wie Sie wissen, tausend Rubel . . .«
»Ja doch!«
Der Bauer feuchtet den Finger an und schlägt die Seite um – dort, wo er sie berührt hat, bleibt ein dunkler Fingerabdruck zurück. Der Kommis starrt mit bösem Blick über den Kopf des Kunden hin und sagt: »Die Heilige Schrift ist immer von gleichem Alter, der Herr hat an seinem Wort nichts geändert . . .«
»Wissen wir, haben wir schon gehört! Der Herr nicht, aber Nikon.«
Und er schlägt das Buch zu und geht schweigend davon.
Gelegentlich kam es zwischen solchen Waldbewohnern und dem Kommis zu einem Meinungsstreit, und mir wurde klar, daß sie die Schrift besser kannten als er.
»Heidenvolk vom Sumpf«, knurrte der Kommis.
Ich sah aber auch, daß so ein Bauer, obwohl ihm das Buch in weltlicher Schrift nicht nach dem Herzen war, es dennoch mit Achtung behandelte und nur mit Vorsicht berührte, als könnte es seinen Händen entflattern gleich einem Vogel. Ich freute mich darüber, denn ein Buch ist auch für mich ein Wunder – in ihm ist die Seele dessen eingeschlossen, der es geschrieben hat; wenn ich das Buch aufschlage, befreie ich diese Seele, und sie führt geheimnisvolle Zwiesprache mit mir.
Oft genug boten alte Männer oder Frauen Bücher in kirchenslawischer Schrift aus der Zeit vor Nikon zum Verkauf an oder schöne, von altgläubigen Einsiedlerinnen am Irgis oder Kershenez angefertigte Abschriften solcher Bücher; Abschriften von Meßbüchern, die nicht durch Dmitrij von Rostow verbessert waren; Ikonen in alter Malweise, Kreuze, im hohen Norden gegossene kupferne Täfelchen mit Schmelzarbeit, silberne Kellen aus dem Besitz von Schanksteuereinnehmern, die diese von Moskauer Fürsten zum Geschenk erhalten hatten; alles das wurde unterderhand, geheimnisvoll, mit aller Vorsicht angeboten.
Sowohl unser Kommis als auch der Nachbar hatten auf solche Verkäufer ein wachsames Auge und suchten sie sich gegenseitig wegzuschnappen; für die Altertümer, die sie für wenige Rubel oder für zwanzig oder dreißig Rubel kauften, erhielten sie auf der Messe von reichen Altgläubigen Hunderte.
Der Kommis schärfte mir ein: »Paß ja auf diese Waldschrate, auf diese Waldhexen auf, sei ja ganz Auge! Sie bringen uns Glück!«
Wenn ein solcher Verkäufer auftauchte, schickte mich der Kommis nach dem Bibelgelehrten Pjotr Wassiljitsch, einem Kenner von altslawischen Büchern, von Ikonen und Altertümern.
Er war ein hochgewachsener Greis mit einem Bart, so lang wie der des heiligen Wassilij, mit klugen Augen im angenehmen Gesicht. Die Hälfte des einen Fußes war abgehackt, er ging ein wenig lahmend, mit einem langen Stock in der Hand, und trug im Sommer wie im Winter einen leichten, feinen Rock, der an ein Priestergewand erinnerte, und ein Sammetkäppchen von seltsamer Form, das einer Kasserolle glich. Rüstig und gerade, ließ er, sobald er den Laden betrat, die Schultern hängen, krümmte den Rücken, stöhnte leise, bekreuzigte sich rasch hintereinander mit zwei Fingern und murmelte immerfort Gebete oder Psalmen. Diese Frömmigkeit im Verein mit der Altersschwäche flößten dem Kunden, der etwas verkaufen wollte, sogleich Vertrauen zu dem Bibelkundigen ein.
»Wo fehlt's denn bei euch?« fragte der alte Mann.
»Hier ist eine Ikone zu verkaufen, jemand hat sie uns hergebracht, soll Stroganow-Schule sein.«
»Waaas?«
»Soll Stroganow-Schule sein, sagt er.«
»Ach so . . . Ich höre nämlich schlecht, der Herrgott verschließt mein Ohr vor den Abscheulichkeiten der nikonianischen Reden . . .«
Er setzt die Kappe ab, hält die Ikone waagerecht von sich, wirft einen Blick auf die Malerei, besieht sie seitlich, dann von vorn, betrachtet die Querleiste auf der Rückseite der Tafel, kneift die Augen zusammen und brummt: »Die gottlosen Nikonianer, die unsere Liebe zur alten Wohlgestalt bemerkt haben und vom Teufel auf listige Weise in allerlei Fälschungen unterwiesen sind, ahmen heute auch die heiligen Andachtsbilder nach, und hach, wie geschickt! Äußerlich scheint so ein Bild tatsächlich aus der Stroganow-Schule zu stammen, aus der von Ustjug oder gar der von Susdal, sieht man aber mit dem inneren Auge hin, dann erweist es sich als Fälschung!«
Wenn er das Wort »Fälschung« gebraucht, bedeutet es, daß die Ikone selten und wertvoll ist. Eine Reihe vereinbarter Ausdrücke zeigt dem Kommis, wieviel er für eine Ikone oder ein Buch bieten kann; ich weiß, daß die Worte »Niedergeschlagenheit und Gram« zehn Rubel bedeuten, die Worte »Nikon der Tiger« fünfundzwanzig; ich schäme mich, wenn ich sehe, wie der Verkaufende betrogen wird, doch das geschickte Spiel des Bibelkundigen fesselt mich.
»Die Nikonianer nämlich, die finsteren Kinder des Tigers Nikon, verstehen sich, angeleitet vom Teufel, auf alles – hier zum Beispiel erscheint sowohl der Malgrund echt als auch das Beiwerk von immer derselben Hand gemalt, das Antlitz aber, schau her – das ist nicht mehr der gleiche Pinsel, nein, nicht der gleiche! Die alten Meister nämlich, etwa Simon Uschakow, der allerdings ein Ketzer war, malten die ganze Ikone eigenhändig, Beiwerk wie Inkarnat, hoben selber den ›Bildschrein‹ aus und trugen den Malgrund auf, während die gottserbärmlichen Menschlein unserer Tage das nicht mehr können! Früher war das Ikonenmalen eben ein heiliges Werk, heute ist es weiter nichts als Kunst. So ist das alles, ihr Guten!«
Er legt die Ikone schließlich vorsichtig auf den Ladentisch, setzt die Mütze auf und sagt: »Alles Sünde.«
Das bedeutet – kaufen!
Der Verkaufende, der längst im Strom der ihm so wohlgefälligen Worte versinkt und von den Kenntnissen des Alten niedergeschmettert ist, erkundigt sich voller Respekt: »Was ist denn nun mit der Ikone, Verehrter?«
»Eine Ikone von nikonianischer Hand.«
»Aber das ist doch unmöglich! Schon meine Groß- und Urgroßväter haben vor ihr die Andacht verrichtet . . .«
»Nikon hat lange vor deinem Urgroßvater gelebt.«
Der Alte hält die Ikone dem Verkaufenden ans Gesicht und belehrt ihn, nun schon in strengem Ton: »Sieh dir doch an, wie heiter sie ist! Und das soll eine Ikone sein? Das ist ein Bildchen, ein bloßes Blendwerk, ist nikonianischer Zeitvertreib – es fehlt der Geist! Warum sollte ich sagen, was nicht wahr ist? Ich bin ein alter, um seines rechten Glaubens willen verfolgter Mann und werde bald vor meinem Herrgott stehen; was hätte es für mich für einen Sinn, zu heucheln?«
Er tritt aus dem Laden auf die Terrasse, er sinkt fast um vor Altersschwäche, er ist über das Mißtrauen gekränkt, mit dem man seinem Urteil begegnet. Der Kommis zahlt dem Verkaufenden einige Rubel für die Ikone, der geht und verneigt sich voller Respekt vor Pjotr Wassiljitsch; man schickt mich in die Gastwirtschaft nach kochendem Wasser für Tee; als ich zurückkomme, ist der Bibelgelehrte längst wieder heiter und obenauf; er sieht sich den Kauf zärtlich an und belehrt den Kommis: »Schau her! Die Ikone ist streng, mit feinem Pinsel und in der Furcht Gottes gemalt, das Menschliche ist überwunden . . .«
»Und wer ist der Maler?« erkundigt sich der strahlende Kommis und schnellt dabei ein wenig hoch.
»Das brauchst du vorerst nicht zu wissen.«
»Und wieviel werden die Kenner dafür bieten?«
»Das weiß ich nicht. Gib her, ich zeige sie dem und jenem . . .«
»Ach, Pjotr Wassiljitsch!«
»Wenn ich sie unterbringe, bekommst du einen halben Hunderter, was drüber ist, gehört mir!«
»Hach . . .«
»Tu mal nicht so . . .«
Sie trinken ihren Tee, feilschen schamlos und sehen sich mit Gaunerblicken in die Augen. Der Kommis ist ganz in der Gewalt des Alten, daran gibt's keinen Zweifel; sobald der Alte geht, wird der Kommis zu mir sagen: »Paß auf! Daß du der Prinzipalin nichts von diesem Kauf erzählst!«
Nachdem man sich über die Verkaufsbedingungen geeinigt hat, fragt der Kommis: »Was gibt es denn für Neuigkeiten in der Stadt, Pjotr Wassiljitsch?«
Der Alte streicht sich mit gelber Hand über den Bart, so daß die öligen Lippen frei liegen, und erzählt vom Leben der reichen Kaufmannschaft – von Handelsgewinnen, von Schwelgereien, von Krankheiten, Hochzeiten, Ehebrüchen von Männern und Frauen. Er kriegt die schlüpfrigen Geschichten rasch und geschickt hin – wie eine gute Köchin Plinsen – und begießt sie mit einem zischenden Lachen. Das rundliche Gesichtchen des Kommis färbt sich vor Neid und Wonne dunkelrot, während sich vor sein Auge ein träumerisches Wölkchen schiebt. Er seufzt und klagt: »Die Leute leben! Und ich . . .«
»Jedem das Schicksal, das ihm gebührt«, tönt der Baß des Bibelkundigen fort. »Dem einen schmieden es mit silbernen Hämmerchen die Engel, dem anderen schmiedet es mit dem Beilrücken der Satan . . .«
Der kräftige, sehnige Greis weiß alles – er kennt das Leben der ganzen Stadt, alle Geheimnisse der Kaufleute, Beamten und Popen, der Leute aus dem Kleinbürgerstand. Er hat den scharfen Blick eines Raubvogels, hat etwas Wölfisches, zu dem sich manches von einem Fuchs gesellt; ich versuche in einem fort, ihn zu ärgern, aber er sieht mich nur wie aus weiter Ferne, sozusagen durch einen Nebel an. Er scheint mir von einer bodenlosen Leere umgeben; könnte man sich ihm nähern – man würde in einen Abgrund stürzen. Ich fühle etwas wie eine Verwandtschaft mit dem Heizer Schumow bei ihm heraus.
Obwohl sich der Kommis über des Alten Verstand ebensosehr in seiner Gegenwart wie hinter seinem Rücken begeistert, gibt es doch Augenblicke, in denen er ihn – genau wie ich – gern ärgern, ja kränken würde.
»Im Grunde genommen betrügst du doch die Menschen«, erklärt er plötzlich und sieht dem Alten herausfordernd ins Gesicht.
Doch der entgegnet, träge lächelnd: »Ohne Betrug kommt nur der Herrgott aus. Wir leben unter Dummköpfen; was hat man vom Dummkopf für einen Nutzen, wenn man ihn nicht betrügt?«
Der Kommis gerät in Hitze: »Nicht alle Bauern sind Dummköpfe! Wo kommen denn die Kaufleute her, wenn nicht vom Dorf, vom Bauern?«
»Wir reden hier nicht vom Kaufmann. Der Dummkopf versteht sich nicht aufs Gaunern. Der Dummkopf, der ist heilig, sein Hirn hat es nicht eilig . . .«
Der Alte spricht immer lässiger, und das wirkt aufreizend genug. Er scheint auf einem trockenen Höcker inmitten eines Sumpfes zu stehen. Es ist unmöglich, ihn zu ärgern, er bleibt für den Zorn unerreichbar, oder er weiß seinen Zorn zu gut zu verbergen.
Es kommt immerhin öfter vor, daß er mir seinerseits zusetzt – er tritt geradeswegs auf mich zu, grient sich in seinen Bart und fragt: »Wie, sagst du, heißt dieser französische Schreiberling – Ponton?«
Diese häßliche Art, die Namen zu entstellen, macht mich rasend, aber ich halte mich vorerst zurück und entgegne: »Er heißt Ponson du Terrail.«
»Wieso – der, der eilt?«
»Reden Sie keine Dummheiten, Sie sind kein kleines Kind.«
»Das bin ich allerdings nicht. Was liest du denn so?«
»Jefrem den Syrer.«
»Und wer schreibt besser – deine Weltlichen oder er?«
Ich schweige mich aus.
»Wovon schreiben denn diese Weltlichen am meisten?« Er läßt nicht locker.
»Von allem, was im Leben vorkommt.«
»Von Hunden also, von Pferden – die kommen im Leben vor.«
Der Kommis lacht, ich ärgere mich. Mir ist sehr garstig, sehr unangenehm zumute, versuche ich aber den beiden auszurücken, dann hält der Kommis mich fest: »Wo willst du hin?«
Und der Alte fährt fort, mich zu foltern: »Los, du Schriftkundiger, knacke mal dieses Rätsel: Es stehen tausend nackte Menschen vor dir, fünfhundert Frauen und fünfhundert Männer, unter ihnen Adam und Eva – wie findest du die beiden heraus?«
Er setzt mir lange damit zu und erklärt schließlich triumphierend: »Du Dummkopf, sie sind doch nicht geboren, sondern erschaffen worden und haben also keinen Nabel!«
Der Alte kennt eine Unzahl von solchen »Aufgaben«, er kann einen damit zur Verzweiflung bringen.
In der ersten Zeit meines Dienstes im Laden erzählte ich dem Kommis den Inhalt einiger Bücher wieder, die ich gelesen hatte; jetzt wandten sich diese Geschichten gegen mich – der Kommis erzählte sie Pjotr Wassiljitsch, wobei er sie absichtlich verzerrte und auf schmutzige Weise entstellte. Der Alte kam ihm dabei geschickt durch schamlose Fragen zu Hilfe; ihre klebrigen Zungen überschütteten Eugenie Grandet, Ljudmila, Heinrich IV. mit Strömen von schmählichen Reden.
Ich wußte, sie taten es nicht aus Bosheit, sondern aus Langerweile, aber das war für mich kein Trost. Wie Schweine wühlten sie in ihrem eigenen Schmutz herum und grunzten vor lauter Wonne, wenn sie das ihnen fremde, unverständliche und lächerliche Schöne besudeln und verleumden konnten.
Die ganze Kaufhalle, alles, was sie bevölkerte – ob Kaufleute oder Kommis –, lebte ein seltsames Leben, das voller kindisch alberner, aber stets boshafter Belustigungen war. Wenn sich ein zugereister Bauer erkundigte, wie er auf kürzestem Wege in den oder jenen Stadtteil gelangen könne, wies man ihm regelmäßig die falsche Richtung – das wurde so sehr zur Gewohnheit, daß es niemandem mehr Vergnügen machte. Fing man zwei Ratten, dann band man ihnen die Schwänze zusammen, jagte sie auf die Straße hinaus und weidete sich daran, wie sie, die eine da-, die andere dorthin, auseinanderstrebten und sich gegenseitig bissen; gelegentlich begoß man so eine Ratte auch mit Petroleum und steckte sie an. Oder man band einem Hund einen ausgedienten eisernen Eimer an den Schwanz – der Hund stob im wildem Schrecken heulend und polternd davon, während die Menschen zusahen und wieherten.
Es gab eine ganze Reihe solcher Zerstreuungen; die Menschen – insbesondere die vom Dorf – schienen einzig und allein zur Belustigung der Kaufhalle dazusein. Man spürte den ständigen Wunsch, sich über die Leute lustig zu machen, ihnen weh zu tun, sie in Verlegenheit zu bringen. Und es blieb merkwürdig genug: Die Bücher, die ich gelesen hatte, wußten von diesem ständigen angespannten Bestreben der Menschen, sich gegenseitig eins auszuwischen, nichts zu berichten.
Eine von den Belustigungen der Kaufhalle war mir besonders ärgerlich und zuwider.
Es gab im Laden unter uns bei einem Kaufmann, der mit Wolle und Filzstiefeln handelte, einen Kommis, dessen Gefräßigkeit den ganzen Nishnij-Basar in Erstaunen setzte; der Ladenbesitzer prahlte mit dieser Fähigkeit seines Angestellten, wie man mit der Bissigkeit eines Hundes oder der Kraft eines Pferdes prahlt. Nicht selten forderte er die benachbarten Ladenbesitzer zu einer Wette heraus: »Wer setzt zehn Rubel dagegen? Ich wette, daß Mischka innerhalb von zwei Stunden zehn Pfund Schinken hinunterschlingen wird!«
Alle wußten, Mischka war dazu imstande, und sagten: »Auf eine Wette lassen wir uns nicht ein, den Schinken aber kann man ja kaufen, soll er ihn schlingen, wir sehen zu.«
»Es muß aber schieres Fleisch sein – ohne Knochen!«
Man streitet sich ein wenig ohne rechte Lust herum, und schließlich kommt aus dem dunklen Lagerraum ein hagerer, bartloser Bursche mit vorstehenden Backenknochen zum Vorschein, in einem langen, rotgegürteten Tuchmantel voller Wollfusseln. Er nimmt respektvoll die Mütze von seinem kleinen Kopf und sieht mit trübem Blick aus tiefliegenden Augen in das rotangelaufene, von dicken Haarstoppeln überwucherte Gesicht seines Prinzipals.
»Schaffst du zehn Pfund Schinken?«
»In welcher Zeit, wenn ich fragen darf?« erkundigt sich Mischka sachlich mit dünner Stimme.
»In zwei Stunden.«
»Das ist ein bißchen schwer!«
»Was heißt hier – schwer!«
»Geben Sie zwei Fläschchen Bier dazu aus!«
»Also gut, dann los«, entgegnet sein Brotherr und wirft sich in die Brust. »Glaubt ja nicht, daß er's auf nüchternen Magen tut! Er hat gleich morgens seine zwei Pfund Weißbrot verdrückt und auch, wie sich's gehört, zu Mittag gegessen . . .«
Man bringt den Schinken, und die Zuschauer, lauter stämmige, in dicke, schwere Pelze gehüllte Kaufleute, die an riesige Gewichte erinnern, finden sich ein; alle haben sie dicke Bäuche, dafür aber kleine Augen, die in Fettpolstern versinken und von einem schläfrigen Schleier ständiger Langeweile überzogen sind.
Die Hände in die Ärmel gesteckt, drängen sie sich in engem Kreis um den Esser, der mit einem Messer und einem großen Kanten Roggenbrot bewaffnet ist; nachdem er sich inbrünstig bekreuzigt hat, setzt er sich auf einen Ballen Wolle, legt den Schinken auf eine Kiste neben sich und mißt ihn mit leerem Blick.
Er schneidet eine dünne Scheibe Brot und eine dicke Scheibe Schinken ab, legt sie hübsch säuberlich zusammen und führt sie mit beiden Händen an den Mund; seine Lippen zittern, er beleckt sie mit seiner langen Hundezunge, man sieht die scharfen kleinen Zähne; dann neigt er sich vor – wie ein Hund mit der Schnauze über den Fraß.
»Er fängt an!«
»Seht nach der Uhr!«
Alle Augen richten sich sachlich auf das Gesicht des Essenden, auf seinen Unterkiefer, auf die runden Muskelknötchen neben den Ohren; man beobachtet, wie das spitze Kinn sich gleichmäßig hebt und senkt, und tauscht träge seine Gedanken aus.
»So richtig, als ob ein Bär schlingt!«
»Hast du schon einen Bären fressen sehen?«
»Leb ich vielleicht im Walde? Man sagt eben so – frißt wie ein Bär.«
»Man sagt – frißt wie ein Schwein.«
»Seit wann frißt ein Schwein – Schwein?«
Es wird lustlos gelacht, und jemand, der Bescheid weiß, wendet sogleich ein: »Ein Schwein frißt alles – auch seine eigenen Ferkel und die eigene Schwester . . .«
Das Gesicht des Essenden färbt sich allmählich graubraun, die Ohren werden grauviolett, die eingefallenen Augen treten aus ihren Knochenhöhlen hervor; sein Atem geht schwer, aber sein Kinn bewegt sich nach wie vor gleichmäßig auf und ab.
»Halt dich ran, Michailo, die Zeit!« ermuntert man ihn. Er mißt den Rest des Schinkens unruhig mit dem Blick, trinkt einen Schluck Bier und schmatzt weiter.
Das Publikum wird lebhafter, man blickt immer öfter auf die Uhr, die Mischkas Chef in der Hand hält, und warnt einander: »Er kriegt es fertig und dreht die Uhr zurück – nehmt sie ihm fort!«
»Paß lieber auf Mischka auf, er schiebt die Bissen noch in die Ärmel!«
»Er schafft es nicht in der Zeit!«
Mischkas Brotherr ruft hitzig aus: »Ich setze einen Fünfundzwanzigrubelschein! Mischka, halt aus!«
Die Zuschauer reizen Mischkas Herrn immer mehr, auf eine Wette läßt sich jedoch niemand ein.
Mischka aber kaut und kaut, sein Gesicht erinnert bereits an den Schinken, die spitze, knorplige Nase gibt ein klägliches Pfeifen von sich. Er ist erschreckend anzusehen, ich fürchte, er wird jeden Augenblick aufschreien und losjammern: Erbarmt euch . . .
Oder er wird sich bis an den Hals vollschlingen, vor die Füße der Zuschauer sinken und sterben.
Doch schließlich hat er es geschafft, reißt die benebelten Augen auf und keucht mit müder Stimme: »Geben Sie mir zu trinken . . .«
Sein Herr aber sieht auf die Uhr und knurrt: »Hat sich vier Minuten verspätet, der Schlingel . . .«
Das Publikum hänselt ihn: »Schade, daß wir nicht auf die Wette eingegangen sind – du hättest sie verloren!«
»Ist immerhin ein Kerl, der Bursche!«
»Hm – ja, der könnte sich im Zirkus sehen lassen . . .«
»Wie doch der Herrgott den Menschen manchmal entarten läßt!«
»Gehen wir Tee trinken! Oder was ist?«
Und sie schwimmen in die Gastwirtschaft wie Lastkähne.
Ich möchte gern begreifen, was diese gußeisenschweren Menschen neben dem unglückseligen Burschen festhält, warum sie seine krankhafte Gefräßigkeit ergötzt.
In der engen Galerie, die mit Wolle, Schaffellen, Filzstiefeln, Hanf, Seiler- und Sattlerwaren vollgestapelt ist, herrscht Halbdunkel und Trostlosigkeit. Vom Bürgersteig ist die Galerie durch Ziegelsäulen abgeteilt; unförmig dick, sind sie angenagt von der Zeit und mit Straßenschmutz bespritzt. Die Ziegelsteine und die Fugen zwischen ihnen habe ich im Geist sicher schon tausendmal gezählt, das schwere Netz ihres häßlichen Musters hat sich für immer meinem Gedächtnis eingeprägt.
Auf dem Bürgersteig gehen ohne Hast Fußgänger umher; auf dem Fahrdamm bewegen sich gemächlich Schlitten mit Fahrgästen oder Waren; hinter dem Fahrdamm, vom roten Ziegelquadrat der zweistöckigen Läden eingerahmt – ein Platz, der voller Kisten, Stroh, zerknittertem Packpapier liegt und mit schmutzigem, zertretenem Schnee bedeckt ist.
Alles das, zusammen mit den Menschen und den Pferden, erscheint trotz der Bewegung unbeweglich, dreht sich träg auf der Stelle, durch unsichtbare Ketten an sie gebannt. Man fühlt auf einmal, daß dieses Leben fast lautlos, so arm an Lauten ist, als wäre es stumm. Die Schlittenkufen knirschen, die Ladentüren klappen, Straßenhändler rufen Piroggen und Honigwasser aus, aber ihre Stimmen klingen unfroh und lustlos; sie sind eintönig, man gewöhnt sich rasch an sie und nimmt sie bald nicht mehr wahr.
Die Kirchenglocken rufen wie zum Begräbnis, man hat ihr trauriges Läuten ständig im Ohr. Es scheint von morgens bis nachts ununterbrochen über dem Basar zu schwingen, durchdringt alle Gedanken und Gefühle und überzieht als schwere Kupferpatina alle Eindrücke.
Kalte, quälende Langeweile weht einem von überallher entgegen – von der mit schmutzigem Schnee bedeckten Erde, von den grauen Schneewehen auf den Dächern, vom Fleischrot der Ziegelbauten; sie steigt als grauer Rauch aus den Schornsteinen zum blaßgrauen, leeren, niedrigen Himmel; sie ist im Atem der Menschen, im Dampf, der von den Pferden ausgeht. Sie hat ihren eigenen Geruch – einen schweren, dumpfen Geruch von Schweiß, Fett und Hanföl, von Sauerteigpiroggen und Rauch; dieser Geruch preßt den Kopf wie eine warme, zu enge Mütze, dringt bis in die Brust und ruft eine Art Trunkenheit, ruft den unklaren Wunsch hervor, die Augen zu schließen, verzweifelt aufzuschreien, irgendwohin davonzustürzen und aus vollem Lauf mit dem Kopf gegen die erste beste Wand zu rennen.
Ich sehe mir die Kaufleute aufmerksam an – ihre Gesichter strotzen von dickem, fettem Blut, sind wohlgenährt, rotgekniffen vom Frost und unbeweglich wie im Schlaf. Man gähnt häufig und reißt den Mund dabei auf wie ein auf Sand geratener Fisch.
Im Winter geht der Handel schlecht, und der gespannte wölfische Glanz, der die Augen der Schacherer einigermaßen verschönt, solange es Sommer ist, erlischt. Die schweren Pelze beengen die Menschen in den Bewegungen und drücken sie zur Erde nieder; die Kaufleute werden maulfaul, ärgern sie sich jedoch, dann gibt es sogleich Streit; ich glaube, sie streiten sich absichtlich, nur um einander zu beweisen – wir sind noch da!
Mir ist völlig klar, daß nur die Langeweile sie würgt, sie umbringt; ich kann mir die rohen, unklugen Dinge, mit denen sie sich die Zeit vertreiben, nur aus dem hoffnungslosen Kampf gegen die Allgewalt der Langeweile erklären.
Manchmal unterhalte ich mich mit Pjotr Wassiljitsch darüber. Obwohl er mich im allgemeinen spöttisch, ja höhnisch behandelt, gefällt ihm doch meine Leidenschaft für Bücher, und er läßt sich gelegentlich dazu herab, belehrend und ernst mit mir zu reden.
»Es gefällt mir nicht, wie die Kaufleute leben«, sage ich.
Er wickelt eine Bartsträhne um seinen langen Finger und fragt: »Und woher willst du wissen, wie sie leben? Bist du vielleicht öfter bei ihnen zu Gast? Hier, mein Junge, ist die Straße, und auf der Straße leben die Menschen nicht, da treiben sie Handel; man geht nur rasch von einem Ende bis zum anderen – und wieder nach Hause! Auf die Straße kommen die Menschen gut angezogen, aber wie sie darunter sind, das weiß man nicht; richtig lebt der Mensch nur zu Hause, in seinen vier Wänden, und wie er dort lebt – das ist uns unbekannt!«
»Ihre Gedanken bleiben aber doch dieselben, hier und zu Hause?«
»Wer kennt sich denn in den Gedanken des Nachbarn aus?« sagt der Alte mit gewichtigem Baß und streng gerundeten Augen. »Gedanken sind wie Läuse – sie sind nicht zu zählen, so sagte man früher. Vielleicht sinkt ein Mensch, wenn er nach Hause kommt, auf die Knie und weint und fleht zu Gott: ›Vergib, o Herr, ich habe Sünde auf mich geladen an deinem heiligen Tage!‹ Vielleicht ist sein Heim für ihn ein Kloster, in dem er allein mit seinem Herrgott lebt? So ist das alles. Jede Spinne braucht ihren Winkel – spinne dein Netz, aber kenne auch dein Gewicht, damit das Gewebe nicht reißt . . .«
Wenn er ernst redet, klingt seine Stimme noch tiefer, noch dunkler; es ist, als teile er mir ein wichtiges Geheimnis mit,
»Da denkst du nach und überlegst, dabei ist es zum Nachdenken für dich zu früh, in deinem Alter lebt man nicht vom Verstand, sondern vom Auge! Sieh also hin, behalte, was du gesehen, und schweig dich aus. Verstand – das ist für die Geschäfte, für die Arbeit, den Glauben braucht die Seele! Daß du Bücher liest, ist gut, aber man muß in allem maßhalten es hat schon welche gegeben, die beim Lesen den Verstand verloren haben oder gottlos geworden sind . . .«
Er schien mir unsterblich – ich konnte mir schwer vorstellen, daß er älter werden oder sich verändern könne. Gern erzählte er Geschichten von Kaufleuten, Räubern, Falschmünzern, die berühmt geworden waren; ich hatte schon viele solche Geschichten vom Großvater gehört, und er erzählte sie besser als der Bibelgelehrte. Der Sinn der Geschichten blieb jedoch derselbe – stets wurde der Reichtum durch eine Sünde gegen die Menschen und Gott erworben. Die Menschen taten Pjotr Wassiljitsch nicht leid, während er von Gott mit innigem Gefühl, seufzend, mit niedergeschlagenen Augen sprach.
»So betrügen sie Gott den Herrn; er aber, der Herr Jesus, sieht alles das und grämt sich: Ach, Menschen, ihr meine Menschen, ihr meine Schmerzenskinder, die Hölle ist euch bereitet!«
Eines Tages faßte ich mir ein Herz und erinnerte ihn: »Auch Sie betrügen doch die Bauern . . .«
Es kränkte ihn nicht.
»Um wieviel handelt es sich schon?« entgegnete er. »Drei oder fünf Rubel – mehr fällt nicht ab.«
Wenn er mich beim Lesen antraf, nahm er mir das Buch aus der Hand, fragte mich nörglerisch nach dem Gelesenen und meinte ungläubig und verwundert zum Kommis: »Schau einer an – der Schlingel versteht, was er liest!«
Und er belehrte mich klar und einprägsam: »Höre auf meine Worte, du kannst das brauchen! Es hat zwei Bischöfe namens Kirill gegeben; der eine war Bischof von Alexandria, der andere von Jerusalem. Der erste stritt gegen den gottverfluchten Ketzer Nestor, der schamlos lehrte, die Muttergottes sei ein Mensch gewesen und habe somit auch keinen Gott, sondern wiederum nur einen Menschen geboren, dem Namen und Werke nach Christus, Erlöser der Welt; es müsse also nicht Muttergottes, sondern Mutterchristi heißen – hast du verstanden? Das wurde als Ketzerei verdammt! Kirill von Jerusalem aber stritt gegen den Ketzer Arius . . .«
Ich war von seiner Kenntnis der Kirchengeschichte im höchsten Grade begeistert, während er nur mit gepflegter Popenhand seinen Bart zottelte und sich rühmte: »Ich bin in diesen Dingen General; Pfingsten war ich in Moskau zu einem Wortstreit mit gehässigen gelehrten Nikonianern, geistlichen wie weltlichen; ich, Bursche, habe sogar Gespräche mit Professoren geführt, jawohl! Den einen Popen habe ich mit der Waffe des Worts so in die Enge getrieben, daß er Nasenbluten bekam – da hast du's!«
Seine Wangen röteten sich, die Augen wurden lebhaft.
Er sah das Nasenbluten seines Widersachers offenbar als Höhepunkt seines Erfolges an, als strahlendsten Rubin im goldenen Kranz seines Ruhms, und wollüstig erzählte er: »Ein wooohlgestalter, riesiger Pope! Steht vor dem Chorpult, und aus der Nase tropft's! Und er merkt nicht mal seine Schande! War grimmig wie ein Löwe in der Wüste, mit einer Stimme wie eine Kirchenglocke! Meine Worte aber treffen ihn sacht mitten ins Herz, zwischen den Rippen hindurch wie Ahlen! Während er von häretischer Wut geradezu wie ein glühender Ofen entbrennt . . . Hach, das waren Sachen!«
Nicht selten sahen auch andere Bibelkundige herein: Pachomij, ein Mann mit großem Bauch, in speckigem Rock, aufgedunsen und grunzend, auf einem Auge blind; Lukian, klein, alt, glatt wie eine Maus, dabei freundlich und munter; mit ihm ein großer finsterer Mann, der wie ein Kutscher aussah, mit schwarzem Bart, leblosem, unangenehmem, aber schönem Gesicht und unbeweglichen Augen.
Fast immer kamen sie, um altertümliche Bücher, Ikonen, Räuchergefäße und irgendwelche Kelche zu verkaufen; gelegentlich brachten sie auch den Verkaufenden mit – einen alten Mann oder eine alte Frau von jenseits der Wolga. Wenn sie die Geschäfte erledigt hatten, ließen sie sich vor dem Ladentisch nieder wie eine Krähenschar auf dem Feldrain, tranken Tee mit Fastenzucker, aßen Weizensemmeln dazu und erzählten sich von den Verfolgungen durch die nikonianische Kirche – da war eine Haussuchung gewesen und waren Meßbücher beschlagnahmt worden, dort hatte die Polizei ein Bethaus geschlossen und den Hausbesitzer auf Grund des Artikels 103 vor Gericht zitiert. Dieser Artikel 103 kam in den Unterhaltungen besonders häufig vor, sie sprachen jedoch gelassen von ihm – als ginge es um etwas Unvermeidliches wie, sagen wir, die Winterfröste.
Die Worte Polizei, Haussuchung, Gefängnis, Gericht, Sibirien, alles Worte, die in den Unterhaltungen über die Glaubensverfolgungen immerfort wiederkehrten, verbrannten mir das Herz wie mit glühenden Kohlen und weckten Sympathie und Mitleid mit diesen Alten; die Bücher, die ich gelesen hatte, hatten mich gelehrt, Menschen, die hartnäckig ihr Ziel verfolgten, zu achten, ihre Standhaftigkeit zu schätzen.
Ich vergaß alles Schlechte, das ich an diesen Lehrern des Lebens beobachtet hatte, und fühlte nur die gelassene Hartnäckigkeit, hinter der sich, wie mir schien, der unerschütterliche Glaube an die Wahrheit ihrer Lehre verbarg, die Bereitschaft, um dieser Wahrheit willen jedes Martyrium zu erdulden.
Später, nachdem ich viele solche Eiferer für den alten Glauben gesehen hatte – solche und ähnliche, aus dem Volk und aus der Intelligenz –, wurde mir klar, daß ihre Hartnäckigkeit weiter nichts als die Passivität von Menschen ist, die sich von dort, wo sie nun einmal stehen, nirgends mehr hinwenden können und auch nicht wollen, weil sie, im Netz alter Worte und überlebter Begriffe gefangen, in diesen Worten und Begriffen völlig erstarrt sind. Ihr Wille ist unbeweglich, ist unfähig, sich in der Richtung auf das Künftige zu entwickeln, und wenn sie irgendein Stoß von außen aus der gewohnten Stellung wirft, rollen sie mechanisch abwärts – wie ein Stein den Hang hinab. Sie halten sich auf ihren Posten am Friedhof der überlebten Wahrheiten nur dank der starren Macht ihrer Erinnerungen an das Vergangene und ihrer krankhaften Liebe zum Leiden, zum Unterdrücktsein; nimmt man ihnen jedoch die Möglichkeit zum Leiden, dann lösen sie sich, gleichsam ausgehöhlt, auf – wie Wolken an einem frischen, windigen Tag.
Der Glaube, für den sie mit Vergnügen und vieler Selbstglorifizierung zu leiden bereit sind, ist unbestreitbar ein echter, fester Glaube, der aber dennoch an abgetragene Kleidung erinnert – sie, diese Kleidung, ist von allerlei Schmutz durchtränkt und nur aus diesem Grunde dem zerstörenden Einfluß der Zeit nicht allzusehr ausgesetzt. Gedanken und Gefühle haben sich an die enge, bedrückende Hülle der Vorurteile und Dogmen gewöhnt und leben einigermaßen bequem und behaglich in ihr fort, wenn auch verstümmelt und der Schwingen beraubt.
Dieser Glaube aus Gewohnheit gehört zu den betrüblichsten und schädlichsten Erscheinungen unseres Lebens; in seinem Bereich wächst alles Neue nur langsam heran, reift saft- und kraftlos wie im Schatten einer Mauer. In jenem dunklen Glauben sind allzuwenig Strahlen der Liebe, ist allzuviel Kränkung, Erbitterung, Neid – das heißt soviel wie Haß. Das Licht dieses Glaubens ist das Phosphoreszieren der Fäulnis.
Um mich von alledem zu überzeugen, mußte ich schwere Jahre hinter mich bringen, vieles in meiner Seele umkrempeln, vieles aus dem Gedächtnis ausmerzen. Damals jedoch, als ich diesen Lehrern des Lebens in der skrupellosen und öden Wirklichkeit zum erstenmal begegnete, erschienen sie mir als Menschen von hoher geistiger Kraft, als die besten Menschen auf dieser Erde. Fast jeder von ihnen hatte vor Gericht gestanden und im Gefängnis gesessen, fast jeder war aus seiner Stadt ausgewiesen und per Etappe mit einem Arrestantentransport abgeschoben worden; alle waren vorsichtig, alle versteckten sich.
Ich sah jedoch, daß diese Alten, obwohl sie sich über die »Bedrückung des Geistes« durch die Nikonianer beklagten, einander selber recht gern, ja mit Vergnügen zusetzten.
Der einäugige Pachomij rühmte sich, wenn er getrunken hatte, gern seines Gedächtnisses; es war in der Tat erstaunlich; gewisse Bücher konnte er auswendig hersagen wie ein gelehrter Talmudist – er tippte mit dem Finger auf irgendeine Seite und sprach von dem Wort an, das er getroffen hatte, mit weicher, näselnder Stimme das übrige aus dem Gedächtnis nach. Er blickte dabei stets nach unten, sein einziges Auge glitt unruhig auf dem Boden umher, als suche er nach etwas sehr Wertvollem, das er verloren hatte. Am häufigsten demonstrierte er sein Kunststück am Buch des Fürsten Myschezkij »Russische Weintrauben« – besonders gut kannte er »die geduldig und tapfer ertragenen Leiden bewundernswerter, unendlich mutiger Dulder«; Pjotr Wassiljitsch versuchte ihn immerfort bei einem Fehler zu ertappen.
»Irrtum! Das hat sich nicht mit Kiprian dem gottgefälligen Narren, sondern mit Denis dem Keuschen ereignet!«
»Mit was denn für einem Denis? Dionissij heißt er . . .«
»Klammer dich nicht an Worte!«
»Und du – belehr mich nicht!«
Einen Augenblick später starren sie sich zornentbrannt an, und Pjotr Wassiljitsch sagt: »Ein Diener des Bauches bist du, schamlose Fratze, da – was für einen Wanst du dir angefressen hast . . .«
Pachomij entgegnet, als hackte er seine Worte mit dem Messer ab: »Und du bist ein Lüstling, ein weibertoller Ziegenbock!«
Der Kommis hetzt mit hämischem Lächeln, die Hände in den Ärmeln versteckt, die Wahrer der alten Gottesfurcht wie Schulbuben gegeneinander: »Gut so! Immer zu, gib ihm!«
Eines Tages gerieten die beiden Alten ins Handgemenge. Pjotr Wassiljew, der seinen Berufsgenossen mit überraschender Gewandtheit rechts und links auf die Wangen klatschte und in die Flucht schlug, wischte sich müde den Schweiß vom Gesicht und rief dem Flüchtenden nach: »Nimm dich in acht – diese Sünde kommt über dich! Nur du, Verfluchter, hast meine Hand zur Sünde verleitet, pfui über dich!«
Mit besonderer Vorliebe warf er seinen Berufsgenossen vor, sie seien nicht fest genug im Glauben und verfielen fortwährend der Netowschtschina, der Lehre der Verneiner.
»Ihr laßt euch immerfort von Alexascha verwirren – man denke, was für ein Hahn da plötzlich kräht!«
Die Netowschtschina war ihm ein Ärgernis, sie ängstigte ihn offenbar, doch pflegte er auf die Frage, worin denn der Sinn dieser Lehre bestehe, nicht allzu einleuchtend zu antworten: »Die Netowschtschina ist schlimmste Ketzerei, in ihr ist nur noch Verstand, aber nicht Gott! Bei den Kosaken zum Beispiel wird heute nichts mehr verehrt, nur noch die Bibel, das mit der Bibel aber kommt aus Saratow, von den Deutschen, von Luther. Sein Name aber bedeutet in Wahrheit Ljutor, der Grimmige. Die Netowzy werden Verrückte oder Stundisten genannt, und alles das kommt vom Westen, von den dortigen Ketzern.«
Er stampfte mit dem verkrüppelten Fuß und fuhr kalt und gewichtig fort: »Die sollte die Kirche neuen Glaubens verfolgen, die sollte sie vernichten und verbrennen! Nicht uns! Wir sind das wahre Rußland, unser Glaube ist echter, östlicher, urrussischer Glaube, während das alles der Westen, verstümmelte Freidenkerei ist! Was kann von den Deutschen, den Franzosen schon Gutes kommen? Im Jahre zwölf zum Beispiel . . .«
In seinem Eifer vergaß er, daß er einen Jungen vor sich hatte, packte mich am Gürtel, zog mich an sich oder stieß mich fort und sprach erregt weiter – schön, hitzig und jugendlich: »Da irrt der menschliche Verstand, vom Teufel unterworfen, wie ein grimmiger Wolf im Dickicht der eigenen Hirngespinste umher, zerfleischt die liebe menschliche Seele, das Gottesgeschenk! Was haben sie sich denn ausgedacht, diese Novizen des Teufels? Die Bogomilen, von denen die Netowschtschina ja herkommt, lehrten, Satan sei Gottes Sohn, der ältere Bruder Jesu Christi – so weit verstiegen sie sich! Sie lehrten auch, man solle der Obrigkeit nicht gehorchen, keine Arbeit mehr tun und Frau und Kinder verlassen; der Mensch brauche das alles nicht, er brauche keinerlei Ordnung, man solle ihn leben lassen, wie er will, wie ihm der Teufel eingibt. Da ist jetzt wieder dieser Alexaschka aufgetaucht, oh, das Gewürm . . .«
Es kam vor, daß der Kommis gerade irgendeinen Auftrag für mich hatte und ich den Alten verlassen mußte; der jedoch sprach, allein auf der Galerie geblieben, in die Leere um ihn herum weiter: »O Seelen ohne Schwingen, o blindgeborene Katzenjunge – wohin entfliehe ich vor euch?«
Dann schwieg er still, den Kopf zurückgeworfen, die Hände in die Knie gestemmt, und blickte lange unverwandt und regungslos zum grauen Winterhimmel.
Er behandelte mich jetzt aufmerksamer und freundlicher; wenn er mich über einem Buch antraf, streichelte er meine Schulter und sagte: »Lies, mein Junge, lies, das ist nur nützlich! Verstand scheinst du zu haben, nur schade, daß du das Alter nicht ehrst, daß du immer zurückbeißen mußt – was meinst du wohl, wohin dich dieser Übermut führen wird? Geradewegs ins Gefängnis, nirgendwohin sonst! Lies nur, lies Bücher, aber vergiß nicht – das Buch ist gut, der eigene Verstand ist besser! Da war bei den Chlysten, den Geißlern, ein Lehrer namens Danilo, und der kam zu der Überzeugung, man brauche keine Bücher, weder alte noch neue, er packte sie alle in einen Sack und – fort mit ihnen, ins Wasser! Nun ja . . . Auch das ist natürlich Dummheit! So ähnlich bringt auch Alexascha, der Hundskopf, alles in Verwirrung . . .«
Diesen Alexascha erwähnte er immer öfter, und eines Tages kam er bekümmert und finster in den Laden und erklärte dem Kommis: »Alexander Wassiljew ist in der Stadt, er ist gestern angekommen! Ich habe ihn überall gesucht und nirgends gefunden. Er versteckt sich! Ich bleibe ein bißchen sitzen, vielleicht schaut er bei euch herein . . .«
Der Kommis gab unfreundlich zur Antwort: »Ich weiß von nichts, ich kenne niemand!«
Der Alte nickte nur und sagte: »Ist auch in Ordnung – für dich sind alle Menschen Käufer oder Verkäufer, andere gibt es nicht! Du könntest mich mal mit Tee bewirten . . .«
Als ich mit einer großen Kupferkanne voll heißem Wasser zurückkam, fand ich Besuch im Laden vor – den alten Lukian, der vergnügt lächelte, und einen mir neuen Mann, der im Schatten der Tür, in einer dunklen Ecke saß, in warmem, grün gegürtetem Mantel und hohen Filzstiefeln, mit ungeschickt auf die Brauen geschobener Mütze. Das Gesicht war wenig bemerkenswert, der Mann schien still und bescheiden und erinnerte an einen Kommis, der soeben seine Stellung verloren hat und sehr bedrückt ist.
Pjotr Wassiljitsch sprach ernst und gewichtig, ohne zu ihm hinzusehen, während der andere mit einer krampfhaften Bewegung der rechten Hand in einem fort an seiner Mütze rückte – er hob die Hand, als wolle er sich bekreuzigen, und schob die Mütze zurück, wieder und wieder, fast bis zum Scheitel, dann zog er sie aufs neue straff und ungeschickt bis auf die Brauen herunter. Diese krampfhafte Gebärde ließ mich an den Narren Igoscha, genannt »Tod in der Tasche«, zurückdenken.
»Da tummeln sich in unserem trüben Flüßchen allerlei Quappen und trüben das Wasser immer mehr«, sagte Pjotr Wassiljitsch.
Der Mann, der an einen Kommis erinnerte, fragte sehr ruhig und leise: »Sprichst du vielleicht von mir?«
»Wenn du willst – auch von dir . . .«
Da fragte der Mann aufs neue ebenso leise wie eindringlich: »Und was würdest du von dir selber sagen, du – Menschenkind?«
»Von mir selber spreche ich nur zu Gott – das geht nur mich etwas an . . .«
»Nein, Menschenkind, auch mich«, entgegnete feierlich und stark der Neue. »Wende dein Angesicht nicht von der Wahrheit ab, verblende dich nicht selber, es wäre schwere Sünde vor Gott und den Menschen!«
Mir gefiel, daß er Pjotr Wassiljitsch »Menschenkind« nannte, und seine leise, feierliche Stimme bewegte mich. Er sprach so, wie ein guter Pope das »Herr, Gebieter meines Lebens« liest, beugte sich dabei immer mehr vor, rutschte beinahe vom Stuhl und warf in einem fort die Hand vor dem Gesicht hoch . . .
»Verurteile mich nicht, ich bin nicht tiefer in Sünde verstrickt als du . . .«
»Jetzt kocht der Samowar, jetzt faucht er«, flocht geringschätzig der alte Bibelkundige ein, während der andere seine Worte überhörte und fortfuhr: »Gott allein weiß, wer den Quell des Heiligen Geistes stärker trübt, vielleicht ist es eure Sünde, vielleicht tut ihr es, papierene Büchermenschen! Ich bin kein Buchgelehrter, ich bin nur ein einfacher, alltäglicher Mensch . . .«
»Deine Einfachheit kenne ich, ich habe genug von ihr gehört!«
»Ihr allein verwirrt die Leute, ihr allein verbiegt die geraden Gedanken, ihr Buchgelehrten und Pharisäer . . . Was lehre ich denn, sag?«
»Ketzerei!« entgegnete Pjotr Wassiljew, doch der Mann, der immerfort die Hand vor dem Gesicht hin und her bewegte, als läse er von ihr ab, fuhr eifrig fort: »Ihr glaubt, wenn ihr die Menschen aus einem Stall in den anderen treibt, dann tut ihr ihnen etwas Gutes? Ich sage – nein! Ich sage – o Mensch, mach dich frei! Was ist dein Haus, dein Weib und alles, was dein ist, vor Gott dem Herrn? Mach dich frei von allem, um dessentwillen die Menschen einander erschlagen und morden – vom Gold, vom Silber, von jeglichem Besitz, der doch nur Eitelkeit und Vergänglichkeit ist! Nicht auf den irdischen Fluren, in den Tälern des Paradieses suchet das Seelenheil! Reißt euch los von allem, so sage ich, zerreißt alle Banden und Fesseln, zerreißt die Verstrickungen dieser Welt – sie kommen vom Antichrist . . . Ich gehe den geraden Weg, ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube, ich nehme die dunkle Welt nicht an . . .«
»Aber Brot, Wasser und Kleidung nimmst du an? Die sind doch wohl von dieser Welt?« warf giftig der Alte ein.
Auch diese Worte berührten Alexander nicht; er fuhr immer eindringlicher fort, und obwohl seine Stimme gedämpft klang, schien es, als stieße er in eine Posaune: »Was hat dir teuer zu sein, o Menschenkind? Nur Gott allein! So tritt denn völlig rein vor ihn hin, streif die irdischen Bände von deiner Seele ab, und der Herrgott wird sehen – du bist allein, er ist allein! Nur so näherst du dich dem Herrn – es ist der einzige Weg zu ihm! Das ist der Weg zum Heil, so steht geschrieben: Der Mensch wird Vater und Mutter verlassen. Verlasse alles. So dich dein Auge ärgert, reiß es aus! Zerstöre deine Glieder um des Herrn willen, aber bewahre deinen Geist, und deine Seele wird aufflammen und fortlodern in alle Ewigkeit . . .«
»Nun aber zu den stinkenden Hunden mit dir«, sagte Pjotr Wassiljew und erhob sich. »Ich hatte schon geglaubt, du seist seit dem vorigen Jahr klüger geworden, aber du bist ja schlimmer als früher . . .«
Der alte Mann wankte auf die Terrasse hinaus; Alexander stutzte und fragte verwundert und etwas hastig: »Du gehst? Aber . . . was ist denn nun?«
Der freundliche Lukian zwinkerte ihm beschwichtigend zu und meinte: »Hat nichts zu sagen . . . hat nichts zu sagen . . .«
Da fiel Alexander über ihn her: »Auch du, geschäftiger Erdenbewohner, ergehst dich in leeren Worten! Was hat das alles für einen Sinn? Ob nun das Halleluja dreimal . . . oder nur zweimal gesungen wird . . .«
Lukian lächelte ihm zu und ging seinerseits auf die Terrasse hinaus, während sich Alexander an den Kommis wandte und überzeugt sagte: »Sie können mich eben nicht leiden, nein, wirklich nicht! Verziehen sich vor mir wie Rauch im Angesicht des Feuers . . .«
Der Kommis sah ihn verdrossen an und gab trocken zur Antwort: »Um diese Dinge kümmere ich mich nicht.«
Der Mann schien einen Augenblick verwirrt, drückte die Mütze in die Stirn und murmelte: »Wie das? nicht kümmern? Es sind doch Dinge . . . die einfach verlangen, daß man sich um sie kümmert . . .«
Er blieb eine Weile sitzen, schweigend und mit gesenktem Kopf; dann riefen ihn die beiden Alten, und alle drei gingen, ohne sich zu verabschieden, davon.
Dieser Mann war vor mir aufgeflammt wie ein Lagerfeuer in der Nacht, loderte eine Zeitlang fort und erlosch, ließ mich indessen spüren, daß eine Art Wahrheit in seiner Lebensverneinung steckte.
Abends suchte ich mir einen passenden Augenblick aus und erzählte dem Obermeister der Ikonenwerkstatt, dem stillen und freundlichen Iwan Larionowitsch, mit vielem Eifer von ihm; er hörte mich an und meinte: »Wird ein Begun sein – es gibt da so eine Sekte, die nichts und niemand anerkennt.«
»Wie leben sie denn?«
»Sie ziehen auf der Erde umher und fliehen alles – daher auch ihr Name Beguny, die Flüchtenden, die Läufer. Die Erde und alles, was dazugehört, ist etwas Fremdes für uns, behaupten sie, während die Polizei sie als Schädlinge ansieht und einsperrt, wo sie sie kriegt . . .«
Obwohl es mir bitter genug erging, verstand ich doch nicht, wie man so einfach allem entfliehen könne. Im Leben, das mich umgab, gab es viel Interessantes, ja Anziehendes, und die Erinnerung an Alexander Wassiljew verblaßte sehr rasch.
Dennoch sah ich ihn dann und wann in einer schweren Stunde vor mir – er strebte auf einem grauen Pfad über ein Feld zum Wald, stieß den Stock mit einer krampfhaften Bewegung seiner weißen, der Arbeit entwöhnten Hand in den Boden und murmelte vor sich hin: »Ich gehe den rechten Weg, ich nehme nichts an! Wirf die Fesseln ab . . .«
Neben ihm tauchte in der Erinnerung mein Vater vor mir auf, wie ihn die Großmutter im Traum erblickt hatte – mit einem Haselnußstöckchen in der Hand, gefolgt von einem scheckigen Hund mit hängender Zunge.