Maxim Gorki
Unter fremden Menschen
Maxim Gorki

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3

Unmerklich, wie ein kleiner Stern im Morgenrot, erlosch mein Bruder Kolja. Großmutter, er und ich schliefen in einem kleinen Verschlag auf Holzscheiten, über die allerlei Lumpenzeug gebreitet war; nebenan befand sich hinter einer undichten Schalbretterwand der Hühnerstall des Hausbesitzers; abends hörten wir, wie sich die satten Hühner, bevor sie einschliefen, noch einmal schüttelten und gackerten; morgens weckte uns der goldgefiederte, stimmgewaltige Hahn.

»Daß dich der und jener!« schalt die Großmutter, die dadurch wach wurde.

Ich hatte schon vorher ausgeschlafen und beobachtete, wie sich die Sonnenstrahlen durch die Ritzen des Holzverschlages bis an mein Bett tasteten; ein silberner Staub wirbelte in ihnen umher – diese Stäubchen waren wie die Worte eines Märchens. Zwischen den Holzscheiten raschelten Mäuse und liefen rötliche Käfer mit schwarzen Punkten auf den Flügeldecken umher.

Manchmal kroch ich, um dem stickigen Dunst des Hühnermists zu entgehen, aus dem Holzverschlag nach draußen, kletterte auf das Dach und beobachtete, wie im Hause die Menschen erwachten. Alle waren verschwollen vom Schlaf und wirkten wie blinde Riesen.

Da steckt der Bootsmann Fermanow, ein finsterer Trunkenbold, den zottigen Kopf zum Fenster hinaus; er blinzelt durch die winzigen Schlitze seiner verschwollenen Augen in die Sonne und grunzt wie ein Eber. Dann kommt der Großvater auf den Hof gestürzt, streicht mit beiden Händen die rötlichen Haare glatt und eilt ins Badehaus, um sich mit kaltem Wasser zu übergießen. Die geschwätzige Köchin des Hauseigentümers, spitznäsig und mit Sommersprossen übersät, erinnert an einen Kuckuck, der Hauseigentümer selber an einen alten, verfetteten Tauber; überhaupt erinnern alle Menschen ringsum an Vögel oder andere Tiere.

Der Morgen scheint so heiter und freundlich, aber mir ist ein wenig traurig zumute, ich möchte am liebsten hinaus aufs Feld, wo keine Menschenseele zu sehen ist; ich weiß schon im voraus: Die Menschen werden den Tag, so schön er auch sein mag, wie immer beschmutzen.

Eines Tages rief mich die Großmutter, als ich auf dem Dach des Holzverschlages lag, zu sich herunter, nickte zu ihrem Bett hinüber und sagte mit gedämpfter Stimme: »Unser Kolja ist tot.«

Der Kleine war, bläulich und nackt, vom roten Kattun des Kissens auf die Filzunterlage geglitten, das Hemd, zum Halse verrutscht, gab seinen aufgeblähten Bauch und die krummen, von Schwären bedeckten Beinchen frei, während die Arme sonderbar unter das Kreuz griffen, als wollte er sich noch einmal aufrichten. Der Kopf war ein wenig zur Seite geneigt.

»Gott sei Dank, er ist hinüber«, sagte die Großmutter, während sie ihre Haare kämmte. »Wozu sollte er leben, der Ärmste?«

Stapfend, als ob er tanzte, kam der Großvater herein und tastete vorsichtig über die geschlossenen Lider des Kindes hin; die Großmutter fragte ärgerlich: »Was faßt du ihn mit ungewaschenen Händen an?«

Er murmelte: »Da ist er zur Welt gekommen . . . hat gelebt und gegessen . . . und war weder Fisch noch Fleisch . . .«

»Komm zu dir«, fiel ihm Großmutter ins Wort.

Er sah sie blicklos an, wandte sich zum Hof und sagte: »Ich habe kein Geld für die Beerdigung, sieh zu, wie du es ohne mich schaffst.«

»Pfui Teufel, du Unglückseliger!«

Ich ging fort und kehrte erst am Abend nach Hause zurück. Kolja wurde am Morgen des folgenden Tages beerdigt; ich war nicht mit zur Kirche und saß mit meinem Hund neben Jas' Vater am aufgeschaufelten Grab meiner Mutter. Jas' Vater hatte nur wenig Geld für das Schaufeln des Grabes genommen und tat in einem fort damit groß: »Das habe ich nur aus Freundschaft getan, es hätte sonst einen Rubel gekostet.«

Ich blickte in die gelbe Grube, aus der ein schwerer Geruch aufstieg, und erkannte seitlich einige schwarze, modrige Bretter. Bei der geringsten Bewegung bröckelten die Sandhügel um das Grab herum ab und rieselten, zwei Randspuren hinterlassend, in dünnen Rinnsalen auf den Grund. Ich bewegte mich absichtlich, damit der Sand die Bretter zuschütte.

»Laß das«, sagte Jas' Vater und schmauchte ruhig seine Pfeife.

Großmutter kam mit dem kleinen weißen Sarg auf den Armen, der »Lumpenkerl« sprang in die Grube, nahm ihr den Sarg ab, stellte ihn neben die schwarzen Bretter, sprang wieder heraus und begann den Sand mit Spaten und Füßen in die Grube zu stoßen. Aus seiner Pfeife stieg Rauch auf wie aus einem Weihrauchgefäß. Schweigend halfen ihm der Großvater und die Großmutter. Weder Popen noch Bettler waren da, nur wir vier, umgeben von der dichten Schar der Kreuze.

Als die Großmutter dem Friedhofswächter das Geld gab, sagte sie vorwurfsvoll: »Du hast den Frieden von Warjas Grabstätte doch noch gestört . . .«

»Was sollte ich machen! Ich habe ohnehin ein Stückchen fremde Erde dazugenommen. Das ist nicht schlimm!«

Die Großmutter verneigte sich vor dem Grab bis an die Erde, schluchzte, heulte auf, wandte sich ab und ging; der Großvater folgte ihr; die Augen unter dem Mützenschirm versteckt, zog er den abgetragenen Rock zurecht.

»Haben den Samen in ungepflügte Erde gesät«, sagte er unvermittelt und eilte wie eine Krähe über den Acker voraus.

Ich fragte die Großmutter: »Was hat er?«

»Laß ihn! Er hat so seine Gedanken«, entgegnete sie.

Es war heiß. Das Gehen fiel der Großmutter schwer, ihre Füße versanken im warmen Sand; sie blieb oft stehen und wischte das schwitzende Gesicht mit ihrem Tuch.

Ich faßte mir ein Herz und fragte: »Das Schwarze dort in der Grube – ist das Mutters Sarg?«

»Ja«, sagte sie ärgerlich. »So ein dummer Kerl . . . Es ist noch kein Jahr vergangen, und Warja ist schon verwest! Kommt alles vom Sand, er läßt das Wasser durch. Lehm wäre besser.«

»Verwesen alle?«

»Alle. Nur die Heiligen nicht.«

»Dann wirst du nicht verwesen!«

Sie blieb stehen, rückte die Mütze auf meinem Kopf zurecht und gab mir ernst den Rat: »Denk nicht darüber nach, das soll man nicht. Hörst du?«

Ich dachte dennoch: Wie ärgerlich und widerwärtig das ist – der Tod. Abscheulich!

Mir war sehr übel zumute.

Als wir zu Hause ankamen, hielt der Großvater schon den Samowar bereit und hatte den Tisch gedeckt.

»Trinken wir Tee, es ist heute so heiß«, sagte er. »Ich brühe auch von meinem auf. Für alle.«

Er trat auf die Großmutter zu und klopfte ihr auf die Schulter.

»Was sagst du nun, Mutter?«

Die Großmutter winkte nur ab.

»Was soll man schon sagen!«

»Das ist es ja eben! Der Herrgott zürnt uns, reißt Stück um Stück von uns los. Wenn die Familien so fest zusammenhielten wie die Finger an der Hand . . .«

Er hatte schon lange nicht mehr so weich und versöhnlich gesprochen. Ich hörte ihm zu und wartete darauf, daß der alte Mann mir helfen würde, meine Kränkung zu überwinden, mir helfen würde, die gelbe Grube und die modrigen schwarzen Bretterreste an ihrer Seite zu vergessen.

Doch die Großmutter unterbrach ihn rauh: »So hör schon auf, Vater! Dein Leben lang wiederholst du diese Worte, aber wem ist damit gedient? Dein Leben lang hast du alle gefressen wie der Rost das Eisen.«

Der Großvater räusperte sich, sah sie an und schwieg still.

Abends erzählte ich Ludmila niedergeschlagen vor dem Haustor, was ich am Morgen gesehen hatte, es machte jedoch keinen merklichen Eindruck auf sie.

»Besser, man lebt als Waise. Wenn Vater und Mutter sterben würden, würde ich die Schwester beim Bruder lassen und selber für immer ins Kloster gehen. Wo soll ich sonst hin? Zum Heiraten tauge ich nicht, eine Lahme ist keine Arbeiterin. Womöglich setzt man noch lahme Kinder in die Welt . . .«

Sie sprach vernünftig wie alle Frauen in unserer Straße, und vermutlich verlor ich an diesem Abend das Interesse an ihr; auch fügte sich das Leben so, daß ich jetzt immer seltener mit ihr zusammentraf.

Einige Tage nach dem Tode meines Bruders sagte der Großvater zu mir: »Leg dich heute früher schlafen, ich wecke dich beim Tagesgrauen, wir gehen in den Wald und holen Holz.«

»Und ich sammele Kräuter«, erklärte die Großmutter.

Der Wald – alles Tanne und Birke – stand auf sumpfigem Grund, etwa drei Werst von der Vorstadt entfernt. Reich an abgestorbenen Bäumen und Bruchholz, reichte er auf der einen Seite bis zur Oka und zog sich auf der anderen bis an die Moskauer Chaussee und weiter hin. Hoch über seinem weichen Borstenkamm ragte als schwarzes Dach ein Fichtendickicht empor – die »Sawelowa Griwa«.

All dieser Reichtum gehörte dem Grafen Schuwalow und wurde nur schlecht bewacht; die Kleinbürger von Kunawino sahen ihn als ihren eigenen an, sammelten Bruchholz, hieben abgestorbene Bäume um und verschmähten gelegentlich auch einen lebenden nicht. Im Herbst, wenn man den Wintervorrat an Holz bereitstellte, zogen die Menschen mit Äxten und Leinen im Gürtel zu Dutzenden in den Wald.

So ziehen nun auch wir drei im Morgengrauen über die grünsilberne, tauige Wiese; linker Hand, hinter der Oka, über den rötlichen Hängen der Djatlow-Berge, über dem weißen Nishni-Nowgorod mit seinen von grünen Gärten bedeckten Hügeln, den goldenen Kuppeln seiner Kirchen, geht ohne Eile die etwas träge russische Sonne auf. Ein leiser Wind weht schläfrig von der stillen und trüben Oka herüber und wiegt die goldgelben Ranunkeln; schwer von Tau neigen sich stumm die violetten Glockenblumen, trocken starren über dem wenig fruchtbaren Rasengrund die bunten Immortellen, und die Nelken – die »Schönen der Nacht« öffnen die hochroten Sterne.

Wie eine dunkle Heerschar rückt der Wald auf uns zu. Die geflügelten Tannen erinnern an große Vögel, die Birken an junge Mädchen. Saurer Sumpfgeruch zieht über das Feld. Neben mir läuft mit hängender rosa Zunge der Hund; er bleibt hier und da stehen, wittert und schüttelt befremdet seinen Fuchskopf.

Der Großvater, in einem kurzen, pelzverbrämten Jäckchen von der Großmutter, mit einer schirmlosen Mütze auf dem Kopf, kneift die Augen zusammen, lächelt über irgend etwas, bewegt sich vorsichtig auf dünnen Beinen voran, als ob er schliche. Großmutter, in blauer Jacke und schwarzem Rock, ein weißes Tuch um den Kopf, rollt rüstig dahin – ich kann ihr kaum folgen.

Je näher der Wald kommt, desto lebhafter wird der Großvater; er zieht die Luft durch die Nase ein, räuspert sich, spricht zuerst undeutlich und abgerissen, dann – wie im Rausch – immer fröhlicher und beredter: »Die Wälder sind die Gärten Gottes. Niemand hat sie gesät, nur der Wind, der heilige Atem von den Lippen des Herrn . . . Damals, in meiner Jugend, in den Shiguli, als ich noch treideln ging . . . Ach, Lexej, das wirst du alles nicht mehr zu sehen bekommen, wirst nicht erleben, was ich erlebt habe! An der Oka? von Kassimow bis Murom – Wald, auch hinter der Wolga ein Wald, der sich bis an den Ural erstreckt! Ja doch! Und alles das – grenzenlos und wunderbar schön . . .« Die Großmutter blickt ihn aus den Augenwinkeln an und zwinkert mir zu, während er über Bodenhöcker stolpert und rasche, knappe Worte hervorsprudelt, die sich in meinem Gedächtnis festsetzen.

»Da zogen wir ein Schiff mit einer Ladung Öl von Saratow zur Messe – sie fing um die Zeit des Makarij-Tages an –, und der für die Fracht Verantwortliche war ein gewisser Kirillo aus Purech, der Schiffsaufseher ein Tatare aus Kassimow, Assaf, wenn ich nicht irre . . . Wir kamen bis an die Shiguli, aber dort packte uns ein Fallwind, genau von vorn – wir waren völlig erschöpft, kamen nicht mehr vom Fleck, rollten nur hin und her; so gingen wir denn an Land, um uns zum Abend eine Grütze zu kochen. Dabei war Mai, die Wolga lag da wie ein Meer, und Wellen wogten auf ihr dahin – als zögen Tausende von Schwänen zum Kaspisee. Die Shiguli-Berge schwingen sich in frischem Grün himmelan, am Himmel weiden weiße Wolken, Sonne tropft auf die Erde wie geschmolzenes Gold. Wir ruhen uns aus, sehen uns bewundernd um und sind uns plötzlich alle sehr gut: Auf dem Fluß war es windig und kalt gewesen, während es hier, am Ufer, warm ist und duftet. Gegen Abend erhebt sich unser Kirillo – er war ein harter Mann und nicht mehr jung – von seinem Platz, nimmt die Mütze vom Kopf und sagt: ›Nun, Freunde, ich will weder euer Vorgesetzter noch euer Diener mehr sein, macht ohne mich weiter, ich gehe für immer in die Wälder!‹ Alle gerieten außer sich – warum und wieso? Was sollten wir ohne ihn, der doch dem Chef gegenüber für alles verantwortlich war – der Mensch geht eben nicht gern ohne Kopf herum! Nun ja, gewiß, es war zwar unsere Wolga, aber man irrt gelegentlich auch vom geraden Pfade ab. Das Volk ist eine unvernünftige Bestie, wer täte ihm schon leid? Wir erschraken. Doch er beharrte auf dem Seinen: ›Ich will nicht mehr so weiterleben, ich bin nicht euer Hirt, ich gehe in die Wälder!‹ Es waren da welche unter uns, die ihn schon schlagen und binden wollten, aber auch andere, die nachdenklich wurden und mahnten: ›Halt, wartet mal!‹ Plötzlich ruft unser Aufseher, der Tatare: ›Ich gehe auch!‹ Das reinste Unglück! Er, der Tatare, bekam noch zwei ganze, dazu die Hälfte einer dritten Fahrt vom Chef bezahlt – das war für damalige Zeiten viel Geld! Wir schrien und stritten uns bis in die Nacht, und schließlich gingen sieben von uns davon; wir blieben alles in allem wohl vierzehn oder sechzehn Mann. Da hast du ihn – den Wald!«

»Gingen sie unter die Räuber?«

»Vielleicht. Vielleicht auch unter die Einsiedler. Damals kümmerte man sich nicht viel darum . . .«

Die Großmutter bekreuzigte sich.

»Heilige Muttergottes! Wenn man über die Menschen so nachdenkt – wie leid sie einem tun!«

»Alle haben den gleichen Verstand mitbekommen – den Teufel muß man am Pferdefuß erkennen . . .«

Wir gehen auf einem nassen Pfad, der zwischen Sumpfhöckern und einzelnen kümmerlichen Tannen hindurchführte, in den Wald. Mir scheint, es müßte sehr schön sein – für immer in den Wald zu gehen wie dieser Kirillo aus Purech. Im Wald gibt es keine geschwätzigen Menschen, keine Trunksucht und keine Prügeleien, man kann dort Großvaters häßlichen Geiz, das sandige Grab der Mutter und alles andere vergessen, was das Herz verletzt, anödet und bedrückt.

An einer trockenen Stelle sagt die Großmutter: »Wir müssen etwas essen, setzen wir uns!«

Sie hat in ihrem Bastkorb Roggenbrot, grüne Zwiebelstengel, Gurken, in Läppchen gehüllten Quark und etwas Salz; der Großvater blickt alles das verlegen an und zwinkert.

»Und ich habe nichts zum Essen mitgenommen, hach verdammt . . .«

»Es reicht für uns alle.«

Wir sitzen, an den kupferroten Stamm einer mächtigen Fichte gelehnt; die Luft ist von Harzgeruch erfüllt, vom Feld herüber weht ein leichter Wind, die Schachtelhalme schaukeln; mit dunkler Hand reißt die Großmutter Gräser ab und erzählt mir von den Heilkräften des Hartheus, der Betonie, des Wegerichs, von der geheimnisvollen Wirkung der Farne, des klebrigen Brandkrauts, des staubigen Bärlapps.

Der Großvater hackt Bruchholz, ich soll das Gehauene an einer Stelle zusammentragen, aber ich schleiche unbemerkt hinter der Großmutter her ins Dickicht – da schwimmt sie langsam zwischen den mächtigen Stämmen umher und neigt sich in einem fort, als ob sie tauchte, zu der mit Tannennadeln besäten Erde. Geht hin und her und unterhält sich mit sich selbst: »Kommt der Hallimasch früh, dann gibt es nur wenig Pilze. Kümmerst dich nicht genug um die Armen, o Herr, für den Armen ist auch ein Pilz ein Leckerbissen!«

Ich gehe vorsichtig hinter ihr her und schweige; ich achte darauf, daß sie mich nicht bemerkt – ich möchte sie nicht stören, wenn sie sich mit ihrem Herrgott, den Gräsern, den Fröschen unterhält.

Sie entdeckt mich dann aber doch.

»Du bist dem Großvater wohl davongelaufen?«

Und immerfort zur schwarzen Erde niedertauchend, die ein prächtig gemustertes Gräsergewand umhüllt, kommt sie darauf zu sprechen, wie der Herrgott in seinem Zorn über die Menschen eines Tages die Erde mit Wasser überschwemmte und alles Lebendige untergehen ließ.

»Seine herzliebe Mutter aber hatte alles, was es an Samen gibt, schon vorher in einem Bastkorb zusammengetragen und rasch versteckt; und später bat sie dann die Sonne: ›Trockne die Erde von einem Ende zum anderen, die Menschen werden dir Loblieder dafür singen!‹ Die Sonne trocknete also die Erde, und die Muttergottes besäte sie mit den beiseite geschafften Samen. Der Herrgott aber sah – wieder gedieh Leben auf der Erde, Gräser wie Menschen und Vieh! . . . ›Wer‹, so fragte er, ›hat gegen meinen Willen gehandelt?‹ Da gestand sie ihm alles ein; dem Herrgott aber hatte es selber schon leid getan, die Erde so wüst zu sehen; er sprach: ›Da hast du recht gehandelt!‹«

Die Erzählung gefällt mir, aber ich bin verwundert und sage in allem Ernst: »War es denn wirklich so? Die Muttergottes ist doch erst lange nach der Sintflut geboren worden.«

Jetzt staunt Großmutter ihrerseits.

»Wer hat dir das gesagt?«

»Aus der Schule hab ich's, es steht in den Büchern . . .«

Das beruhigt sie zwar, aber sie gibt mir den Rat: »Kümmer dich nicht darum, vergiß es, vergiß alle Bücher – ist alles nur Schwindel!«

Und sie lacht leise und belustigt vor sich hin.

»Da haben sie sich was ausgedacht, die Dummköpfe! Gott gibt es, aber eine Mutter hat er nicht. Na so etwas! Wer soll ihn denn geboren haben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie ich das finde! Da lernt ihr und lernt, und wißt zuletzt nur zu sagen: ›Das weiß ich nicht!‹«

»Der Pope hat uns gesagt, die Muttergottes ist durch Joachim und Anna gezeugt worden.«

»Durch Joachim, also Jakim? Eine Marja Jakimowna also?«

Die Großmutter wird langsam böse. Sie steht mir gegenüber und sieht mir streng in die Augen.

»Wenn du weiter so denkst, werde ich's dir noch zeigen!«

Doch einen Augenblick später erklärt sie mir: »Die Muttergottes hat es schon immer gegeben, früher als alles andere! Sie hat Gott geboren, und erst später . . .«

»Und wie war es dann mit Christus?«

Die Großmutter schweigt und verbirgt verlegen die Augen.

»Mit Christus . . . ja doch, wie eigentlich?«

Ich sehe, daß ich gesiegt habe, daß sie sich in den Geheimnissen Gottes verstrickt hat, und das ist mir unangenehm.

Wir dringen immer tiefer in den Wald, in seinen bläulichen, von goldenen Sonnenstrahlen durchstrichelten Dämmer ein. Die Wärme und Behaglichkeit des Waldes ist vom leisen Atem eigentümlich verträumter und träumerisch stimmender Laute erfüllt. Der Kreuzschnabel schnarrt, die Meisen zwitschern, der Kuckuck ruft, die Goldammer pfeift, pausenlos klingt das eifrige Lied der Finken, nachdenklich singt ein seltsamer Vogel, der Fichtengimpel. Smaragdgrüne Frösche hüpfen vor unseren Füßen; zwischen Baumwurzeln liegt, den goldenen Kopf in der Luft, eine Ringelnatter auf der Lauer. Ein Eichhörnchen knistert, in den Fichtenzweigen flimmert sein buschiger Schweif vorüber; man sieht unglaublich viel, möchte immer mehr sehen, immer weiter in alles eindringen.

Zwischen den Fichtenstämmen tauchen, durchsichtig und ätherisch, riesengroße Menschengestalten auf, gleich darauf verschwinden sie im grünen Dickicht; durch das Dickicht schimmert, silberdurchwirkt, der blaue Himmel. Unter den Füßen breitet sich, von Preiselbeersträuchern und trockenen Moosbeerentrieben durchzogen, ein üppiger Moosteppich aus, wie Blutstropfen leuchten im Gras die Steinbeeren, Pilze necken mit ihrem kräftigen Geruch.

»Heilige Muttergottes, du helles Licht der Erde«, betet die Großmutter vor sich hin und seufzt.

Sie ist im Wald gleichsam die Frau des Hauses und allem ringsum verwandt, geht hin und her wie eine Bärin, sieht alles, lobt alles, weiß für alles Dank. Es ist, als ströme sie Wärme aus, und wenn das Moos, das ihr Fuß niedertritt, sich wieder aufrichtet und erholt, sehe ich das besonders gern.

Da gehe ich und denke mir, wie schön es doch wäre, Räuber zu sein, die Habgierigen und Reichen auszuplündern, um das Geraubte den Armen zu überlassen, damit sie alle satt und fröhlich sind und sich nicht beneiden und ankläffen wie böse Hunde. Auch bis vor Großmutters Gott, vor ihre Muttergottes zu gelangen und ihnen die ganze Wahrheit zu sagen wäre schön – damit sie wissen, wie schlecht die Menschen miteinander leben; wie schimpflich sie einander in gewöhnlichem Sand beerdigen. Wieviel Kränkendes, Ärgerliches es überhaupt auf der Welt gibt und dabei gar nicht zu geben brauchte! Wenn die Muttergottes mir Glauben schenkte, müßte sie mir auch Verstand geben, damit ich alles anders und besser einrichten kann. Die Menschen sollten mir vertrauen und auf mich hören – ich würde schon herausfinden, wie man es machen muß. Es würde auch weiter nichts schaden, daß ich noch klein bin – Christus war schließlich nur ein Jahr älter, als ihm bereits die Weisen lauschten . . .

Eines Tages stürzte ich, in Nachdenken versunken, in eine tiefe Grube, riß mir an einem Ast die Seite auf und zerschrammte mir die Nackenhaut. Da saß ich auf dem Grund im kalten Schlamm, der klebrig war wie Pech, und fühlte zu meiner großen Schande, daß ich allein nicht wieder herauskäme; nach der Großmutter mochte ich nicht rufen, ich wollte sie nicht erschrecken. Aber ich tat es dann schließlich doch.

Sie half mir rasch heraus, bekreuzigte sich und sagte: »Gott sei gelobt! Ein Glück, daß die Höhle leer war – wenn nun unten der Hausherr gelegen hätte?«

Und sie brach unter Lachen in Tränen aus. Dann führte sie mich an einen Bach, wusch meine Wunden, verband sie mit ihrem Hemd, wobei sie irgendwelche schmerzstillenden Blätter auflegte, und brachte mich in ein Bahnwärterhäuschen – bis nach Hause war es für mich zu weit, ich fühlte mich ziemlich schwach.

Fast jeden Tag bat ich die Großmutter: »Gehen wir in den Wald!«

Sie war gern dazu bereit, und wir brachten den ganzen Sommer bis in den späten Herbst hinein mit dem Sammeln von Kräutern, Beeren, Pilzen und Nüssen zu. Die Großmutter verkaufte, was wir gesammelt hatten, und wir lebten davon.

»Schmarotzer!« knurrte der Großvater, obwohl wir keinen Krümel von seinem Brot aßen.

Der Wald brachte meiner Seele Frieden und Behaglichkeit; in diesem Gefühl gingen alle meine Betrübnisse unter, und ich vergaß alles Unangenehme, zugleich aber stellte sich auch eine besondere Helligkeit der Sinne bei mir ein – mein Gehör und mein Sehvermögen wurden schärfer, das Gedächtnis differenzierter, ich wurde empfänglicher für neue Eindrücke.

Und immer mehr setzte mich die Großmutter in Erstaunen; ich hatte mich daran gewöhnt, sie als ein Wesen anzusehen, das über allen anderen Menschen stand, als das gütigste, weiseste Wesen der Welt – und immerwährend bekräftigte sie mich in dieser Überzeugung. Eines Abends kamen wir, nachdem wir genug Steinpilze gesammelt hatten, auf dem Heimweg an einen Waldrand; die Großmutter setzte sich nieder, um sich auszuruhen, während ich mich hinter den Bäumen umsah – ob sich nicht irgendwo noch ein Pilz fände.

Plötzlich höre ich ihre Stimme und sehe, wie sie am Fußpfad kauert und in aller Seelenruhe die Wurzeln von den Pilzen schneidet, während daneben mit hängender Zunge ein hagerer grauer Hund steht.

»Geh nur, troll dich!« sagte die Großmutter. »Geh schon – mit Gott!«

Waljok hatte kurz vorher meinen Hund vergiftet, und ich hätte mir diesen neuen gern angelockt. Ich kam zum Pfad gelaufen, doch der Hund verbog sich sonderbar, ohne den Hals zu wenden, sah mich mit hungrigen grünen Augen an und sprang mit eingekniffenem Schwanz in den Wald davon. Sein ganzes Verhalten war keineswegs das eines Hundes – er stürzte im Augenblick, als ich ihm pfiff, schon in die Büsche.

»Was sagst du nun?« fragte die Großmutter mit einem Lächeln. »Da hatte ich zuerst schon geglaubt, es sei ein Hund, aber dann sah ich richtige Wolfszähne, und auch der Hals ist der von einem Wolf! Ich bekam geradezu einen Schreck: ›Wenn du ein Wolf bist‹, sagte ich, ›dann hau mal lieber ab!‹ Ein Glück, daß die Wölfe im Sommer so friedlich sind . . .«

Sie kam im Wald niemals vom Wege ab, sondern fand jedesmal sicher nach Hause. Sie erkannte aus dem Geruch der Gräser, welche Pilze an dieser, welche an jener Stelle wachsen mußten, und fühlte mir oft genug auf den Zahn.

»An welchen Baum hält sich am liebsten der Reizker? Und wie unterscheidet man den eßbaren Täubling vom giftigen? Und welcher Pilz wächst gern bei den Farnen?«

Kaum merkbare Kratzer an Rinden zeigten ihr, wo es Baumhöhlen von Eichhörnchen gab, ich kletterte hinauf und plünderte die Nester der Tierchen, in denen sich gelegentlich ein Wintervorrat von zehn Pfund Nüssen fand.

Eines Tages jagte mir, während ich mich mit diesem Geschäft befaßte, irgendein Jäger siebenundzwanzig Schrotkörner in meine rechte Hüfte; elf klaubte Großmutter mit einer Nähnadel heraus, die übrigen saßen jahrelang unter der Haut und kamen nur nach und nach zum Vorschein.

Der Großmutter gefiel es, daß ich die Schmerzen so geduldig ertrug.

»Bist ein Mordskerl«, lobte sie mich, »wer Geduld hat, wird auch was lernen!«

Jedesmal, wenn sich bei ihr aus dem Verkauf von Pilzen oder Nüssen ein wenig Geld gesammelt hatte, verteilte sie es als »heimliches Almosen« auf den Fensterbrettern. Sie selbst ging auch feiertags in abgetragenen, geflickten Kleidern umher.

»Gehst schlechter gekleidet als eine Bettlerin, blamierst mich nur«, brummte der Großvater.

»Macht nichts, bin schließlich nicht deine Tochter – schau nicht nach Freiern aus . . .«

Sie zankten sich immer öfter.

»Ich bin nicht sündiger als andere«, rief der Großvater gekränkt, »und dennoch werde ich härter gestraft!«

Die Großmutter spottete: »Die Teufel wissen schon, was einer wert ist.«

Und unter vier Augen sagte sie zu mir: »Mein Alter hat doch verdammte Angst vor den Teufeln! Wie rasch er alt wird – alles vor lauter Angst . . . Hach, der Ärmste . . .«

Ich war über Sommer im Wald sehr kräftig und wohl auch scheu geworden und hatte alles Interesse am Leben meiner Altersgefährten verloren, auch an Ludmila – sie erschien mir auf eine langweilige Art vernünftig . . .

Eines Tages – es war schon Herbst und regnete viel – kam der Großvater völlig durchnäßt aus der Stadt, schüttelte sich an der Schwelle wie ein Spatz und verkündete feierlich: »Nun, du Taugenichts, halt dich bereit – morgen trittst du deine neue Stellung an!«

»Wo denn das?« erkundigte sich böse die Großmutter.

»Bei deiner Schwester Matrjona, bei ihrem Sohn.«

»Hach, Vater, da warst du nicht gut beraten!«

»Schweig still, dumme Gans! Sie machen ihn vielleicht zum Zeichner!«

Die Großmutter senkte stumm den Kopf.

Am Abend erzählte ich Ludmila, ich ginge in die Stadt und würde dort leben.

»Auch ich soll bald in die Stadt«, teilte sie mir nachdenklich mit. »Papa will, daß mir das Bein ganz abgenommen wird, ich werde dann gesund, sagt er.«

Sie selbst war über Sommer schmaler, die Haut auf ihrem Gesicht bläulicher geworden. Die Augen wirkten größer.

»Fürchtest du dich?« fragte ich.

»Ja«, gab sie zur Antwort und brach in lautloses Weinen aus.

Ich wußte nicht, womit ich sie trösten konnte – ich fürchtete mich selber vor dem Leben in der Stadt. Wir saßen lange da, schmiegten uns aneinander und schwiegen uns verzagt aus.

Wäre es Sommer gewesen, ich hätte die Großmutter überredet, betteln zu gehen, wie sie als kleines Mädchen betteln gegangen war. Wir hätten auch Ludmila mitnehmen können – in einem Wägelchen, das ich geschoben hätte . . .

Doch es war Herbst, über die Straßen fegte ein feuchter Wind, endlose Wolken verhüllten den Himmel; die Erde war zusammengeschrumpft, war armselig und schmutzig geworden.

 


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