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In Sarapul verließ Maxim den Dampfer – er ging schweigend, ohne sich von jemand zu verabschieden, ernst und gelassen von Bord. Hinter ihm stieg mit spöttischem Grinsen das fröhliche Frauenzimmer aus, gefolgt von dem Mädchen – es sah zerknittert aus und hatte verschwollene Augen. Sergej aber lag lange vor der Kapitänskajüte auf den Knien, bedeckte die Türfüllung mit Küssen, schlug mit der Stirn gegen sie und jammerte: »Verzeihen Sie mir, ich bin unschuldig! Das war Maximka . . .«
Die Matrosen, das Büfettpersonal, selbst manche von den Passagieren wußten, daß er log, spornten ihn jedoch an und rieten: »Mach nur, mach – er wird dir schon verzeihen!«
Der Kapitän jagte ihn mehrmals davon und trat ihn sogar, daß Sergej umkippte, verzieh ihm aber schließlich doch. Und gleich darauf hastete Sergej wieder über das Deck, trug Tablette mit Teegeschirr aus und sah den Leuten hündisch und abbittend in die Augen.
Anstelle Maxims nahm man einen ausgedienten Soldaten an Bord – er stammte aus Wjatka, war knochig und hatte rötliche Augen und einen kleinen Kopf. Der Gehilfe des Kochs gab ihm sogleich den Auftrag, Hühner zu schlachten; der Soldat schaffte ein paar und ließ die übrigen über das Deck davonflattern; die Passagiere bemühten sich, sie einzufangen – dabei gingen drei Hühner über Bord. Der Soldat setzte sich auf den Holzstoß neben der Küche und weinte bitterlich.
»Was denn, du Dummkopf?« fragte ihn Smuryj verwundert. »Seit wann weint ein Soldat?«
»Ich bin vom Train«, entgegnete der Soldat mit leiser Stimme.
Das wurde ihm zum Verhängnis – eine halbe Stunde danach lachte man ihn auf dem ganzen Dampfer aus; man trat auf ihn zu, starrte ihm ins Gesicht und fragte einander: »Der da?«
Und man schüttelte sich vor Lachen – einem kränkenden, unsinnigen Lachen.
Zuerst nahm der Soldat die Menschen gar nicht recht wahr und hörte sie auch nicht lachen; er wischte sich mit dem Ärmel des alten Baumwollhemdes die Tränen aus dem Gesicht, er schien sie in seinem Ärmel zu verbergen. Aber bald darauf flammten seine rötlichen Augen zornig auf, und er plapperte auf Wjatkaer Art rasch wie eine Elster los: »Was glotzt ihr mich denn an? Platzen sollt ihr – in tausend Stücke . . .«
Das erheiterte die Leute nur noch mehr, man stukte den Soldaten mit den Fingern, zerrte an seiner Schürze, an seinem Hemd herum, neckte ihn wie einen Ziegenbock und setzte ihm auf solche Art bis Mittag zu; nach dem Mittagessen spießte jemand eine ausgepreßte Zitronenscheibe auf den Griff eines hölzernen Löffels und band den Löffel dem Soldaten hinten an die Schürzenbänder; der Soldat ging umher, der Löffel baumelte ihm im Rücken, und alle frohlockten, während er wie eine gefangene Maus herumhastete und nicht dahinterkam, worüber sie lachten.
Smuryj beobachtete ihn ernst und schweigend, und sein Gesicht sah aus wie das einer Bauernfrau.
Der Soldat tat mir leid; ich fragte den Koch: »Darf ich ihm das mit dem Löffel sagen?«
Er nickte mir wortlos zu.
Als ich dem Soldaten erklärte, worüber alle lachten, ertastete er rasch den Löffel, riß ihn herunter, warf ihn zu Boden, zertrat ihn und – packte mich mit beiden Händen an den Haaren; es kam zwischen uns zum großen Vergnügen des Publikums, das uns sofort umringte, zu einer Prügelei.
Smuryj stieß die Gaffer auseinander, trennte uns und nahm, nachdem er erst mich an den Ohren gezaust hatte, auch den Soldaten am Ohr. Als das Publikum sah, wie der kleine Mann mit dem Kopf schlenkerte und an Smuryjs Arm umhertänzelte, brach es in ungestümes Johlen und Pfeifen aus, trampelte und wollte vor Lachen bersten.
»Hurra – die Garnison! Gib es dem Koch – renn ihm den Kopf in den Bauch!«
Die wilde Freude der Menschenherde weckte in mir das Verlangen, mich auf die Leute zu stürzen und sie mit einem Holzscheit auf die gemeinen Schädel zu schlagen.
Smuryj ließ den Soldaten los, verbarg die Hände hinter dem Rücken und stieß wie ein Wildeber gegen das Publikum vor – widerborstig, mit furchterregend gebleckten Zähnen.
»Auf die Plätze – marsch! Asssiaten . . .«
Der Soldat fiel aufs neue über mich her, aber Smuryj packte ihn mit einem Arm, trug ihn wie ein Bündel zum Ablaufgitter und pumpte Wasser auf seinen Kopf; er drehte seinen schwächlichen Körper dabei wie eine Lumpenpuppe hin und her.
Die Matrosen, der Bootsmann, der Gehilfe des Kapitäns kamen gelaufen, aufs neue sammelte sich die Menge; einen Kopf größer als alle anderen, stand, still und stumm wie immer, der Büfettier da.
Der Soldat setzte sich auf den Holzstoß neben der Küche, zog mit zitternden Händen die Stiefel aus und begann seine Fußlappen auszuwringen; sie waren ganz trocken, nur aus dem schütteren Haar tropfte Wasser – das erheiterte das Publikum aufs neue.
»Einerlei«, sagte der Soldat mit dünner und hoher Stimme, »ich schlage den Bengel tot.«
Smuryj, der mich an der Schulter festhielt, sprach mit dem Gehilfen des Kapitäns, die Matrosen drängten das Publikum zurück, und als alle auseinandergegangen waren, fragte der Koch den Soldaten: »Was fangen wir nun mit dir an?«
Der Soldat schwieg, starrte mich an wie ein Irrer und zuckte seltsam an allen Gliedern.
»Haltung, Hysteriker!« sagte Smuryj.
Der Soldat entgegnete: »Hast du dir so gedacht! Wir sind hier nicht in der Kaserne!«
Ich sah, daß der Koch verlegen wurde; seine aufgedunsenen Wangen erschlafften und hingen herab; er spie aus, ging davon und zog mich mit sich fort; ich trottete kopflos hinter ihm her und sah mich in einem fort nach dem Soldaten um, während Smuryj verständnislos murmelte: »Was für ein zartes Pflänzchen! Du meine Güte . . .«
Sergej kam hinter uns hergeeilt und sagte fast tonlos: »Er will sich die Kehle durchschneiden!«
»Wo ist er?« keuchte Smuryj und stürzte davon.
Der Soldat stand in der Tür der Personalkajüte und hielt ein großes Messer in der Hand – mit diesem Messer schlachtete man Hühner und spaltete man Holz zum Feuermachen; es war stumpf und schartig wie eine Säge. Vor der Kajüte standen Menschen, die auf den komischen kleinen Mann mit dem nassen Kopf starrten; sein stupsnäsiges Gesicht zitterte wie Sülze, der Mund stand müde offen, die Lippen bebten. Er lallte: »Quälgeister . . . Henker . . .«
Ich stieg auf irgendeinen Gegenstand und sah über die Köpfe hinweg den Leuten in die Gesichter – die Menschen lächelten, kicherten, stießen einander an: »Sieh doch, sieh . . .«
Als er mit magerer Kinderhand das aus der Hose gerutschte Hemd zurückstopfte, seufzte ein gutaussehender Mann neben mir: »Da will er sterben und zieht die Hosen zurecht . . .«
Das Publikum lachte schon lauter. Es war klar, daß niemand glaubte, der Soldat werde sich etwas antun – auch ich glaubte nicht daran, während Smuryj ihn flüchtig ansah, die Leute mit seinem Bauch zurückdrängte und sie aufforderte: »Hau ab, Dummkopf!«
Er meinte mehrere Menschen, sagte aber – Dummkopf; wenn er auf einen Menschenhaufen zutrat, schrie er die Leute an: »Auf die Plätze, Dummkopf!«
Auch das war komisch, schien aber doch richtig – die Menschen gebärdeten sich heute vom frühen Morgen an wie ein einziger großer Dummkopf.
Nachdem er das Publikum auseinandergetrieben hatte, trat er auf den Soldaten zu und streckte die Hand zu ihm aus: »Gib das Messer her . . .«
»Mir ist alles einerlei«, sagte der Soldat und hielt ihm das Messer hin – mit der Spitze nach vorn; der Koch drückte mir das Messer in die Hand und stieß den Soldaten in die Kajüte.
»Leg dich hin und schlaf! Was hast du denn überhaupt?«
Der Soldat setzte sich schweigend auf seine Koje.
»Er bringt dir etwas zu essen und Wodka – trinkst du Wodka?«
»Ein bißchen – schon . . .«
»Aber paß auf, rühr ihn nicht an – nicht er hat dir den Streich gespielt, hörst du? Ich sage dir – nicht er . . .«
»Und warum haben sie mich gequält?« fragte leise der Soldat.
Smuryj gab nicht sogleich Antwort, sagte dann aber finster: »Woher soll ich das wissen?«
Er brummte, während wir zur Küche gingen: »Nun ja . . . in der Tat, sie haben dem Ärmsten schön zugesetzt! Siehst du nun – wie das alles ist? Na also! Die Menschen, Verehrter, können einen um den Verstand bringen, jawohl, das können sie . . . Sie fallen über dich her wie Wanzen, und – aus! Was heißt schon – Wanzen? Wanzen sind gar nichts dagegen.«
Als ich mit Brot, Fleisch und Wodka zum Soldaten zurückkam, saß er auf seiner Koje, schaukelte hin und her und weinte – er schluchzte leise vor sich hin, wie es Frauen tun. Ich stellte den Teller auf das Tischchen und sagte: »Iß . . .«
»Mach die Tür zu.«
»Es wird zu dunkel werden.«
»Mach zu, sonst kommen sie wieder angekrochen.«
Ich ging. Der Soldat war mir unangenehm, er erregte kein Mitgefühl, kein Mitleid in mir. Das beschämte mich – die Großmutter hatte mich immer wieder gelehrt: »Man muß Mitleid mit den Menschen haben, alle sind unglücklich, alle haben es schwer . . .«
»Hast du es ihm gebracht?« fragte mich der Koch. »Nun, was macht er?«
»Er weint.«
»Der Schlappschwanz! Und das will ein Soldat sein?«
»Er tut mir nicht leid.«
»Wie meinst du das?«
»Man muß mit den Menschen Mitleid haben . . .«
Smuryj faßte mich an der Hand, zog mich an sich heran und sagte mit Nachdruck: »Mitleid läßt sich nicht erzwingen, und Mitleid heucheln – das ist nichts. Hast du verstanden? Gewöhn dir keine langen Soßen an, bleib, wie du bist . . .«
Und er stieß mich wieder zurück und fügte finster hinzu: »Du bist hier nicht am rechten Platz! Komm, rauch mal eine . . .«
Das Betragen der Passagiere hatte mich zutiefst erregt, ja völlig verwirrt, ich fand es unsagbar beleidigend und bedrückend, wie sie den Soldaten gehetzt, wie sie vor Freude gejohlt hatten, als Smuryj ihn an den Ohren zauste. Wie konnte ihnen all dieses Widerwärtige, Erbärmliche gefallen, was war daran so Komisches, was stimmte sie so heiter?
Da sitzen oder liegen sie wieder unter dem niedrigen Sonnendach herum – trinken, kauen, spielen Karten, führen friedliche, gesetzte Unterhaltungen und blicken auf den Fluß, als hätten nicht sie noch vor einer Stunde gepfiffen und gejohlt. Alle sind wieder still und träge wie immer; von morgens bis abends schwärmen sie langsam auf dem Dampfer umher wie Mücken oder wie Stäubchen in der Sonne. Da drängt ein Dutzend Menschen zum Laufsteg, bekreuzigt sich und geht vom Schiff zur Anlegestelle hinüber, während von dort ebensolche Leute auf sie zukommen, ebenso gekleidet wie sie, die Rücken gekrümmt unter der Last von Säcken und Kisten – wie sie.
Der ständige Wechsel der Menschen ändert auf dem Dampfer nicht das geringste – die neuen Passagiere unterhalten sich über die gleichen Dinge, über die sich die ausgestiegenen unterhalten haben – über das Land, die Arbeit, Gott, die Weiber –, und in den gleichen Worten.
»Der Herrgott hat uns aufgegeben zu dulden – so dulde auch! Da kann man nichts machen, das ist nun einmal unser Los . . .«
Solche Worte öden mich an, sie reizen mich, bringen mich auf – ich will keinen Schmutz, ich kann nicht dulden, daß man böse und ungerecht zu mir ist, ich weiß mit Sicherheit, ich fühle, daß ich ein solches Verhalten nicht verdiene. Auch der Soldat verdient es nicht. Aber vielleicht will er lächerlich sein . . .
Maxim, den ernsten und braven Burschen, hat man vom Dampfer verjagt, während Sergej, der gemeine Kerl, bleiben darf. Alles das stimmt nicht. Wieso ordnen sich diese Leute, die imstande sind, einen Menschen zu Tode zu hetzen, ihn an den Rand des Wahnsinns zu treiben, den bösen Anschreien der Matrosen unter, wieso nehmen sie die Beschimpfungen hin?
»Was drückt ihr alle gegen die Reling?« ruft der Bootsmann und kneift die hübschen, bösen Augen zusammen. »Ihr bringt noch den Dampfer zum Kentern, auseinander, ihr dickbäuchigen Teufel . . .«
Die Teufel gehen gehorsam zum anderen Bord hinüber und werden auch dort wie Hammel davongejagt: »Ha, Pack, verdammtes . . .«
In warmen Nächten ist es unter dem blechernen Sonnendach, das sich tagsüber erhitzt hat, sehr schwül; die Passagiere zerstreuen sich wie Küchenschaben über das Deck und strecken sich – einerlei, wo – zum Schlafen aus; wenn eine Anlegestelle kommt, werden sie von den Matrosen mit Fußtritten geweckt.
»He, ihr liegt mitten im Wege! Platz da, macht, daß ihr fortkommt . . .«
Sie erheben sich und trotten verschlafen dorthin, wohin man sie drängt.
Die Matrosen sind ebensolche Menschen wie sie, nur anders gekleidet, aber sie kommandieren mit ihnen herum wie Polizisten.
Stille, scheue, niedergeschlagene Ergebenheit ist das, was an den Menschen vor allem auffällt, und es wirkt seltsam und unheimlich genug, wenn plötzlich durch diese Schale der Ergebenheit eine grausame, sinnlose, fast immer unfrohe Auflehnung bricht. Mir scheint, die Menschen wissen gar nicht, wohin sie der Dampfer entführt, es ist ihnen auch gleich, wo man sie absetzt. Sie werden, einerlei, wo sie ans Ufer gehen, nicht lange dort bleiben, sie werden aufs neue einen Dampfer besteigen und irgendwohin fahren. Sie wirken alle vom Wege abgekommen und heimatlos, die ganze Erde scheint ihnen fremd. Und allesamt sind irrsinnig feige.
Eines Tages flog nach Mitternacht in der Maschine etwas auseinander – es knallte wie ein Kanonenschuß. Das Deck war sofort in eine weiße Dampfwolke gehüllt, der Dampf drang in dichten Schwaden aus dem Maschinenraum und quoll durch alle Ritzen; irgend jemand, den man nicht sah, schrie ohrenbetäubend laut: »Gawrilo, Mennige, Filz . . .«
Ich schlief neben dem Maschinenraum, auf einem Tisch, auf dem ich tagsüber Geschirr abwusch; als ich vom Knall und der Erschütterung erwachte, war es an Deck noch still; in der Maschine zischte heißer Dampf, man hörte ein hastiges Hämmern. Aber schon eine Minute später heulten und brüllten die Deckpassagiere vielstimmig durcheinander – es wurde sogleich unheimlich.
Im weißen Nebel, der sich rasch lichtete, hasteten barhäuptige Frauen und zerzauste Männer mit runden Fischaugen umher, rissen einander zu Boden, schleppten Beutel, Säcke und Kisten, stolperten, fielen, riefen Gott und Nikola den Wundertäter an und prügelten sich; das war furchterregend, aber zugleich spannend; ich lief hinter den Leuten her und versuchte immerfort, zu verstehen, was sie da taten.
Ich war zum erstenmal Zeuge einer nächtlichen Panik, hatte jedoch sofort begriffen, daß gar kein Grund dazu bestand – der Dampfer fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, steuerbords brannten in nächster Nähe die Lagerfeuer der Mäher, die Nacht war hell, der Vollmond stand hoch am Himmel.
An Deck aber hasteten die Menschen immer aufgeregter durcheinander, auch die Kajütenpassagiere tauchten auf, jemand sprang über Bord, dann ein zweiter, ein dritter; zwei Bauern und ein Mönch versuchten eine im Deck verschraubte Bank freizubekommen – sie schlugen mit Holzscheiten auf sie ein; vom Heck wurde ein großer Käfig mit Hühnern ins Wasser geworfen; in der Mitte des Decks lag vor der Treppe zur Kommandobrücke ein Mann auf den Knien, verneigte sich vor den Vorüberhastenden und heulte wie ein Wolf: »Ich habe gefehlt, ihr Rechtgläubigen . . .«
»Ein Boot, zum Teufel!« schrie ein dicker Herr ohne Hemd, nur in Hosen, und schlug sich mit der Faust an die Brust.
Die Matrosen liefen hin und her, packten die Leute am Kragen, schlugen sie auf die Köpfe oder warfen sie zu Boden. Schwerfällig stapfte zwischen ihnen – er hatte nur den Mantel über die Nachtwäsche geworfen – Smuryj umher und redete mit lauter Stimme auf sie ein: »Schämt euch! Was habt ihr, seid ihr von Sinnen? Der Dampfer hat doch schon angehalten, er liegt längst still! Da drüben ist das Ufer! Die Dummköpfe, die ins Wasser gesprungen sind, haben die Mäher herausgefischt, da kommen sie – seht ihr die beiden Boote?«
Den Leuten aus der dritten Klasse aber schlug er mit der Faust auf die Köpfe, immer von oben herunter; sie sackten zusammen und sanken lautlos um.
Das Durcheinander hatte sich noch nicht gelegt, als eine Dame im Überwurf mit einem Eßlöffel in der Hand auf Smuryj zustürzte, mit dem Löffel vor seiner Nase herumfuchtelte und ihn anschrie: »Wie kannst du es wagen?«
Ein durchnäßter Herr, der sie zurückzuhalten versuchte, leckte sich den Schnurrbart und redete ihr ärgerlich zu: »Laß ihn, den Tölpel . . .«
Smuryj, der verlegen zwinkerte, zuckte nur mit den Schultern und erkundigte sich bei mir: »Was soll das, wie? Warum fällt sie über mich her? Prost Mahlzeit! Ich sehe sie doch zum erstenmal! . . .«
Und ein kleiner Bauer, der Blut spie, rief immerfort aus: »Menschen sind das! Die reinsten Räuber!«
Ich habe zweimal während des Sommers eine Panik auf dem Dampfer erlebt, und beidemal wurde sie nicht durch eine unmittelbare Gefahr, sondern durch die Angst vor einer möglichen Gefahr ausgelöst. Ein drittes Mal erwischten die Passagiere zwei Diebe – der eine war als Pilger verkleidet – und schlugen, unbemerkt von den Matrosen, fast eine volle Stunde auf sie ein; als die Matrosen ihnen die Diebe dann fortnahmen, schimpfte das Publikum: »Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus, das kennt man!« – »Seid selber Spitzbuben, da haltet ihr auch zu Spitzbuben . . .«
Die Spitzbuben waren bis zur Bewußtlosigkeit zusammengeschlagen und konnten sich, als sie an einer Anlegestelle der Polizei übergeben wurden, nicht auf den Beinen halten.
Es gab vieles, das mich leidenschaftlich erregte, das mich hinderte, die Menschen zu verstehen – waren die Menschen nun gut oder böse, still oder händelsüchtig? Und wenn sie böse waren – warum auf eine so grausame, gierige Art, wenn still – warum so beschämend?
Ich fragte mehrmals den Koch danach, aber er hüllte das Gesicht in Zigarettenrauch und sagte – nicht selten ärgerlich: »Hach, was dich alles kratzt! Die Menschen sind eben so . . . Der eine ist klug, der andere ein Dummkopf. Lies lieber Bücher, und plapper nicht. Wenn es die richtigen Bücher sind, muß alles drinstehen.«
Kirchliche Bücher und Heiligenlegenden liebte er nicht.
»Das ist mehr für Popen, für Popensöhne . . .«
Ich wollte ihm eine Freude machen und ihm ein Buch schenken. Auf der Anlegebrücke in Kasan erwarb ich für fünf Kopeken »Die Legende vom Soldaten, der Peter dem Großen das Leben rettete«, doch der Koch war zu dieser Stunde betrunken und böse, ich wagte es nicht, ihm mein Geschenk zu übergeben, und las die »Legende« zunächst selbst. Sie gefiel mir sehr gut – alles war einfach, verständlich, interessant und kurz. Ich war überzeugt, das Buch werde meinem Lehrmeister Vergnügen machen.
Als ich es ihm dann aber überreichte, drückte er es zwischen den Händen zu einem runden Knäuel zusammen und warf es über Bord.
»Da hast du dein Buch, du Dummkopf!« sagte er finster. »Ich richte dich ab wie einen Hund, und du vergreifst dich immer noch am Wild?«
Er stampfte mit dem Fuß und schrie: »Was ist das für ein Buch? Die Dummheiten bin ich alle schon durch. Was steht denn drin – vielleicht die Wahrheit? Nun, antworte mir!«
»Ich weiß nicht.«
»Aber ich! Säbelt man einem Menschen den Kopf herunter, dann fällt der Mann von der Leiter, und die anderen werden es schön unterlassen, zum Heuboden hinaufzuklettern – Soldaten sind keine Idioten! Sie hätten einfach das Heu angesteckt, und aus! Hast du verstanden?«
»Na also! Mit dem Zaren Peter weiß ich Bescheid – dergleichen ist mit ihm nicht vorgefallen! Mach, daß du fortkommst . . .«
Ich sah ein, der Koch hatte recht, aber das Buch hatte mir trotzdem gefallen; ich kaufte mir die »Legende« ein zweites Mal, las sie noch einmal durch und überzeugte mich zu meiner Verwunderung, daß das Buch in der Tat nichts taugte. Das verwirrte mich, und ich verhielt mich von da an zum Koch noch aufmerksamer und vertrauensvoller, während er aus irgendeinem Grunde immer öfter und ärgerlicher zu mir sagte: »Hach, wie nötig es wäre, dich was zu lehren! Du bist hier nicht am rechten Platz!«
Ich fühlte das selber. Sergej benahm sich mir gegenüber abscheulich – ich hatte wiederholt bemerkt, daß er Teegedecke von meinem Tisch nahm und sie – hinter dem Rücken des Büfettiers – den Gästen vorsetzte. Ich wußte, das galt als Diebstahl – Smuryj hatte mich mehr als einmal gewarnt: »Paß auf, gib ja kein Teegeschirr von deinem Tisch den Kellnern ab!«
Es gab noch vieles andere, was schlecht für mich war, ich wäre manchmal am liebsten auf der ersten besten Anlegestelle vom Schiff entlaufen und in den Wald gegangen. Doch Smuryj hielt mich davon ab – er behandelte mich immer weicher, auch fühlte ich mich von der ununterbrochenen Fortbewegung des Dampfers gebannt. Es war mir unangenehm, wenn er an einer Anlegestelle hielt, ich hoffte immerfort, es würde sich etwas ereignen, wir würden uns aus der Kama in die Belaja, in die Wjatka oder sogar die Wolga stromab wenden und ich würde neue Ufer, neue Städte, neue Menschen zu sehen bekommen.
Doch das geschah nicht – mein Leben auf dem Dampfer nahm ein überraschendes und für mich schmähliches Ende. Eines Abends, als wir von Kasan nach Nishnij fuhren, ließ mich der Büfettier zu sich rufen; ich trat ein, er machte die Tür hinter mir zu und sagte zu Smuryj, der mit finsterer Miene auf einem Teppichhocker saß: »Also bitte!«
Smuryj fragte barsch: »Du gibst Serjoshka Gedecke ab?«
»Er nimmt sie sich, wenn ich's nicht sehe.«
Der Büfettier warf leise ein: »Er sieht es nicht, aber er weiß es.«
Smuryj hieb mit der Faust auf sein Knie, rieb auf ihm herum und sagte: »Warten Sie ab, dazu hat's immer noch Zeit . . .«
Und er versank in Nachdenken. Der Büfettier und ich blickten uns an, aber es war, als stünden hinter seiner Brille keine Augen.
Er lebte leise dahin, ging geräuschlos umher und sprach mit gedämpfter Stimme. Manchmal kamen sein ausgeblaßter Bart und seine leeren Augen hinter einer Ecke zum Vorschein, aber sogleich waren sie wieder verschwunden. Vor dem Schlafengehen kniete er lange vor dem Heiligenbild mit dem Ewigen Lämpchen im Büfettraum – ich sah ihn durch das herzförmige Guckloch in der Tür, konnte aber nie feststellen, ob er bete; er stand nur da, sah zur Ikone und zum Lämpchen auf, seufzte und streichelte sich den Bart.
Smuryj, der eine Weile geschwiegen hatte, fragte: »Hat Serjoshka dir Geld gegeben?«
»Nein.«
»Niemals?«
»Niemals.«
»Er lügt nicht«, sagte Smuryj zum Büfettier, doch der entgegnete gedämpft wie immer: »Einerlei. Ich bitte darum!«
»Also komm!« rief mir der Koch zu, trat an meinen Tisch und tippte mir mit dem Finger gegen die Stirn: »Dummkopf! Aber ich bin auch nicht viel besser! Ich hätte auf dich aufpassen sollen . . .«
In Nishnij rechnete der Büfettier mit mir ab – ich bekam acht Rubel ausgezahlt, die erste größere Summe, die ich verdient hatte.
Als Smuryj Abschied von mir nahm, redete er mir finster zu: »Nun, nun . . . Jetzt halte die Augen aber offen – verstehst du mich? Maulaffen feilhalten – das ist nichts . . .«
Er drückte mir einen bunten, mit Glasperlen bestickten Tabaksbeutel in die Hand.
»Hier, nimm! Ist gute Handarbeit, das hat meine Patentochter für mich bestickt . . . Und nun – leb wohl! Lies recht viel, Bücher sind das Beste, was es gibt!«
Er faßte mich unter die Arme, hob mich hoch und gab mir einen Kuß; dann setzte er mich entschlossen auf der Anlegestelle nieder. Er tat mir leid – wie ich mir selber auch; ich hätte bald geheult, während ich zusah, wie er die Schauerleute auseinanderschob und auf den Dampfer zurückkehrte, groß, schwerfällig und allein . . .
Wie viele solche gute und einsame, dem Leben entfremdete Menschen sind mir dann später noch begegnet!