Maxim Gorki
Unter fremden Menschen
Maxim Gorki

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10

Noch bevor die Zuschneidersfrau verschwand, zog in die Wohnung unter der meiner Herrschaft eine schwarzäugige junge Dame mit ihrem Töchterchen und ihrer Mutter ein, einer grauhaarigen alten Frau, die ununterbrochen Zigaretten durch eine Bernsteinspitze rauchte. Die Dame war sehr schön; herrisch und stolz, sprach sie mit tiefer angenehmer Stimme und blickte alle Menschen mit zurückgeworfenem Kopf aus leicht zusammengekniffenen Augen an, als wären sie sehr weit von ihr entfernt und nur sehr schlecht zu sehen. Fast jeden Tag führte der schwarzhaarige Soldat Tjufjajew am Außentreppchen zu ihrer Wohnung einen Fuchs mit schlanken Beinen vor; die Dame trat in einem langen stahlgrauen Sammetkleid, weißen Stulpenhandschuhen und gelben Stiefeln auf die Treppenstufen vors Haus. Die Schleppe und die Reitgerte mit einem lila Stein am Griff in der einen, streichelte sie mit ihrer anderen kleinen Hand die freundlich gebleckte Schnauze des Pferdes – es schielte mit feurigem Auge zu ihr hin, zitterte an allen Gliedern und scharrte mit dem Huf über die festgetretene Erde.

»Robert, Rooobert«, redete sie mit gedämpfter Stimme dem Tier gut zu und klatschte kräftig seinen schön geschwungenen Hals.

Dann setzte sie den Fuß auf Tjufjajews Knie, schwang sich gewandt in den Sattel, und das Pferd tänzelte stolz auf dem Dammweg mit ihr davon; sie saß im Sattel, als wäre sie mit ihm verwachsen.

Ihre Schönheit war von jener seltenen Art, die immer neu und unvergleichlich erscheint und das Herz mit berauschender Freude erfüllt. Bei ihrem Anblick dachte ich mir, so müssen Diana von Poitiers, die Königin Margot, das Fräulein von La Vallière und all die anderen schönen Heldinnen historischer Romane gewesen sein.

Sie war ständig von Offizieren der Division, die in der Stadt lag, umgeben, abends wurde bei ihr Klavier und Geige oder Gitarre gespielt, gesungen und getanzt. Häufiger als die anderen scharwenzelte auf seinen kurzen Beinen Major Olessow um sie herum, dick, rotgesichtig, mit grauem Haar und speckig wie ein Dampfermaschinist. Er spielte gut Gitarre und führte sich als treu ergebener Diener seiner Dame auf.

Genauso beglückend hübsch wie die Mutter war auch das lockenköpfige, pausbäckige Töchterchen. Die riesigen blauen Augen der Fünfjährigen blickten ernst und mit ruhiger Erwartung drein; überhaupt hatte das Mädchen etwas Altkluges und Nachdenkliches.

Die Großmutter war von morgens bis abends zusammen mit dem finster-stummen Tjufjajew und einem schielenden dicken Stubenmädchen vom Haushalt in Anspruch genommen; ein Kindermädchen war nicht da, die Kleine wuchs fast ohne Aufsicht heran und spielte ganze Tage hindurch auf den Treppenstufen vor dem Haus oder auf einem Balkenstapel gegenüber der Treppe. Ich ging abends oft zu ihr hinaus, um mit ihr zu spielen, und gewann das Mädchen sehr lieb; auch sie gewöhnte sich rasch an mich und schlief, während ich ihr ein Märchen erzählte, in meinen Armen ein. Ich trug sie dann zu ihrem Bett.

Bald kam es so weit, daß sie beim Schlafengehen mit aller Bestimmtheit verlangte, ich solle kommen und ihr eine gute Nacht wünschen. Ich kam, sie streckte feierlich das dicke Händchen nach mir aus und sagte: »Bis morgen! Großmutter, wie muß man sagen?«

»Der Herrgott behüte dich«, entgegnete die Großmutter und stieß durch den Mund und die spitze Nase bläuliche Rauchwölkchen aus.

»Der Herrgott behüte dich bis morgen, ich muß jetzt schlafen«, wiederholte das Mädchen und hüllte sich in die spitzenbesetzte Decke.

Die Großmutter berichtigte sie: »Nicht bis morgen – immer!«

»Ist denn morgen nicht immer?«

Sie liebte das Wort »morgen« und übertrug alles, was ihr gefiel, in die Zukunft; da steckte sie Blumen und abgebrochene Zweige in die Erde und sagte: »Morgen wird das ein Garten sein.«

»Irgendwann morgen kaufe auch ich mir ein Pferd und reite wie Mama.«

Sie war gescheit, aber nicht allzu fröhlich – mitten in einem lebhaften Spiel konnte sie plötzlich nachdenklich werden und überraschend fragen: »Warum tragen die Priester die Haare wie die Frauen?«

Sie verbrannte sich an einer Brennessel, drohte ihr mit dem Finger und sagte: »Warte nur, wenn ich Gott darum bitte, geht es dir schrecklich schlecht. Gott kann jeden bestrafen, sogar Mama.«

Manchmal wurde sie von einer stillen, ernsten Schwermut befallen; sie schmiegte sich an mich, blickte mit erwartungsvollen blauen Augen zum Himmel und meinte: »Großmutter ist manchmal böse, aber Mama nie, sie lacht immer nur. Alle lieben sie, weil sie immer keine Zeit hat, immer kommen Gäste zu ihr und blicken sie an, weil sie so schön ist. Sie ist lieb, die Mama. Auch Olessow sagt – Mama ist lieb!«

Ich hörte ihr schrecklich gern zu – sie erzählte von einer Welt, die ich nicht kannte. Von ihrer Mutter sprach sie oft und viel – nach und nach eröffnete sich mir ein neues Leben, ich wurde aufs neue an die Königin Margot erinnert, und das vertiefte mein Vertrauen zu den Büchern wie mein Interesse für das Leben nur noch mehr.

Eines Abends, als ich auf den Treppenstufen vor dem Hause saß und auf die Herrschaft wartete, die am Otkos, am Hang, spazierenging, während die Kleine in meinen Armen schlummerte, kam ihre Mutter geritten, sprang gewandt ab, warf den Kopf in den Nacken und fragte: »Was ist denn – schläft sie vielleicht?«

»Ja.«

»Nein, wirklich?«

Der Soldat Tjufjajew stürzte aus dem Hause und übernahm das Pferd, die Dame steckte die Reitgerte in den Gürtel, streckte die Arme aus und sagte: »Gib sie mir!«

»Ich bringe sie selber hinauf!«

»Wird's bald?« fuhr mich die Dame an, als wäre ich ein Pferd, und stampfte mit dem Fuß.

Das Mädchen erwachte, sah zwinkernd zur Mutter und streckte ihrerseits die Arme aus. Dann gingen sie.

Daß man mich anschrie, war ich gewohnt, doch es berührte mich unangenehm, daß auch die Dame mich anschrie – ihr hätte jeder auf den leisesten Wink gehorcht.

Wenige Minuten später rief mich das schielende Stubenmädchen herein – die Kleine habe schlechte Laune und wolle nicht schlafen gehen, ohne mir gute Nacht gewünscht zu haben.

Ich betrat, ohne meinen Stolz vor der Mutter zu verhehlen, das Wohnzimmer – sie hielt das Mädchen auf dem Schoß und zog es mit geschickten Händen aus.

»Na also«, sagte sie, »da ist ja das Ungeheuer!«

»Das ist kein Ungeheuer, sondern mein Knabe . . .«

»Nein, wirklich? Sehr schön. Wir wollen deinem Knaben etwas schenken. Möchtest du?«

»Ja.«

»Ausgezeichnet. Ich tu's, und du gehst schlafen.«

»Bis morgen«, sagte das Mädchen und gab mir die Hand. »Der Herrgott behüte dich bis morgen.«

Erstaunt rief die Dame aus: »Wer hat dich das gelehrt – die Großmutter?«

»Jaaa . . .«

Nachdem die Kleine fort war, winkte die Dame mich mit dem Finger zu sich heran.

»Was soll ich dir denn schenken?«

Ich sagte ihr, daß ich keine Geschenke brauche – vielleicht könne sie mir irgendein Buch zum Lesen leihen.

Sie nahm mich mit heißen, duftenden Fingern am Kinn und fragte mit angenehmem Lächeln: »So ist das also, du liest gern, ja? Welche Bücher hast du denn schon gelesen?«

Das Lächeln machte sie noch schöner; ich nannte verlegen einige Romane.

»Was hat dir denn an ihnen gefallen?« erkundigte sie sich, legte die Hände auf den Tisch und bewegte ein wenig die Finger.

Ein süßer, starker Blumenduft, mit dem sich seltsam genug der Geruch von Pferdeschweiß vermischte, ging von ihr aus. Sie blickte mich mit nachdenklichem Ernst unter den langen Wimpern hervor an – so hatte mich bis dahin noch niemand angesehen.

Das Zimmer, mit schönen Polstermöbeln vollgestellt, wirkte eng wie ein Vogelnest; dichtes Grün von Zimmerpflanzen verdeckte die Fenster, schneeweiß blitzten im Dämmerlicht die Ofenkacheln, neben ihnen schimmerte ein schwarzes Klavier, während von den Wänden aus matten Goldrahmen irgendwelche dunklen Urkunden herabsahen; sie waren unregelmäßig und schief mit großen altslawischen Buchstaben übersät und mit einem großen dunklen Petschaft versehen, das von jeder Urkunde an einer Schnur herabhing. Alle diese Dinge blickten ihre Herrin ebenso schüchtern und ergeben an wie ich.

Ich erklärte ihr, so gut ich konnte, das Leben sei sehr schwer und langweilig, man vergesse das aber, wenn man Bücher lese.

»Jaaa, nein, wirklich?« sagte sie und erhob sich. »Das ist nicht schlecht gesagt, das ist wohl richtig . . . Nun gut, ich werde dir also Bücher zum Lesen geben, aber im Augenblick habe ich nichts für dich da . . . Oder doch, warte, nimm dieses hier . . .«

Sie nahm ein zerlesenes Buch in gelbem Einband vom Sofa.

»Wenn du es aus hast, gebe ich dir den zweiten Teil, es sind im ganzen vier . . .«

Ich trug, als ich ging, »Die Geheimnisse Petersburgs« von Fürst Meschtscherskij mit mir fort und vertiefte mich mit viel Aufmerksamkeit in das Buch, erkannte aber gleich von den ersten Seiten an, daß die Petersburger »Geheimnisse« entschieden langweiliger als die von Madrid, London oder Paris waren. Spaßig fand ich nur die Fabel von der Freiheit und dem Stock.

»Ich stehe höher als du«, sagte die Freiheit, »weil ich klüger bin.«

Der Stock aber entgegnete: »Nein, ich stehe höher als du, weil ich stärker bin.«

Sie stritten sich eine Weile und wurden schließlich handgemein; der Stock verprügelte die Freiheit, und die Freiheit verstarb – wenn ich mich recht erinnere – an den Folgen im Krankenhaus.

In dem Buch war auch von einem Nihilisten die Rede. Ich weiß noch, daß – nach dem Fürsten Meschtscherskij – ein Nihilist ein Mensch von solcher Giftigkeit ist, daß unter seinem Blick die Hühner krepieren. Der Ausdruck Nihilist erschien mir ungehörig und beleidigend, aber sonst verstand ich von alledem nichts; ich war verzagt – ich wußte ein gutes Buch offenbar nicht zu würdigen. Daß das Buch aber gut war, davon war ich überzeugt – eine so vornehme und schöne Dame würde doch keine schlechten lesen!

»Nun, hat es dir gefallen?« fragte sie mich, als ich ihr Meschtscherskijs gelben Roman zurückbrachte.

Es fiel mir sehr schwer, es zu verneinen – ich fürchtete, sie würde sich ärgern.

Sie brach jedoch nur in Lachen aus, verschwand hinter der Portiere in ihrem Schlafzimmer und kam mit einem blauen Saffianbändchen zurück.

»Das wird dir gefallen, aber mach keine Flecken hinein!«

Es waren Puschkins Poeme. Ich las sie in einem Zuge, gepackt von jener Leidenschaft, die man empfindet, wenn man in eine ungeahnt schöne Gegend kommt – man möchte sie sofort in allen Richtungen durchstreifen. So ist es, wenn man lange über Mooshügel durch einen sumpfigen Wald wandert und plötzlich eine trockene Lichtung voll Blumen und Sonne vor sich sieht. Man blickt eine kleine Weile verzaubert zu ihr hin und durchmißt sie gleich darauf beglückt nach allen Richtungen – jede Berührung des Fußes mit den weichen Gräsern der fruchtbaren Erde ist stille Freude.

Puschkin setzte mich durch die Einfachheit und Musik seiner Verse dermaßen in Erstaunen, daß mir die Prosa lange Zeit unnatürlich erschien und ich sie nicht mehr lesen mochte. Der Prolog zum »Ruslan« erinnerte mich an die schönsten Märchen der Großmutter, er faßte sie auf wunderbare Art alle in eines zusammen; es gab Verszeilen, die mich durch ihre ausgeprägte Wirklichkeitstreue verblüfften.

Tierspuren, seltsame, erscheinen
Auf fremdem, unbetretnem Pfad

wiederholte ich im stillen die wunderbaren Verse und sah dabei diese mir so vertrauten, kaum wahrnehmbaren Fährten, diese geheimnisvollen Spuren vor mir, eingedrückt im Grase, das voll quecksilberschwerer Tautropfen hing. Die klangvollen Verszeilen prägten sich erstaunlich leicht dem Gedächtnis ein und schmückten alles, wovon sie sprachen, mit einem festlichen Glanz; das beglückte mich, machte mein Leben leicht und angenehm, die Verse klangen für mich wie die Verkündigung eines neuen Lebens. Welch ein Glück, lesen zu können!

Am vertrautesten waren mir Puschkins großartige Märchen; ich kannte sie, nachdem ich sie einigemal gelesen hatte, bereits auswendig; wenn ich mich schlafen legte, flüsterte ich sie mit geschlossenen Augen vor mich hin, bis ich einschlief. Nicht selten erzählte ich diese Märchen auch den Offiziersburschen; sie hörten mir zu, lachten, schalten auch freundlich mit mir, während Sidorow mir den Kopf streichelte und leise sagte: »Wunderbar! Oder nicht? Ach du meine Güte . . .«

Die Erregung, die mich ergriffen hatte, wurde von der Herrschaft bemerkt, und die Alte schimpfte: »Hat sich festgelesen, der Taugenichts, der Samowar ist schon den vierten Tag nicht mehr geputzt! Warte nur, ich komme dir gleich mit dem Nudelholz . . .«

Was konnte mir das Nudelholz schon anhaben! Ich nahm Zuflucht zu den Versen:

Aus später Gier und schnödem Neid
Sinnt weiterhin der alte Drache,
Feind allen Liebenden, auf Rache.

Die Dame aber wuchs in meinen Augen immer mehr – was die für Bücher las! Das war keine Porzellanpuppe wie die Zuschneidersfrau . . .

Als ich das Buch zurückbrachte und traurig ablieferte, sagte sie überzeugt: »Das hat dir aber gefallen! Hast du schon etwas von Puschkin gehört?«

Ich hatte schon einiges über den Dichter in einer Zeitschrift gelesen, wollte jedoch, daß sie mir selber von ihm erzähle, und behauptete, ich hätte nichts von ihm gehört.

Sie erzählte in kurzen Worten von Puschkins Leben und Tod; dann lächelte sie strahlend wie ein Frühlingstag und fragte: »Siehst du, wie gefährlich es ist, Frauen zu lieben?«

Nach allem, was ich in Büchern gelesen hatte, wußte ich, daß es in der Tat gefährlich, aber auch schön war. Ich sagte: »Es ist gefährlich, aber alle lieben! Und auch die Frauen leiden schließlich durch die Liebe . . .«

Sie sah mich durch die Wimpern an, wie sie alles ansah, und entgegnete ernst: »Nein, wirklich? Du begreifst das? Dann möchte ich dir wünschen – vergiß es nicht!«

Und sie begann mich auszufragen, welche Gedichte mir am besten gefallen hätten.

Ich redete irgend etwas daher, fuchtelte mit den Armen und rezitierte dies und das auswendig. Sie hörte ernst und schweigend zu, stand schließlich auf und ging einmal durchs Zimmer.

Nachdenklich sagte sie: »Du müßtest etwas lernen, du gutes, wildes Tier! Ich will darüber nachdenken . . . Ist deine Herrschaft mit dir verwandt?«

Und als ich es bejahte, rief sie aus, als müsse sie mich tadeln: »Oh!«

Sie gab mir Bérangers Chansons mit, eine vorzügliche Ausgabe mit Gravüren, Goldschnitt und Einband in rotem Leder. Diese Chansons brachten mich durch die sonderbar enge Verbindung von beißendem Kummer und wilder Fröhlichkeit endgültig aus dem Häuschen.

Schaudernd las ich die bitteren Worte des »Alten Vagabunden«:

Bin ich ein Schädling, wie die Wanzen?
Nun gut, zertretet doch den Wicht!
Denn Arbeit für das Wohl des Ganzen
Erlaubet ihr dem Bettler nicht.
Wollt gern mich wie die Bienen regen,
Euch Menschen Bruder sein und Freund,
Doch stets stand mir der Wind entgegen.?
Nun stirbt der Vagabund als euer Feind.

Aber gleich darauf lachte ich Tränen, als ich auf den »Weinenden Ehegatten« stieß. Besonders prägten sich mir die Worte ein:

Des Lebens heitere Weisheit
Ist für den einfachen Mann so leicht!

Béranger erweckte eine unbezähmbare Fröhlichkeit in mir, das Bedürfnis, allerlei Unfug anzustellen und allen Leuten mit frechen und spitzen Reden zu begegnen; ich machte darin in kurzer Zeit bedeutende Fortschritte. Auch Berangers Verse wußte ich auswendig und sagte sie mit großer Begeisterung vor den Offiziersburschen auf, wenn ich für wenige Minuten bei ihnen hereinsah.

Ich mußte jedoch sehr bald darauf verzichten, denn die Verse

Und welchem siebzehnjährigen Ding
Würd eine Mütze nicht gleich passen!

riefen eine widerwärtige Unterhaltung über Mädchen hervor – ich war beleidigt, raste und hieb dem Soldaten Jermochin eine Kasserolle auf den Kopf. Sidorow und die anderen Offiziersburschen entrissen mich seinen ungeschickten Pranken, aber ich wagte von da an nicht mehr, mich in den Offiziersküchen zu zeigen.

Auf der Straße spazierengehen durfte ich nicht, ich hatte dazu auch keine Zeit – die Arbeit wuchs immer mehr an; neben meinen gewöhnlichen Verrichtungen als Stubenmädchen, Hausknecht und Laufbursche mußte ich jetzt jeden Tag Kaliko auf breite Bretter aufziehen, ihn festnageln und Risse darauf kleben, Voranschläge der vom Hausherrn übernommenen Bauarbeiten abschreiben und die Rechnungen der Lieferanten prüfen – der Hausherr arbeitete von morgens bis in die Nacht wie eine Maschine.

Die Messegebäude gingen in jenen Jahren aus der öffentlichen Hand in den Privatbesitz der Händler über; die Budenstraßen wurden in aller Eile umgebaut; mein Hausherr übernahm Aufträge zur Überholung oder zum Neubau von Läden. Er fertigte Risse »zum Umbau der Deckenbalken, zum Durchbruch von Dachluken« oder dergleichen mehr an; ich trug diese Risse zusammen mit einem Briefumschlag, der einen Fünfundzwanzigrubelschein enthielt, zu einem alten Architekten – der nahm das Geld und unterschrieb: »Der Riß stimmt mit den Gegebenheiten überein. Die Aufsicht über die Arbeiten übernommen – Imjarek.« Selbstverständlich hatte er »die Gegebenheiten« nie gesehen; auch die Aufsicht konnte er nicht übernehmen, da er infolge einer Krankheit nicht aus dem Hause ging.

Ich trug auch Bestechungsgelder für den Messeaufseher und andere nützliche Personen aus und nahm dafür »Erlaubnisscheine für allerlei Ungesetzlichkeiten«, wie mein Hausherr dergleichen Dokumente nannte, in Empfang. Für all diese Dinge erhielt ich von meiner Herrschaft das Recht, auf den Treppenstufen vor dem Hause auf sie zu warten, wenn sie abends irgendwo zu Besuch war. Das war keineswegs oft der Fall, aber die Herrschaft kam dann jedesmal erst nach Mitternacht nach Hause, so daß ich mehrere Stunden auf dem Außenflur vor dem Hause oder dem Balkenstapel ihm gegenüber sitzen, zu den Fenstern meiner Dame aufblicken und gierig der fröhlichen Unterhaltung und der Musik in ihrer Wohnung lauschen konnte.

Die Fenster standen offen. Durch die Vorhänge und das Pflanzengrün hinter ihnen konnte ich erkennen, wie sich die schlanken Figuren der Offiziere in der Wohnung bewegten, wie der rundliche Major herumkullerte und wie sie selbst – wunderbar einfach und schön gekleidet – dahinschwebte.

Ich hatte sie im stillen »Königin Margot« genannt.

Hier ist es, das heitere Leben, von dem die französischen Bücher erzählen, dachte ich mir und blickte zu ihren Fenstern. Und jedesmal war mir dabei ein bißchen traurig zumute – es schmerzte mich in meiner kindlichen Eifersucht, so viele Männer um die Königin Margot zu sehen; sie umschwirrten sie wie Wespen eine Blume.

Nicht so oft wie die anderen stellte sich ein hochgewachsener, keineswegs heiterer Offizier bei ihr ein – mit zerschrammter Stirn und tief liegenden, versteckten Augen; er brachte stets eine Geige mit, auf der er wunderbar spielte – sein Spiel war so schön, daß Vorübergehende vor den Fenstern stehenblieben, auf dem Balkenstapel gegenüber dem Hause sich die ganze Straße versammelte und sogar meine Herrschaft, wenn sie zu Hause war, die Fenster öffnete, dem Musiker lauschte und ihn lobte. Ich wüßte nicht, daß sie je einen anderen gelobt hätten – vom Protodiakon der Kathedrale abgesehen – und bin mir darüber hinaus auch im klaren, daß ihnen eine Pastete mit einer fetten Fischfüllung weit besser gefiel als Musik.

Gelegentlich sang oder rezitierte der Offizier mit etwas dumpfer Stimme – sonderbar atemlos und die Hände gegen die Schläfen gedrückt. Eines Tages, als ich mit dem kleinen Mädchen vor dem Fenster spielte und die Königin Margot ihn bat, etwas zu singen, wehrte er sich lange, sagte dann aber sehr deutlich:

»Zwar bedarf das Lied der Schönheit,
Doch die Schönheit nicht des Lieds . . .«

Diese Verszeilen gefielen mir sehr, und der Offizier tat mir aus irgendeinem Grunde leid.

Lieber sah ich meine Dame allein in ihrem Zimmer am Klavier. Die Musik berauschte mich, ich sah nichts als das Fenster und dahinter im gelblichen Licht der Lampe die ebenmäßige Frauengestalt, das stolze Profil ihres Gesichts, die weißen Hände, die wie Vögel über die Klaviatur dahinflatterten.

Ich blickte zu ihr hin, lauschte der schwermütigen Musik und erging mich in Hirngespinsten – ich würde irgendwo einen Schatz finden und ihr ihn überlassen, damit sie reich würde! Ich wollte Skobelew sein, den Türken aufs neue den Krieg erklären, ihnen ein Lösegeld abnehmen, dann am Otkos, dem schönsten Teil der Stadt, ein Haus errichten lassen und es ihr schenken – damit sie aus dieser Straße, aus diesem Haus fortzog, wo alle so kränkend und häßlich von ihr sprachen.

Sowohl die Nachbarn als auch das ganze Gesinde auf unserem Hof – und ganz besonders meine Herrschaft – redeten über die Königin Margot ebenso schlecht und boshaft wie über die Zuschneidersfrau, nur vorsichtiger und mit gedämpfter Stimme; sie sahen sich dabei um.

Sie fürchteten sie vielleicht, weil sie die Witwe eines sehr angesehenen Mannes war; die Urkunden an den Wänden hatten die Ahnen ihres Mannes von früheren russischen Zaren verliehen bekommen – von Godunow, von Alexej, von Peter dem Großen. Das wußte ich vom Soldaten Tjufjajew, einem schriftkundigen Mann, der ständig das Evangelium las.

Mag sein, daß die Leute auch fürchteten, sie könne zur Reitgerte mit dem lila Stein greifen – es wurde behauptet, sie habe bereits einen hohen Beamten damit traktiert.

Doch die halblaut geflüsterten Worte waren nicht besser als laut gesagte; meine Dame lebte in einer Wolke von Feindschaft dahin, einer Feindschaft, die mir unverständlich war und die mich quälte. Wiktoruschka behauptete, er habe, als er einmal gegen Mitternacht nach Haus ging, durchs Schlafzimmerfenster der Königin Margot gespäht und gesehen, wie sie im bloßen Hemd auf dem Sofa saß, während der Major vor ihr kniete, ihr die Fußnägel beschnitt und mit einem Schwamm abrieb.

Die Alte schimpfte und spie aus, während die junge Frau rot wurde und kreischte: »Pfui, Wiktor! Schämst du dich nicht? Ach, wie unanständig sich solche Herrschaften doch benehmen!«

Der Herr des Hauses lächelte nur und schwieg – ich war ihm sehr dankbar dafür, fürchtete jedoch, er würde jeden Augenblick in das allgemeine Gezeter und Geheul mit einstimmen. Die Frauen fragten Wiktoruschka kreischend und sich entsetzend aus – wie die Dame eigentlich gesessen, wie der Major auf den Knien vor ihr gelegen habe. Wiktoruschka wartete mit immer neuen Einzelheiten auf.

»Die Visage knallrot, die Zunge herausgestreckt . . .«

Ich sah nichts Anstößiges darin, daß der Major der Dame die Zehennägel beschnitt, wollte aber nicht glauben, daß er dabei die Zunge herausstreckte; ich faßte das als schändliche Lüge auf und sagte zu Wiktoruschka: »Warum haben Sie, wenn das so schlimm ist, durchs Fenster gespäht? Sie sind doch kein kleiner Junge . . .«

Man schalt mich natürlich aus, aber das kränkte mich nicht, ich wollte nur eins – rasch zu meiner Dame stürzen, auf die Knie vor ihr sinken wie der Major und sie anflehen: »Bitte ziehen Sie aus diesem Hause fort!«

Jetzt, da ich wußte, daß es ein anderes Leben, andere Menschen, andere Gefühle und Gedanken gab, rief dieses Haus mit allen seinen Bewohnern einen immer stärkeren Ekel in mir hervor. Es war mit einem schmutzigen Netz schändlichen Klatsches umflochten, es gab keinen Menschen in ihm, von dem man nicht schlecht gesprochen hätte. Den kranken und bemitleidenswerten Regimentspopen verleumdete man als Trinker und Lüstling; die Offiziere und ihre Frauen lebten, wie meine Herrschaft es darstellte, in allgemeiner Sünde; die einförmigen Unterhaltungen der Soldaten über die Frauen widerten mich an, aber am meisten zuwider war mir meine Herrschaft – ich kannte den wahren Wert der bei ihr so beliebten erbarmungslosen Urteile über die Menschen sehr gut. Die Beobachtung der menschlichen Laster ist das einzige Vergnügen, das einem unentgeltlich geboten wird. Meine Herrschaft vergnügte sich eben nur, wenn sie den Nächsten in ihren Reden zerfleischte, und nahm damit gleichsam an allen Rache, die nicht so ehrbar, mühsam und langweilig lebten wie sie.

Wenn der Königin Margot schmutzige Dinge nachgesagt wurden, überkam mich fast krankhaft ein nicht mehr ganz kindliches Gefühl, mein Herz schwoll an vor Haß gegen die Verleumder, ein unbezähmbares Bedürfnis, alle zu ärgern und ihnen böse Streiche zu spielen, befiel mich; manchmal empfand ich ein quälendes Mitleid mit mir selbst und allen anderen Menschen, und dieses stumme Mitleid war schlimmer als der Haß.

Ich wußte von der Königin Margot mehr als sie alle, und ich fürchtete, sie könnten erfahren, was ich wußte.

Feiertags, wenn meine Herrschaft zum Hochamt in die Kathedrale ging, kam ich schon morgens zu ihr; sie rief mich zu sich ins Schlafzimmer, ich setzte mich in einen kleinen, mit goldgelber Seide bespannten Sessel, das Töchterchen kletterte auf meinen Schoß, und ich erzählte der Mutter von den Büchern, die ich gelesen hatte. Sie lag auf einem breiten Bett, die kleinen, gefalteten Hände unter die Wange geschoben, eine Decke, ebenso goldfarben wie alles in ihrem Schlafzimmer, verbarg den Körper, das dunkle, zum Zopf geflochtene Haar fiel über die bräunliche Schulter, lag vor ihr auf dem Bett, hing manchmal vom Bett herab bis auf den Fußboden.

Sie hörte mir zu, blickte mir weich ins Gesicht und fragte mit einem kaum merkbaren Lächeln: »Nein, wirklich?«

In meinen Augen war selbst ein wohlwollendes Lächeln von ihr nur das nachsichtige Lächeln einer Königin. Sie sprach mit dunkler, einschmeichelnder Stimme, und mir schien, sie sage immer nur eins: Ich weiß, daß ich unermeßlich viel besser und reiner als alle anderen Menschen bin, ich brauche keinen von ihnen.

Manchmal traf ich sie vor dem Spiegel an – sie saß in einem niedrigen Sessel und kämmte ihr Haar; es fiel auf ihre Knie, über die Armlehnen des Sessels oder die Rückenlehne bis auf den Fußboden herab – es war ebenso lang und voll wie das Haar der Großmutter. Ich sah ihre festen, bräunlichen Brüste im Spiegel, sie zog sich vor meinen Augen das Mieder, die Strümpfe an, und ihre reine Schönheit ließ keine Scham in mir aufkommen, sie weckte nur einen freudigen Stolz über sie. Stets ging ein Blumenduft von ihr aus – er schützte sie vor häßlichen Gedanken.

Ich war gesund und stark und kannte die Geheimnisse der Beziehungen zwischen Mann und Frau sehr gut, aber die Leute sprachen von diesen Geheimnissen mit einer so herzlosen Schadenfreude, so roh und schmutzig, daß ich mir diese Frau nicht in den Armen eines Mannes vorstellen konnte, daß es mir schwerfiel zu glauben, irgendwer habe das Recht, sie frech und schamlos zu berühren, Herr über ihren Körper zu sein. Ich war davon überzeugt, der Königin Margot sei die Liebe der Küchen und Kammern unbekannt, sie kenne eine andere Liebe und andere, erhabenere Freuden.

Aber eines Tages, als ich gegen Abend in das Wohnzimmer kam, hörte ich die Dame meines Herzens hinter dem Schlafzimmervorhang laut lachen und eine Männerstimme bitten: »So warte doch . . . Mein Gott! Das glaub ich dir nicht . . .«

Ich sah ein, ich hätte gehen sollen, aber ich konnte nicht.

»Wer ist da?« fragte sie. »Du? Komm herein!«

Im Schlafzimmer war es schwül vor Blumenduft und halbdunkel, die Fenstervorhänge waren geschlossen . . . Die Königin Margot lag im Bett, die Decke bis an das Kinn gezogen, während neben ihr an der Wand, im bloßen Hemd mit offener Brust, der geigende Offizier saß – auch auf der Brust hatte er eine Narbe, die sich als roter Streifen von seiner rechten Schulter zur Brustwarze hinzog und sich so kräftig abzeichnete, daß ich sie trotz des Dämmerlichtes deutlich sah. Die Haare des Offiziers waren komisch zerzaust, und zum erstenmal bemerkte ich auf seinem traurigen, zerhackten Gesicht ein Lächeln – es wirkte sonderbar. Seine großen, frauenhaften Augen blickten die Königin Margot an, als habe er ihre Schönheit eben erst wirklich erkannt.

»Das ist mein Freund«, sagte sie – ich weiß nicht, sagte sie es zu ihm oder mir.

»Worüber bist du denn so erschrocken«, hörte ich ihre Stimme wie aus der Ferne. »Komm doch mal her . . .«

Ich trat auf sie zu, sie legte ihren heißen, nackten Arm um meinen Hals und sagte: »Wenn du groß bist, wirst auch du glücklich sein . . . Und nun geh!«

Ich legte das Buch auf das Regal, nahm mir ein anderes und ging davon – wie im Traum.

Meinem Herzen war ein Stich versetzt worden. Natürlich glaubte ich keinen Augenblick, daß meine Königin so liebte wie andere Frauen, und auch der Offizier ließ einen solchen Gedanken nicht zu. Ich sah sein Lächeln vor mir – es schien überrascht und erstaunt, er lächelte freudig wie ein Kind, sein trauriges Gesicht schien wunderbar erneuert. Er mußte sie lieben – wie hätte es anders sein können? Aber auch sie konnte ihn durch ihre Liebe freigebig beschenken – er spielte so wunderschön Geige, er rezitierte mit soviel Gefühl Gedichte . . .

Doch allein die Tatsache, daß ich nach diesen Tröstungen suchen mußte, zeigte mir, daß nicht alles in meinem Verhältnis zu dem, was ich sah, und zur Königin Margot selbst gut und in Ordnung war. Ich hatte das Gefühl, mir sei etwas verlorengegangen, und lebte einige Zeit in tiefer Traurigkeit dahin.

Eines Tages verübte ich einen wilden und sinnlosen Streich, und als ich dann zu ihr kam, um mir ein Buch zu holen, sagte sie sehr streng zu mir: »Du bist aber, wie ich höre, ein toller Galgenstrick! Das hätte ich nicht erwartet . . .«

Ich hielt es nicht aus und erzählte ihr, wie sehr mir das Leben zuwider sei, wie schwer es mir falle, schlecht von ihr reden zu hören. Sie stand, die Hand auf meiner Schulter, vor mir und hörte mir ernst und aufmerksam zu, brach aber bald in Lachen aus und stieß mich leicht von sich.

»Genug davon, ich weiß das alles – verstehst du? Ich weiß es!«

Dann ergriff sie meine beiden Hände und sagte mit großer Herzlichkeit: »Je weniger du alle diese Gemeinheiten beachtest, desto besser für dich . . . Die Hände könntest du dir allerdings besser waschen . . .«

Nun – das hätte sie nicht zu sagen brauchen; wenn sie Kupfer polieren, Fußböden scheuern und Windeln waschen müßte, dann wären ihre Hände auch nicht schöner als meine, dachte ich mir.

»Versteht ein Mensch zu leben, dann beneidet man ihn, ärgert man sich über ihn; versteht er es nicht, dann verachtet man ihn«, meinte sie nachdenklich, hielt mich dabei umarmt, zog mich an sich und blickte mir lächelnd in die Augen. »Hast du mich lieb?«

»Ja.«

»Sehr?«

»Ja.«

»Wie sehr denn?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich danke dir. Du bist nett! Ich habe es gern, wenn man mich liebhat . . .«

Sie lächelte, wollte noch etwas sagen, seufzte dann aber nur und schwieg längere Zeit, ohne mich aus den Armen zu lassen.

»Komm öfter zu mir; kommst einfach her, sobald du kannst.«

Ich machte mir das zunutze und habe viel Gutes von ihr empfangen. Nach dem Mittagessen legte sich meine Herrschaft schlafen, während ich hinunterlief und eine Stunde oder auch mehr bei ihr verbrachte, wenn sie zu Hause war.

»Man muß russische Bücher lesen, man muß sein eigenes, russisches Leben kennen«, ermahnte sie mich und steckte mit ihren geschickten rosigen Fingern das duftende Haar auf.

Sie nannte die Namen russischer Schriftsteller und fragte: »Kannst du sie dir merken?« Oft wiederholte sie nachdenklich, leicht verärgert über sich selbst: »Du mußt lernen, lernen, und ich vergesse das immer wieder! Ach du lieber Gott . . .«

Wenn ich ein Weilchen bei ihr gesessen hatte, lief ich wieder nach oben – ein neues Buch in der Hand, gleichsam innerlich rein gewaschen.

Ich hatte schon Aksakows »Familienchronik«, die schöne russische Dichtung »In den Wäldern«, die wunderbaren »Aufzeichnungen eines Jägers«, einige Bändchen Grebjonka und Sologub und Gedichte von Wenewitinow, Odojewskij und Tjutschew gelesen. Diese Bücher wuschen meine Seele rein und befreiten sie von dem Geschupp aller Eindrücke der armseligen, bitteren Wirklichkeit; ich spürte, was ein gutes Buch bedeutet, und begriff, wie unentbehrlich es für mich war. Nach und nach bildete sich in meiner Seele dank diesen Büchern die feste Überzeugung heraus: Ich stehe auf der Erde nicht allein und werde nicht umkommen!

Die Großmutter kam zu Besuch, und ich erzählte ihr voller Begeisterung von Königin Margot – die Großmutter schnupfte mit Genuß ihren Tabak und sagte, ohne sich zu bedenken: »Nun, nun, das läßt sich hören! Gute Menschen gibt es genug, man muß nur suchen, dann wird man sie auch finden!«

Und eines Tages schlug sie vor: »Soll ich vielleicht zu ihr hingehen und mich für dich bedanken?«

»Nein, lieber nicht . . .«

»Dann eben nicht . . . Mein Gott, mein Gott, wie schön doch alles ist! Ich könnte in alle Ewigkeit so weiterleben!«

Die Königin Margot fand keine Gelegenheit mehr, dafür zu sorgen, daß ich noch etwas lerne – zu Pfingsten ereignete sich eine widerwärtige Geschichte, die mir beinahe zum Verhängnis geworden wäre.

Kurz vor dem Fest schwollen meine Lider beängstigend an, die Augen schlossen sich völlig, und meine Herrschaft befürchtete, ich könne erblinden, auch ich befürchtete es. Man brachte mich zu einem Bekannten, dem Arzt und Geburtshelfer Genrich Rodsewitsch, der mir die Lider von innen aufschnitt; ich hütete mehrere Tage das Bett, eine Binde über den Augen, von schwarzer Langeweile gepeinigt. Am Tage vor Pfingsten nahm man mir die Binde ab; ich stand wieder auf den Beinen, gleichsam befreit aus dem Grabe, in das man mich lebendig versenkt hatte. Nichts kann schrecklicher sein als der Verlust des Augenlichts; er ist eine unsagbare Kränkung und nimmt dem Menschen neun Zehntel seiner Welt.

Am fröhlichen ersten Pfingstfeiertag war ich, da ich als Kranker galt, von Mittag an aller meiner Pflichten ledig, ging überall umher und besuchte die Offiziersburschen in ihren Küchen. Alle, mit Ausnahme des sittenstrengen Tjufjajew, waren betrunken; gegen Abend schlug Jermochin Sidorow mit einem Holzscheit auf den Kopf, worauf der im Flur bewußtlos zusammenbrach, während der erschrockene Jermochin davonlief und sich in der Schlucht verbarg.

Auf dem Hof verbreitete sich sogleich das beängstigende Gerücht, Sidorow sei tot. Vor dem Eingang sammelten sich Menschen; sie blickten auf den Soldaten, der regungslos hingestreckt auf der Küchenschwelle lag, mit dem Kopf zum Flur; die Leute flüsterten, man müsse die Polizei holen, aber niemand tat es, niemand traute sich, den Soldaten anzurühren.

Da tauchte die Wäscherin Natalja Koslowskaja auf, in einem neuen fliederfarbenen Kleid mit einem weißen Tuch um die Schultern, schob ärgerlich die Leute auseinander, trat in den Flur, hockte nieder und sagte mit lauter Stimme: »Dummköpfe – er lebt! Wasser her . . .«

Man versuchte, sie zu überreden: »Misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen!«

»Wasser her, hab ich gesagt!« rief sie, als gelte es, einen Brand zu löschen; sie nahm sachlich ihr neues Kleid hoch, strich den Unterrock glatt und legte den blutigen Kopf des Soldaten auf ihr Knie.

Die Leute gingen auseinander – mißbilligend und etwas ängstlich; ich sah, wie auf dem halbdunklen Flur im runden weißen Gesicht der Wäscherin ärgerlich die Augen funkelten und sich mit Tränen füllten. Ich holte einen Eimer Wasser, sie hieß mich das Wässer über Sidorows Kopf und Brust gießen und warnte mich: »Gieß mir das Wasser aber nicht übers Kleid – ich will zu Besuch . . .«

Der Soldat kam zu sich, sah sich stumpfsinnig um und stöhnte.

»Los, nehmen wir ihn hoch«, sagte Natalja, faßte ihn unter den Achseln und hielt ihn, um nicht ihr Kleid zu beschmutzen, mit ausgestreckten Armen von sich fort. Wir trugen ihn in die Küche, legten ihn aufs Bett, sie wischte sein Gesicht mit einem feuchten Lappen ab, wandte sich zur Tür und sagte zu mir: »Feuchte den Lappen an und leg ihn ihm auf den Kopf, ich seh mich inzwischen nach dem anderen Dummkopf um. Saufen sich noch ins Zuchthaus, die Teufel!«

Sie ließ den beschmutzten Unterrock zu Boden gleiten, warf ihn in die Ecke, strich sorgfältig das raschelnde, zerknitterte Kleid zurecht und ging.

Sidorow reckte sich, schluckte und stöhnte; schweres dunkles Blut tropfte von seinem Kopf auf meinen bloßen Fuß das war mir unangenehm, ich wagte in meiner Angst jedoch nicht, den Fuß zurückzuziehen.

Mir war bitter genug zumute; draußen strahlte ein festlicher Tag, Außentreppe und Tor des Hauses waren mit Maiengrün geschmückt; an jedem Prellstein hatte man frische Zweige von Ebereschen oder Ahorn befestigt; die ganze Straße war fröhlich ergrünt und alles so jung und neu; morgens hatte ich noch geglaubt, das Frühlingsfest sei für lange Zeit bei uns eingekehrt, das Leben werde von nun an reiner, schöner, heiterer werden.

Der Soldat mußte sich übergeben, ein würgender Geruch von warmem Wodka und grünen Zwiebeln breitete sich in der Küche aus, an den Fensterscheiben blieben alle Augenblicke trübe, breite Fratzen mit plattgedrückten Nasen kleben; die an die Wangen gelegten Hände sahen wie widerwärtige riesige Ohren aus.

Der Soldat versuchte sich zu besinnen und murmelte: »Wie ist denn das alles mit mir gekommen? Bin ich gestürzt? Oder – Jermochin? Und so was nennt sich Kamerrrad . . .«

Er mußte husten, er weinte in seiner Trunkenheit und jammerte: »Schwesterchen . . . mein Schwesterchen . . .«

Er erhob sich, verlor – naß, glitschig und stinkend, wie er war – das Gleichgewicht, plumpste aufs Bett und sagte mit seltsam verdrehten Augen: »Mich haben sie fertiggemacht . . .«

Ich mußte lachen.

»Wer, zum Teufel, lacht da?« fragte er und sah mich stumpfsinnig an. »Wie kannst du lachen? Mich haben sie fertiggemacht – für immer . . .«

Er stieß mich mehrmals mit beiden Händen vor die Brust und murmelte: »Ilja, der Prophet, Jegorij zu Pferd – komm nicht an meinen Herd! Scher dich fort, du Wolf . . .«

Ich sagte: »Red keinen Blödsinn!«

Er bekam eine alberne Wut, brüllte, trampelte mit den Füßen.

»Mich haben sie fertiggemacht, und du . . .«

Und er schlug mich mit schwerer, noch matter, schmutziger Hand auf die Augen; ich schrie und stürzte, ohne etwas zu sehen, ich weiß selber nicht, wie, auf den Hof hinaus, unmittelbar auf Natalja zu; sie führte Jermochin an der Hand und trieb ihn an: »Komm schon, du Riesenroß! – Was hast du?« fragte sie mich und fing mich in ihren Armen auf.

»Er hat mich geschlagen . . .«

»Geschlaaagen?« wunderte sich Natalja, zog Jermochin an der Hand und sagte: »Na also, dann danke deinem Schöpfer, du Satan!«

Ich kühlte mir die Augen mit Wasser und sah durch die Flurtür zu, wie die Soldaten sich versöhnten – sie umarmten sich und vergossen Tränen, versuchten dann beide, Natalja zu umhalsen, doch die schlug ihnen auf die Hände und rief: »Pfoten weg, ihr Hunde! Bin ich eine von euren Dirnen? Haut euch hin und pennt, solange die Herrschaft nicht zu Hause ist – aber rasch! Sonst gibt's noch ein Unglück!«

Sie packte sie ins Bett wie kleine Kinder – den einen auf den Fußboden, den anderen in die Koje, und kam, als sie schnarchten, auf den Flur.

»Ganz beschmutzt habe ich mich mit ihnen und war dabei fertig angezogen, um zu Besuch zu gehen! Geschlagen hat er dich? Ist das ein Dummkopf! Da hast du ihn, den Wodka! Trink nicht, Bursche, trinke niemals . . .«

Später saß ich mit ihr auf der Bank vor dem Haustor und fragte sie, wieso sie sich vor den Betrunkenen nicht fürchte.

»Ich fürchte mich auch vor den Nüchternen nicht, ich habe ja schließlich das hier!« Sie zeigte ihre rote, zusammengeballte Faust. »Auch mein verstorbener Mann konnte ganz schön trinken; wenn er so richtig voll war, habe ich ihm Hände und Füße gefesselt und, wenn er sein Räuschchen ausgeschlafen hatte, die Hosen heruntergestreift und ihn gehörig verdroschen. Trink nicht, sauf nicht, bist du erst einmal verheiratet, dann ist die Frau zu deiner Kurzweil da und nicht der Wodka! Ja doch! Ich dresche also auf ihn ein, bis ich genug habe, und er ist dann wie Wachs in meinen Händen . . .«

»Sie sind stark«, sagte ich und erinnerte mich an das Weib Eva, das selbst den Herrgott überlistet hatte.

Natalja seufzte: »Das Weib müßte stärker sein als der Mann, es braucht Kräfte für zwei, aber der Herrgott hat es benachteiligt! Der Mann ist schwankend von Natur.«

Sie sagte das ruhig und ohne Bosheit, lehnte, die Arme über der hohen Brust gekreuzt, mit dem Rücken am Zaun und starrte mit traurigen Augen zu dem aus Schutt errichteten Damm mit seiner Schotterdecke hin. Ich lauschte ihren klugen Reden und dachte nicht an die Zeit, bis ich dann plötzlich am Ende des Damms den Hausherrn, Arm in Arm mit der Hausherrin, auftauchen sah; sie strebten langsam und würdevoll – wie ein Puter mit seiner Pute – auf uns zu, blickten unverwandt zu uns hin und steckten die Köpfe zusammen.

Ich sprang auf, um die Vordertür aufzuschließen; als die Hausherrin die Treppenstufen hinaufstieg, fragte sie giftig: »Du raspelst Süßholz mit den Wäscherinnen? Das hat dir wohl die Herrin von da unten beigebracht?«

Das war so dumm, daß es mich nicht einmal berührte; viel ärgerlicher fand ich, daß der Hausherr mit spöttischem Lächeln einwarf: »Nun ja, wird ja auch Zeit!«

Als ich am nächsten Morgen zum Holzverschlag hinunterging, um Holz zu holen, fand ich neben der Tür, an der quadratischen Öffnung für die Katzen, ein leeres Portemonnaie; ich hatte es Dutzende von Malen in Sidorows Händen gesehen und trug es sofort zu ihm hin.

»Und wo ist das Geld?« fragte er und tastete die Geldbörse innen mit dem Finger ab. »Ein Rubel dreißig! Her damit!«

Sein Kopf war turbanartig mit einem Handtuch umwickelt; gelb und abgemagert, zwinkerte er böse mit den verschwollenen Augen und wollte mir nicht glauben, daß die Börse leer gewesen war, als ich sie fand.

Jermochin kam dazu, wies mit dem Kopf auf mich und stachelte ihn auf: »Er hat das Geld gestohlen, nur er, führ ihn zu seiner Herrschaft ab! Ein Soldat wird einen anderen nicht bestehlen!«

Diese Worte zeigten mir, daß er selber der Dieb war und die Börse in den Verschlag geworfen hatte, um den Verdacht auf mich abzulenken; ich schrie ihm sofort ins Gesicht: »Du lügst, der Dieb bist du!«

Ich konnte mich endgültig davon überzeugen, daß mein Verdacht berechtigt war – Schrecken und Wut verzerrten sein hölzernes Gesicht, er wand sich hin und her und kreischte mit dünner Stimme: »Beweise es!«

Wie sollte ich es beweisen? Jermochin zerrte mich unter Geschrei auf den Hof, Sidorow ging hinter uns her und schrie ebenfalls, die Leute steckten die Köpfe zum Fenster hinaus; die Mutter der Königin Margot sah, seelenruhig rauchend, zu. Ich verstand, daß ich in den Augen meiner Dame erledigt war, und verlor den Kopf.

Ich erinnere mich – die Soldaten hielten mir die Hände fest, während meine Herrschaft ihnen gegenüberstand; man stimmte einander mitfühlend zu, hörte sich die Klagen an, und die Hausherrin meinte überzeugt: »Natürlich ist das sein Werk! Er hat ja auch gestern vor dem Tor mit dieser Wäscherin Süßholz geraspelt – er muß also Geld gehabt haben, ohne Geld ist bei der nichts zu machen . . .

»Jawohl!« rief zwischendurch Jermochin.

Der Boden unter mir wankte, mich packte eine wilde Wut, ich brüllte die Hausherrin an und wurde tüchtig verprügelt.

Doch weniger die erhaltenen Prügel quälten mich, als der Gedanke, was die Königin Margot jetzt von mir denken mochte. Wie konnte ich mich vor ihr rechtfertigen? Bitter genug war mir in diesen schlimmen Stunden zumute.

Zu meinem Glück verbreiteten die Soldaten diese Geschichte rasch auf dem ganzen Hof, ja in der ganzen Straße, und schon abends hörte ich, während ich auf dem Dachboden lag, unten Natalja Koslowskaja lärmen: »Nein, ich denke nicht daran, zu schweigen! Nein, Freundchen, komm mit, komm mit! Komm, sage ich dir! Sonst gehe ich zu deinem Herrn, er wird dich schon dazu zwingen . . .«

Ich fühlte sofort, daß dieser Lärm nur mich betreffen konnte. Natalja randalierte vor unserem Außenflur, und ihre Stimme klang immer lauter und triumphierender.

»Wieviel Geld hast du mir gestern vorgezeigt? Wo hattest du es her? Erzähle mal!«

Außer mir vor Freude, hörte ich, wie Sidorow gedehnt und niedergeschlagen sagte: »Ei, ei, Jermochin . . .«

»Und wen habt ihr blamiert, wen unschuldig verprügelt! Den Jungen!«

Ich wäre am liebsten auf den Hof gelaufen, hätte dort einen Freudentanz aufgeführt und die Wäscherin aus Dankbarkeit abgeküßt, aber in diesem Augenblick rief meine Hausherrin – offenbar aus dem Fenster: »Der Bengel hat Prügel bekommen, weil er geschimpft hat, daß er aber ein Dieb ist, hat niemand gedacht, außer dir – du Großmaul!«

»Das Großmaul sind Sie selber, meine Verehrte, Sie Kuh wenn der Ausdruck gestattet ist!«

Für mich war dieses Gezänk Musik, heiße Tränen der Kränkung, der Dankbarkeit gegenüber Natalja verbrannten mir das Herz, ich glaubte zu ersticken, als ich mich dieser Tränen zu erwehren versuchte.

Später kam der Hausherr langsam die Treppenstufen zum Dachboden herauf, ließ sich auf einem Balken nieder, strich sich das Haar zurecht und sagte: »Was ist, Peschkow, alter Freund, du hast ein bißchen Pech gehabt?«

Ich wandte mich schweigend ab.

»Immerhin hast du reichlich gemein geschimpft«, fügte er hinzu; ich erklärte mit leiser Stimme: »Ich gehe, sobald ich genesen bin, von Ihnen fort.«

Er blieb ein Weilchen sitzen und rauchte schweigend seine Zigarette; dann sagte er, unverwandt auf das Zigarettenende blickend: »Nun ja, das mußt du schon selber entscheiden! Du bist kein kleiner Junge mehr, mußt selber wissen, was das beste für dich ist . . .«

Und damit ging er. Er tat mir leid – wie immer.

Vier Tage darauf verließ ich das Haus. Ich hätte mich schrecklich gern von der Königin Margot verabschiedet, mir fehlte jedoch der Mut, zu ihr hinzugehen, und, im Vertrauen gesagt, ich hatte auch erwartet, sie würde mich rufen lassen.

Als ich von ihrem Töchterchen Abschied nahm, bat ich: »Sage deiner Mama, daß ich ihr sehr, sehr dankbar bin! Sagst du es ihr?«

»Ja, das tu ich«, versprach sie und lächelte mich freundlich, ja zärtlich an. »Auf Wiedersehen bis morgen, ja?«

Ich sah sie zwanzig Jahre später wieder – sie war die Frau eines Gendarmerieoffiziers . . .

 


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