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Ich denke traurig und zugleich belustigt daran zurück, wieviel schwere Erniedrigungen, Kränkungen und Kümmernisse mir die plötzlich entflammte Lesewut einbrachte!
Die Bücher der Zuschneidersfrau erschienen mir unerhört kostbar, und ich bemühte mich – aus Angst, die alte Hausherrin könne sie verbrennen –, nicht mehr an sie zu denken, sondern lieh mir kleine bunte Bändchen im Laden aus, in dem ich Brot für den Morgentee kaufte.
Der Ladenbesitzer war ein äußerst unangenehmer Bursche – schweißig, mit dicken Lippen, weißem, welkem, von skrofulösen Narben und Flecken bedecktem Gesicht, farblosen Augen, kurzen ungelenken Fingern und schwammigen Händen. In seinem Laden trafen sich abends leichte Mädchen und Halbwüchsige aus unserer Straße; auch der Bruder meines Herrn stellte sich fast täglich ein, trank Bier und spielte Karten. Ich wurde öfter hingeschickt, um ihn zum Abendessen zu holen, und habe die dümmliche, rotwangige Krämersfrau in dem engen Stübchen hinter dem Ladenraum wiederholt auf Wiktoruschkas oder anderer Burschen Knien sitzen sehen. Den Ladenbesitzer focht das offenbar nicht an; es focht ihn auch nicht an, wenn seine Schwester, die im Laden aushalf, von Kirchensängern, Soldaten und jedem, der dazu Lust hatte, auf derbe Art geherzt wurde. Waren gab es in seinem Laden nicht viel; er erklärte es damit, daß der Laden noch neu, noch nicht so recht in Schwung gekommen sei, obwohl er schon im Herbst eröffnet worden war. Er zeigte Gästen und Kunden allerlei schmutzige Bildchen und ließ sie auf Wunsch auch schamlose Verse abschreiben.
Ich las nichtssagende Bücher von Mischa Jewstignejew und zahlte eine Kopeke für jedes, das ich entlieh; das war durchaus nicht billig, dabei bereiteten mir die Bücher nicht das geringste Vergnügen. Auch »Guac oder Die unverbrüchliche Treue«, »Franzyl der Venezianer«, »Die Schlacht zwischen Russen und Kabardinern oder Die schöne Mohammedanerin, die sich am Grabe ihres Gatten den Tod gibt« und die gesamte einschlägige Literatur befriedigten mich nicht, sondern ärgerten mich oft genug; das Buch schien mich, während es unwahrscheinliche Dinge mit ungeschickten Worten erzählte, zum Narren zu halten.
»Die Strelitzen«, »Jurij Miloslawskij«, »Der geheimnisvolle Mönch«, »Japantscha, der tatarische Reiter« und ähnliche Bücher gefielen mir schon eher – von ihnen blieb einiges haften; am meisten fesselten mich jedoch die Heiligenlegenden – hier gab es etwas Ernstes, an das ich glauben mochte und das mich gelegentlich im Innersten bewegte. Aus irgendeinem Grunde erinnerten mich alle Märtyrer an »Gar nicht übel«, alle Märtyrerinnen an die Großmutter und alle Gerechten an den Großvater in seinen guten Stunden.
Ich las im Schuppen, wohin ich Holz hacken ging, oder auch auf dem Dachboden, wo es nicht minder kalt und ungemütlich war. Gelegentlich, wenn mich ein Buch fesselte oder rasch ausgelesen werden mußte, stand ich nachts auf und zündete eine Kerze an, aber die alte Hausherrin, die bald bemerkte, daß die Kerzen über Nacht zusammenschrumpften, hielt ihre Maße an einem Spanholz fest, das sie irgendwo zu verbergen wußte. Wenn die Kerze morgens einen Zoll kleiner oder das Spanholz, sofern ich es fand, nicht entsprechend gekürzt war, erhob sich in der Küche ein so wildes Geschrei, daß sich Wiktor eines Tages von der Hängepritsche herunter empörte: »So hören Sie doch auf mit dem Gebell, Mamachen! Das ist doch kein Leben mehr! Natürlich verbrennt er Kerzen, weil er Bücher liest, er leiht sie sich beim Krämer aus, das weiß ich! Sehen Sie doch bei ihm auf dem Dachboden nach!«
Die Alte rannte zum Dachboden hinauf, fand ein Buch und riß es in Fetzen.
Das betrübte mich natürlich, steigerte mein Bedürfnis zu lesen jedoch noch mehr. Ich war mir darüber im klaren, daß meine Herrschaft, auch wenn ein Heiliger in dieses Haus käme, ihn schurigeln und versuchen würde, ihn umzumodeln einfach aus Langerweile. Würden diese Leute aufhören, die Menschen zu richten, über sie zu zetern und zu höhnen, dann würden sie verstummen, verlernen zu sprechen, sich selbst nicht mehr erkennen. Damit ein Mensch sich selber fühlt, muß er zu anderen Menschen in irgendeinem Verhältnis stehen. Meine Herrschaft konnte einfach nicht anders – sie mußte den Nächsten belehren, verurteilen und hätte einen gewiß auch dann noch verurteilt, wenn man so leben, so denken, so fühlen wollte wie sie. Sie waren nun einmal nicht anders.
Ich verstand es, durch allerlei Listen zum Lesen zu kommen, die Alte vernichtete mehrmals die Bücher, und plötzlich schuldete ich dem Krämer die riesige Summe von siebenundvierzig Kopeken! Er forderte sein Geld und drohte mir, er werde es vom Geld der Herrschaft einbehalten, wenn ich in seinen Laden käme, um einzukaufen.
»Was meinst du, was es dann gibt?« fragte er höhnisch.
Er war mir ausgesprochen zuwider und setzte mir, da er das offenbar spürte, mit ganz besonderem Vergnügen durch allerlei Drohungen zu; wenn ich den Laden betrat, verzog er das fleckige Gesicht zu einem freundlichen Grienen und fragte mich: »Hast du mir das Geld mitgebracht?«
»Nein.«
Er schien erschrocken und verfinsterte sich.
»Ja, was denn nun? Ich soll dich wohl beim Friedensrichter verklagen? Wie? Damit sie dich pfänden und – ab mit dir in die Strafkolonie?«
Ich wußte nicht, wo ich das Geld hernehmen sollte, mein Lohn wurde dem Großvater ausgezahlt, ich fragte mich verwirrt: Was tun?
Der Krämer aber streckte mir, als ich ihn bat, auf die Begleichung der Schulden zu warten, die fettige, gleich einem Pfannkuchen schwammige Hand entgegen und sagte: »Küß mir die Hand – dann warte ich!«
Ich ergriff ein Gewicht vom Ladentisch und holte damit gegen ihn aus; da versagten ihm die Knie, und er rief: »Ich bitte dich, aber ich bitte dich – das war doch nur ein Scherz!«
Ich verstand, daß er keineswegs gescherzt hatte, und beschloß, um ihn loszuwerden, das Geld zu stehlen. Wenn ich morgens die Kleidung des Hausherrn bürstete, klimperten in den Hosentaschen Münzen, fielen gelegentlich heraus und rollten über den Fußboden; eines Tages rutschte eine durch eine Treppenritze in die Holzkammer; ich vergaß, es dem Hausherrn zu sagen, und erinnerte mich erst einige Tage später daran, als ich das Zwanzigkopekenstück zwischen den Holzscheiten fand. Ich gab es bei ihm ab, und seine Frau sagte zu ihm: »Da siehst du's! Man muß das Geld zählen, wenn man es in den Taschen stecken läßt.«
Aber der Hausherr lächelte mir nur zu und meinte: »Er stiehlt nicht, das weiß ich!«
Jetzt, nachdem ich beschlossen hatte zu stehlen, erinnerte ich mich dieser Worte und seines vertrauensvollen Lächelns und fühlte, wie schwer es mir fallen würde zu stehlen. Mehrmals nahm ich das Silbergeld aus seinen Taschen, zählte es nach und konnte mich nicht entschließen, es einzustecken. Ich quälte mich drei Tage lang damit herum, bis sich dann alles sehr rasch und einfach löste; ganz unerwartet fragte mich der Hausherr: »Warum bist du plötzlich so traurig, Peschkow, ist dir vielleicht nicht gut?«
Ich erzählte ihm offen von all meinen Kümmernissen; er machte ein finsteres Gesicht.
»Da siehst du, wohin das Bücherlesen führt! Früher oder später bringen einen die Bücher bestimmt ins Unglück.«
Er gab mir fünfzig Kopeken, ermahnte mich aber streng: »Paß auf, daß du dich nicht vor meiner Frau oder der Mutter verplapperst – es gäbe einen Höllenlärm!«
Dann setzte er mit gutmütigem Lächeln hinzu: »Bist aber auch hartnäckig, hol dich der Teufel! Macht nichts, das ist nur gut. Die Bücher aber laß sein! Von Neujahr an abonniere ich eine gute Zeitung, dann hast du was zum Lesen.«
Und schließlich lese ich abends, vom Nachmittagstee bis zum Abendessen, der Herrschaft aus dem »Moskauer Blättchen« vor – Romane von Waschkow, Rokschanin, Rudnikowskij und andere Verdauungsliteratur für Menschen, die sich zu Tode langweilen.
Ich lese nicht gern vor, es hindert mich, das Gelesene zu verstehen; aber die Herrschaft hört mir aufmerksam, mit einer Art andächtiger Neugier zu, wundert sich, staunt über die Verruchtheit der Helden und nickt einander stolz zu: »Und wir sitzen still und friedlich da und haben gottlob von nichts eine Ahnung.«
Sie verwechseln die Geschehnisse, schreiben die Taten des berühmten Räubers Tschurkin dem Fuhrmann Foma Krutschina zu und bringen die Namen durcheinander; ich berichtige die Irrtümer meiner Zuhörer, und sie sind sehr erstaunt.
»Hat der aber ein Gedächtnis!«
Nicht selten begegnet man im »Moskauer Blättchen« Gedichten von Leonid Grawe; mir gefallen sie sehr gut, ich übertrage einige in ein Heft, während die Herrschaft vom Dichter meint: »Ist doch ein alter Mann und schreibt noch Verse!« – »Ein schwachsinniger Trunkenbold – dem kommt es nicht mehr darauf an.«
Mir gefallen auch die Verse von Strushkin und vom Grafen Memento-Mori; die Frauen jedoch, die alte wie die junge, behaupten, Verse seien Narrenpossen.
»Nur ein Hanswurst oder ein Schauspieler spricht in Versen.«
Diese Winterabende in dem engen Stübchen, unter den Augen der Herrschaft, hatten etwas Bedrückendes für mich. Draußen ist tiefe Nacht; gelegentlich hört man den Frost klirren, während die Menschen am Tisch sitzen, stumm wie gefrorene Fische. Oder der Schneesturm schurrt über Scheiben und Wände hin, singt in den Schornsteinen und poltert mit den Ofenklappen; im Kinderzimmer weinen die Kinder – man möchte sich in eine dunkle Ecke verkriechen, ganz klein zusammenkauern und heulen wie ein Wolf.
Am einen Ende des Tisches sitzen die Frauen und nähen oder stricken Strümpfe, am anderen sitzt mit gekrümmtem Rücken Wiktoruschka, der lustlos Risse kopiert und dann und wann ausruft: »So rüttelt doch nicht am Tisch! Es ist ja nicht zum Aushalten, Gabel in den Schnabel, verdammt noch mal!«
Abseits hockt vor einem riesigen Stickrahmen der Hausherr und bestickt ein Leinentischtuch mit Kreuzstichen; seine Finger lassen rote Krebse, blaue Fische, gelbe Schmetterlinge und rostrote Herbstblätter entstehen. Er hat die Zeichnung zur Stickerei selber entworfen und sitzt schon den dritten Winter an dieser Arbeit – er ist ihrer längst überdrüssig und sagt, wenn ich tagsüber frei bin, nicht selten zu mir: »Also los, Peschkow, setz dich ans Tischtuch und fang an!«
Ich setze mich und hantiere mit einer dicken Nadel herum – der Hausherr tut mir leid, ich möchte ihm nach Kräften behilflich sein. Immer wieder scheint mir, er werde eines Tages das Zeichnen, Sticken und Kartenspielen aufgeben, um etwas Neues, Interessanteres zu beginnen, an das er häufig denkt, wenn er die Arbeit plötzlich hinwirft und sie mit unbeweglichen Augen erstaunt, befremdet anstarrt; dann hängt ihm das Haar in Stirn und Wangen; er erinnert an einen Klosternovizen.
»Woran denkst du?« fragt seine Frau.
»Ach was«, entgegnet er und macht sich wieder an die Arbeit.
Ich wundere mich im stillen: Wie kann man einen Menschen fragen, woran er denkt? Man kann die Frage nicht beantworten, weil man in jedem Augenblick an vieles zugleich denkt – an alles, was man vor Augen hat, was man erst gestern oder vor einem Jahr gesehen; alles das bleibt verworren, kaum greifbar, bewegt, verändert sich.
Die Feuilletons im »Moskauer Blättchen« reichten für den Abend nicht aus, und ich schlug vor, die Zeitschriften zu lesen, die im Schlafzimmer unter dem Bett lagen; die junge Herrin wandte mißtrauisch ein: »Was ist da schon zu lesen? Da gibt es doch nur Bildchen . . .«
Immerhin fand sich unter dem Bett neben der »Malerischen Rundschau« auch noch das »Flämmchen«, so daß wir uns schließlich in die Lektüre von Salias' »Graf Tjatin-Baltijskij« vertieften. Der Hausherr findet an dem dümmlichen Helden dieser Erzählung viel Gefallen, lacht über die traurigen Abenteuer des Herrensöhnchens Tränen und ruft erbarmungslos aus: »Nein, was für eine spaßige Geschichte!«
»Sicher alles nur Schwindel«, äußert die Frau des Hauses, um die Unabhängigkeit ihres Urteils zu beweisen.
Die unter dem Bett hervorgeholte Literatur leistete mir einen großen Dienst – ich erkämpfte mir das Recht, die Zeitschriften in die Küche zu nehmen, und verschaffte mir so die Möglichkeit, sie nachts zu lesen.
Zu meinem Glück wechselte die Alte zum Schlafen ins Kinderzimmer hinüber – die Kinderfrau hatte sich plötzlich dem Trunke ergeben. Wiktoruschka störte mich nicht. Wenn alle im Hause schliefen, zog er sich leise an und verschwand bis zum Morgen. Licht überließen sie mir nicht; sie nahmen die Kerze ins Zimmer mit, Geld, um eine Kerze zu kaufen, besaß ich nicht; so las ich heimlich den Talg von den Leuchtern ab, tat ihn in eine leere Sardinenbüchse, goß Lampenöl dazu, drehte einen Docht aus Nähgarn und zündete nachts ein qualmendes Lämpchen an.
Wenn ich die Seiten des riesigen Bandes umschlug, zitterte das Flammenzünglein, schwankte und drohte zu erlöschen, der Docht ertrank alle Augenblicke im übelriechenden geschmolzenen Talg, und Rauch biß mir in die Augen, doch alle diese Unbequemlichkeiten zählten nicht im Vergleich zu dem Genuß, mit dem ich die Illustrationen betrachtete und die Erläuterungen zu ihnen las.
Diese Illustrationen rückten die Erde immer mehr vor mir auseinander, schmückten sie mit märchenhaften Städten, ließen mich hohe Gebirge und schöne Meeresufer sehen. Das Leben weitete sich in wunderbarer Weise, die Erde wurde verlockender, reicher an Menschen und Städten, in jeder Hinsicht mannigfaltiger. Wenn ich jetzt in die Ferne jenseits der Wolga blickte, wußte ich schon, daß es dort keine Leere gab, während mir früher, wenn sich mein Blick gelegentlich hinter den Fluß verlor, eigentümlich traurig zumute wurde: Die Wiesen mit ihren dunklen Flicken von Buschwerk liegen flach da, am Ende der Wiesen – die zackige schwarze Wand der Wälder, über den Wiesen – ein trübes kaltes Blau. Leer und einsam ist es auf der Erde. Auch im Herzen, das eine leise Wehmut beschleicht, wird es leerer, alle Wünsche versinken, man schlösse am liebsten die Augen, es ist nichts da, woran man denken könnte. Die trostlose Leere verheißt nichts, sie saugt das Herz aus.
Die Erläuterungen zu den Illustrationen erzählen in verständlicher Weise von anderen Ländern, anderen Menschen, berichten von allerlei Ereignissen in Vergangenheit und Gegenwart; immerhin kann ich vieles nicht verstehen, und das quält mich. Gelegentlich bohren sich mir irgendwelche seltsamen Worte – wie »Metaphysik«, »Chiliasmus«, »Chartist« – ins Gehirn; sie beunruhigen mich ganz unerträglich, wachsen ins ungeheure, verdecken alles andere, und mir scheint, ich werde nie etwas begreifen, wenn es mir nicht gelingt, hinter den Sinn dieser Worte zu kommen – sie stehen an der Schwelle aller Geheimnisse wie Wächter. Oft bleiben mir ganze Sätze im Gedächtnis stecken – wie ein Splitter im Finger – und hindern mich, an anderes zu denken.
Ich erinnere mich, daß ich eines Tages die seltsamen Verse las:
Stahlgepanzert durch die Leere
Reitet stumm vor seinem Heere
Attila, der Herr der Hunnen.
Hinter ihm her ziehen gleich einer schwarzen Wolke seine Krieger und rufen:
»Wo ist Rom, das allgewaltge?«
Rom war eine Stadt, das wußte ich schon, aber wer waren die Hunnen? Ich mußte es herausbekommen.
Ich warte einen günstigen Augenblick ab und frage den Hausherrn.
»Die Hunnen?« wiederholt er erstaunt. »Weiß der Teufel, was das sein mag! Irgendein Unsinn wahrscheinlich . . .«
Und er schüttelt mißbilligend den Kopf.
»In deinem Schädel wirbelt allerlei dummes Zeug, das ist schlimm, Peschkow!«
Schlimm oder nicht, ich will es jedenfalls wissen.
Mir scheint, dem Regimentsgeistlichen Solowjow müsse bekannt sein, wer die Hunnen sind, ich fange ihn auf dem Hof ab und frage ihn.
Blaß, krank, immer übelgelaunt, mit gelbem Bärtchen und roten Augen ohne Augenbrauen, stößt er den schwarzen Hirtenstab in die Erde und sagt: »Was geht denn dich das an?«
Der Oberleutnant Nesterow beantwortet meine Frage mit einem grimmigen: »Waaas?«
Schließlich entscheide ich, ich könne mich nach den Hunnen beim Provisor in der Apotheke erkundigen; er sieht mich immer freundlich an, hat ein kluges Gesicht und eine goldene Brille auf der großen Nase.
»Die Hunnen«, sagte Pawel Goldberg, der Provisor, »waren ein Nomadenvolk – ähnlich wie die Kirgisen. Heute gibt es dieses Volk nicht mehr, es ist ausgestorben.«
Mir wurde traurig zumute, und ich ärgerte mich – nicht, weil die Hunnen ausgestorben waren, sondern weil sich der Sinn des Wortes, das mich so lange gepeinigt hatte, als so einfach erwies und mir nichts gab.
Ich bin den Hunnen jedoch sehr dankbar – nach der Begegnung mit ihnen beunruhigten mich Worte viel weniger, und ich lernte dank Attila den Provisor Goldberg kennen.
Dieser Mann wußte den einfachen Sinn aller weisen Worte und besaß den Schlüssel zu allen Geheimnissen. Er rückte mit zwei Fingern die Brille zurecht, sah mir aufmerksam in die Augen und sagte, als hämmerte er kleine Nägel in meine Stirn: »Worte, mein Freund, sind wie Blätter am Baum; um zu verstehen, warum das Blatt so und nicht anders ist, muß man wissen, wie der Baum wächst – man muß eben lernen! Das Buch, mein Freund, ist wie ein schöner Garten, in dem es alles gibt – das Angenehme wie das Nützliche . . .«
Ich kam oft zu ihm in die Apotheke gelaufen, um Natron und Magnesia für die Erwachsenen, die ständig an Sodbrennen litten, oder Lorbeersalbe und Abführmittel für die Kinder zu holen.
Die kurzen Belehrungen des Provisors vermittelten mir ein immer ernsteres Verhältnis zu den Büchern, und unbemerkt wurden sie mir unentbehrlich – wie dem Trunkenbold der Wodka.
Sie zeigten mir ein anderes Leben – ein Leben voller großer Gefühle und Begierden, die die Menschen zu Heldentaten oder Verbrechen führten. Ich sah, daß die Menschen, die mich umgaben, keiner Heldentaten oder Verbrechen fähig waren, daß sie irgendwo abseits von alledem lebten, wovon die Bücher sprachen, so daß man schwer verstehen konnte, worin das Interesse ihres Lebens bestand. Ich wollte ein solches Leben nicht führen . . . Ich wollte nicht – darüber war ich mir im klaren.
Aus den Erläuterungen zu den Abbildungen wußte ich, daß es in Prag, London, Paris keine Erdschluchten, keine schmutzigen, aus Schutt errichteten Dämme im Stadtinneren gab, sondern gerade breite Straßen, andere Häuser und andere Kirchen. Es gab dort auch keinen Winter, der sechs Monate dauert und die Menschen in ihren Häusern gefangenhält, auch keine Großen Fasten, während deren man nichts als Sauerkohl, eingesalzene Pilze, Haferbrei und Kartoffeln mit widerwärtigem Leinöl essen darf. Man darf während der Großen Fasten auch keine Bücher lesen – die »Malerische Rundschau« nahm man mir fort, und wieder trat das leere, bitterlich dürftige Leben auf mich zu. Jetzt, wo ich es mit dem vergleichen konnte, was ich aus Büchern wußte, erschien es mir noch ärmlicher und häßlicher. Solange ich las, fühlte ich mich gesünder, stärker, arbeitete ich rasch und geschickt und hatte ich ein Ziel – je früher ich fertig war, desto mehr Zeit erübrigte ich zum Lesen. Ohne Bücher wurde ich schlaff und träge, eine bis dahin unbekannte Vergeßlichkeit ergriff von mir Besitz.
Ich erinnere mich, daß eben in diesen inhaltslosen Tagen etwas Geheimnisvolles geschah – eines Abends, als alle sich schlafen legten, schlug plötzlich die Glocke der Kathedrale an und rüttelte alles im Hause wach; man stürzte halb angezogen ans Fenster und fragte: »Brennt es? Läutet man Sturm?«
Auch in den anderen Wohnungen hörte man durcheinanderlaufen und mit den Türen klappen; irgend jemand rannte mit einem Pferd am Zaum im Hof umher. Die ältere Herrin schrie, die Kathedrale sei ausgeplündert, während der Hausherr sie zu beruhigen suchte: »Nicht doch, Mama, man hört doch, daß es kein Sturmgeläut ist!«
»Dann ist eben der Bischof gestorben . . .«
Wiktoruschka kletterte von der Hängepritsche herunter, zog sich an und murmelte: »Ich weiß, was geschehen ist, ich weiß es!«
Der Hausherr schickte mich auf den Dachboden, er wollte wissen, ob nicht ein Feuerschein zu sehen sei; ich rannte davon und stieg durch die Dachluke aufs Dach – es war kein Feuerschein zu sehen; die Glockenschläge hallten gemessen durch die regungslose, frostige Luft; die Stadt lag verschlafen da; unsichtbar liefen Menschen im Dunkeln über knirschenden Schnee, Schlittenkufen kreischten, die Glocke klang immer unheilvoller. Ich kehrte in die Wohnung zurück.
»Es ist kein Feuerschein zu sehen.«
»Herrgott im Himmel!« sagte der Hausherr, bereits in Mantel und Mütze, klappte den Kragen hoch und stukte unentschlossen die Füße in die Galoschen. Seine Frau flehte ihn an: »Geh nicht hin! Ich bitte dich, geh nicht hin!«
»Ach, Unsinn!«
Wiktoruschka, der ebenfalls fertig angezogen war, forderte alle heraus: »Ich weiß, was es ist . . .«
Nachdem die Brüder das Haus verlassen hatten, befahlen mir die Frauen, den Samowar anzuheizen, und stürzten ans Fenster; doch gleich darauf klingelte es, der Hausherr kam eilig die Treppenstufen herauf, öffnete die Vorzimmertür und sagte mit düsterer Stimme: »Sie haben den Zaren ermordet!«
»Also doch!« rief die Alte aus.
»Sie haben ihn ermordet, ein Offizier hat es mir gesagt . . . Was wird denn nun werden?«
Dann klingelte Wiktoruschka, legte mißmutig ab und brummte ärgerlich: »Und ich habe geglaubt – es ist Krieg!«
Alle setzten sich nieder, um Tee zu trinken, und unterhielten sich ruhig, aber leise und vorsichtig. Auch auf der Straße war es still geworden, die Glocke war verstummt. Zwei Tage lang flüsterten sie geheimnisvoll und waren irgendwo unterwegs, und auch zu ihnen kam Besuch und erzählte etwas in allen Einzelheiten. Ich bemühte mich sehr, zu verstehen, was denn geschehen war. Doch die Herrschaft versteckte die Zeitung vor mir, und als ich Sidorow fragte, weshalb man den Zaren ermordet habe, gab er leise zur Antwort: »Darüber zu sprechen ist verboten . . .«
Alles das verwischte sich rasch und wurde von alltäglichen Kleinigkeiten überdeckt. Bald danach erlebte ich eine sehr unangenehme Geschichte.
Eines Sonntags war die Herrschaft zur Frühmesse gegangen; ich hatte den Samowar angeheizt und räumte die Stuben auf. Da schlüpfte das ältere der Kinder in die Küche, zog den Stopfen aus dem Samowarhahn und verkroch sich unter dem Tisch, um mit dem Stopfen zu spielen. In der Samowarröhre waren viele Kohlen, und als das Wasser ausgelaufen war, lötete sich der Samowar auf. Ich hörte ihn schon in der Stube ungewohnt zornig summen, und als ich in die Küche kam, sah ich voller Schrecken, daß er ganz blau war und bebte, als wollte er in die Luft gehen. Der abgelötete Hahn hing traurig herab, der Deckel war zur Seite gerutscht, unter den Griffen hervor tropfte flüssiges Zinn – der. violettblaue Samowar schien sinnlos betrunken. Ich übergoß ihn mit Wasser, er zischte und zerfiel traurig in seine Bestandteile.
Am Vordereingang wurde geklingelt, ich öffnete und gab auf die Frage der Alten, ob der Samowar fertig sei, kurz zur Antwort: »Ja, das ist er.«
Diese vermutlich aus Angst und Verwirrung hervorgestoßenen Worte wurden als Spott ausgelegt und verschärften die Strafe. Man züchtigte mich. Die Alte benutzte ein Bündel Fichtenspanholz dazu, es tat nicht sehr weh, hinterließ jedoch tief in der Rückenhaut zahlreiche Splitter; gegen Abend schwoll mein Rücken an wie ein Kissen, und am folgenden Mittag mußte mich der Hausherr ins Krankenhaus schaffen. Nachdem mich der lächerlich lange und dürre Doktor untersucht hatte, sagte er mit ruhigem dumpfem Baß: »Hier muß ein Protokoll über Mißhandlung aufgenommen werden.«
Der Hausherr wurde rot, trat von einem Fuß auf den anderen und redete leise auf den Doktor ein, während der über seinen Kopf hinweg starrte und kurz entgegnete: »Das kann ich nicht. Es geht nicht.«
Dann wandte er sich jedoch an mich: »Willst du Klage erheben?«
Ich hatte Schmerzen, aber ich erwiderte: »Nein, behandeln Sie mich lieber rasch . . .«
Man führte mich in ein anderes Zimmer, legte mich auf einen Tisch, der Doktor zog mit einer angenehm kalten Pinzette Splitter um Splitter heraus und scherzte: »Deine Haut, Freundchen, haben sie dir vorzüglich gegerbt, du wirst jetzt wasserdicht werden . . .«
Nachdem er seine Arbeit beendet hatte – es kitzelte mich, daß ich es kaum aushielt –, sagte er: »Zweiundvierzig Splitter hab ich herausgeholt, Verehrter, merk es dir, kannst damit prahlen! Kommst morgen um die gleiche Zeit zum Verbandwechsel. Beziehst du oft Schläge?«
Ich dachte nach und entgegnete: »Nicht mehr so oft wie früher.«
Der Doktor brach mit seiner Baßstimme in Lachen aus: »Entwickelt sich alles zum besten, Verehrter, alles!«
Er begleitete mich zum Hausherrn hinaus und sagte: »Hier, bitte – repariert zurück! Schicken Sie ihn morgen her, damit wir ihn verbinden. Er ist ein komischer Kauz – Ihr Glück . . .«
Während wir mit einer Mietdroschke zurückfuhren, redete mir der Hausherr gut zu: »Auch mich, Peschkow, haben sie öfter geschlagen – was kann man machen? Ja, öfter, Verehrter! Du wirst immerhin bedauert, wenigstens von mir – mich hat keiner bedauert, keiner. Menschen gibt's überall mehr als genug, aber mitfühlen, bedauern – nein, da kannst du lange suchen! Hach, die Bestien von Hühnern . . .«
Er schalt während der ganzen Fahrt, er tat mir leid, ich war ihm sehr dankbar, daß er so menschlich mit mir sprach.
Zu Hause wurde ich wie ein Geburtstagskind aufgenommen; die Frauen ließen sich in aller Ausführlichkeit erzählen, wie mich der Doktor behandelt und was er gesagt hatte, hörten zu und verzogen, erschauernd und wollüstig schmatzend, das Gesicht. Ich wunderte mich über ihr Interesse für Krankheiten, Schmerzen und alles, was unangenehm ist.
Ich sah, wie zufrieden sie mit mir waren, weil ich darauf verzichtet hatte, sie zu verklagen, und machte mir die Gelegenheit zunutze – ich bat um die Erlaubnis, mir von der Zuschneidersfrau Bücher zu leihen. Sie wagten nicht, es abzulehnen, und nur die Alte rief verwundert aus: »Ist das ein Teufel!«
Am Tage darauf stand ich vor der Zuschneidersfrau, die freundlich zu mir bemerkte: »Und mir hat man gesagt, du seist krank, sie hätten dich ins Krankenhaus geschafft – siehst du, was für einen Unsinn sie reden?«
Ich schwieg mich aus. Ich schämte mich, ihr die Wahrheit zu sagen – was sollte sie mit all dem Rohen und Traurigen? Es war so schön, daß sie den anderen nicht glich.
Aufs neue las ich die dicken Wälzer von Dumas-père, Ponson du Terrail, Montépin, Zacconne, Gaboriau, Aimard und Boisgobey – ich verschlang diese Bücher eins nach dem anderen, und mir war wohl. Ich fühlte mich als Teilhaber eines ungewöhnlichen Lebens, das mich auf angenehme Weise erregte und ermunterte. Aufs neue blakte mein selbstgefertigtes Lämpchen, ich las die Nächte durch bis in den Morgen, und meine Augen wurden allmählich krank; liebenswürdig wie immer meinte die ältere Herrin: »Warte nur, Bücherwurm, dir platzen noch mal die Augen, und du wirst blind!«
Mir war dennoch sehr bald klar, daß in all diesen spannend verworrenen Büchern, trotz der Mannigfaltigkeit der Ereignisse und des Wechsels von Ländern und Städten, immer von ein und demselben die Rede war: die Guten waren unglücklich und wurden von den Bösen gehetzt, während die Bösen – jedesmal klüger und glücklicher als die Guten – zu guter Letzt dennoch von einer unsichtbaren Macht besiegt wurden, so daß die Guten unweigerlich triumphierten. Überdrüssig war ich vor allem der »Liebe«, von der alle Männer und Frauen in ein und denselben Worten sprachen. Diese Eintönigkeit war nicht nur langweilig, sie erregte auch ein undeutliches Mißtrauen.
Manchmal erriet man von den ersten Seiten an, wer siegen und wer besiegt werden würde, und versuchte, sobald man sich des Zusammenhangs der Ereignisse bewußt geworden war, den Knoten mit Hilfe seiner Phantasie zu lösen. Man unterbricht das Lesen, denkt über das Buch wie über ein Rechenexempel nach und findet immer häufiger heraus, welche der Helden ins Paradies gelangen und welche zur Hölle hinabfahren sollen.
Immerhin blitzten hinter alledem Züge einer lebendigen und für mich bedeutsamen Wirklichkeit auf, Züge eines anderen Lebens und anderer Lebensverhältnisse. Mir wurde klar, daß die Mietkutscher, Arbeiter und Soldaten, überhaupt das »Volk« von Paris anders als das in Nishnij, Kasan oder Perm ist – es redet unerschrockener mit seiner Herrschaft und verhält sich einfacher und selbstbewußter zu ihr. Da ist zum Beispiel ein Soldat, der mich an keinen von denen erinnert, die ich kenne, weder an Sidorow noch an den Burschen vom Dampfer, noch – und das schon gar nicht – an Jermochin; er, der französische Soldat, ist eher Mensch als alle drei zusammen. Er hat etwas gemein mit Smuryj, ist aber nicht so animalisch-roh wie der. Da ist ein Krämer – auch er ist besser als alle Krämer, die mir begegnet sind. Und auch die Geistlichen sind in den Büchern anders – viel herzlicher, viel teilnahmsvoller zu den Menschen. Überhaupt ist das ganze Leben im Ausland, wie es die Bücher schildern, interessanter, leichter, schöner, als ich es kenne – im Ausland prügelt man sich nicht so oft und nicht so bestialisch wie bei uns, verhöhnt man einen Menschen nicht, wie man bei uns jenen Soldaten aus Wjatka verhöhnte, und betet nicht mit solchem Wahnwitz zu Gott, wie es die alte Herrin tut.
Besonders bemerkenswert für mich ist, daß die Bücher, wenn sie von Bösewichtern, von gierigen, gemeinen Menschen berichten, nichts von der maßlosen Hartherzigkeit, von jener Neigung, den Menschen zu verhöhnen, zu wissen scheinen, die ich so gut kenne und so oft beobachtet habe. Der Bösewicht im Buch ist hartherzig, aber dabei gescheit, und man versteht fast immer, warum er hartherzig ist, während ich eine ziellose, völlig sinnlose Hartherzigkeit vor mir sehe, mit deren Hilfe man nur sein Mütchen kühlt, ohne sich einen Nutzen zu versprechen.
Mit jedem neuen Buch tritt mir dieser Unterschied zwischen dem russischen Leben und dem Leben in anderen Ländern immer deutlicher vor Augen, erregt einen unbestimmten Ärger in mir und verstärkt meine Zweifel an der Aufrichtigkeit der vergilbten, zerlesenen Seiten mit ihren schmutzigen Ecken.
Aber dann fiel mir plötzlich Goncourts Roman »Die Brüder Zemganno« in die Hände, ich las ihn in einem Zuge, in einer einzigen Nacht durch und machte mich, von irgend etwas beeindruckt, das ich bis dahin nicht gekannt hatte, aufs neue an die Lektüre der einfachen und traurigen Geschichte. Es gab nichts Verworrenes, nichts äußerlich Fesselndes in ihr, sie erschien von den ersten Seiten an trocken und ernst wie eine Heiligenlegende. Die präzise und schmucklose Sprache, in der sie geschrieben war, setzte mich anfangs in Erstaunen und berührte mich unangenehm, aber dann gingen die knappen Worte, die fest gefügten Sätze mir so zu Herzen, erzählten mir vom Drama der beiden Brüder und Akrobaten so eindringlich, daß mir vor lauter Genuß an diesem Buch die Hände zitterten. Ich brach in lautes Schluchzen aus, während ich las, wie der unglückliche Artist mit den gebrochenen Beinen den Dachboden erklimmt, wo sich sein Bruder insgeheim in seiner geliebten Kunst übt.
Als ich das schöne Buch der Zuschneidersfrau zurückgab, bat ich sie, mir wieder eins in dieser Art zu leihen.
»Was heißt – in dieser Art?« fragte sie mich mit spöttischem Lächeln.
Ihr Lächeln verwirrte mich, ich konnte ihr nicht erklären, wie ich das meinte, und sie fügte hinzu: »Das ist ein langweiliges Buch, warte, ich bringe dir ein anderes, interessanteres . . .«
Einige Tage später gab sie mir Greenwoods »Wahre Geschichte von einem kleinen Lumpenmatz« zu lesen; der Titel dieses Buches stach mich zwar ein bißchen, aber gleich die erste Seite ließ mich entzückt lächeln; eben mit diesem Lächeln las ich das Buch zu Ende, und manche Seite las ich zwei- oder dreimal.
So schwer also hatten es im Ausland manchmal die Jungen, so qualvoll war ihr Leben! Dann ging es mir also gar nicht so übel, ich brauchte keineswegs zu verzweifeln!
Greenwood spendete mir viel Trost, aber bald darauf geriet ich an ein »richtiges« Buch, die »Eugénie Grandet«.
Der alte Grandet erinnerte mich nachdrücklich an meinen Großvater, ich ärgerte mich, weil das Buch so dünn war, doch setzte es mich zugleich in Erstaunen – es enthielt soviel Wahrheit. Diese mir sehr vertraute und im Alltagsleben längst überdrüssig gewordene Wahrheit wurde in dem Buch in einem völlig neuen – durchaus gelassenen, sehr ruhigen – Licht gezeigt. Alle Bücher, die ich bis dahin gelesen hatte, ausgenommen die der Goncourts, richteten ebenso streng und ebenso marktschreierisch über die Menschen, wie meine Herrschaft es tat; die Bücher weckten häufig genug Sympathie für den Verbrecher und Tugendhaften. Mir tat jedesmal leid, daß ein Mensch, der soviel Geist und Willen aufbot, sein Ziel trotz allem nicht erreichen konnte – die Tugendhaften standen ihm dabei im Wege, von der ersten bis zur letzten Seite, unerschütterlich wie eine Mauer. Auch wenn an dieser Mauer die bösen Absichten der Lasterhaften zerschellten – Steine erwecken keine Sympathie. Mag eine Mauer noch so schön oder auch fest gefügt sein – wer einen Apfel von einem Baum jenseits der Mauer pflücken will, wird sie schwerlich bewundern. Mir schien bereits, daß sich das Wertvollste, Lebendigste irgendwo hinter der Tugend verberge . . .
Bei den Goncourts, bei Greenwood, bei Balzac gab es weder Bösewichter noch Gute, es gab bei ihnen nur wunderbar lebendige Menschen; sie ließen keinen Zweifel daran zu, daß alles, was sie gesagt oder getan hatten, gerade so und nicht anders von ihnen gesagt oder getan worden war und auch gar nicht anders gesagt oder getan werden konnte.
Ich verstand, welch ein Fest ein »gutes, richtiges« Buch eigentlich war. Aber wo nahm man ein solches Buch her? Die Zuschneidersfrau vermochte mir da nicht weiterzuhelfen . . .
»Hier hast du ein gutes Buch.« Mit diesen Worten bot sie mir Arsène Houssayes »Eine Handvoll Rosen, Gold und Blut« oder einen Roman von Belot, Paul de Kock oder Paul Féval an, die ich indessen schon mit Widerwillen las.
Ihr gefielen die Romane von Marryat und Werner – mich langweilten sie. Auch Spielhagen sagte mir nicht zu, dagegen fand ich Auerbachs Erzählungen sehr gut. Sue und Hugo fesselten mich nicht allzusehr, ich zog Walter Scott vor. Ich wünschte mir Bücher, die mich erregen, erfreuen konnten wie der wunderbare Balzac. Selbst diese Frau mit ihrem Porzellanfigürchen gefiel mir immer weniger.
Ich streifte mir, sobald ich zu ihr ging, ein frisches Hemd über, kämmte mich und war in jeder Weise bemüht, mir ein angenehmes Äußeres zu geben – ich glaube kaum, daß mir das gelang, erwartete aber immerhin, daß sie mein angenehmes Äußeres zur Kenntnis nehmen und einfacher, freundschaftlicher mit mir reden werde – ohne das fischmäulige Lächeln auf ihrem glatten, ewig feiertäglichen Gesicht. Sie aber lächelte nur und fragte mit müder, süßlicher Stimme: »Hast du's gelesen? Hat es dir gefallen?«
»Nein.«
Sie hob ganz wenig die feinen Brauen, sah mich an und erkundigte sich seufzend in schon gewohntem näselndem Ton: »Aber warum denn nicht?«
»Weil ich darüber schon gelesen habe.«
»Was heißt – darüber?«
Sie kniff die Augen zusammen und brach in ein zuckersüßes Lachen aus.
»Ach was! Aber es wird doch in allen Büchern über die Liebe geschrieben!«
Sie sitzt in ihrem großen Sessel, baumelt mit den kleinen, in Fellpantoffeln steckenden Füßen, gähnt, mummelt sich in ihren himmelblauen Morgenrock und trommelt mit rosigen Fingern an den Deckel des Buches auf ihren Knien.
Am liebsten würde ich sie fragen: Warum ziehen Sie denn nicht fort? Die Offiziere schreiben doch in einem fort Liebeszettel an Sie und machen sich über Sie lustig . . .
Aber es fehlt mir der Mut, ihr das zu sagen, und ich ziehe mich zurück – in der Hand ein dickes Buch »über die Liebe«, im Herzen wehmütige Enttäuschung.
Auf unserem Hof spricht man immer schlechter, immer spöttischer, immer häßlicher von ihr. Das schmutzige und sicherlich auch verlogene Gerede über sie verdrießt mich sehr; solange ich nicht vor ihr stehe, tut sie mir leid, und ich ängstige mich um sie. Komme ich aber zu ihr und sehe ihre scharfen Äuglein, die katzenartige Geschmeidigkeit des kleinen Körpers, das ewig feiertägliche Gesicht, zergehen mein Mitleid und meine Angst um sie wie Rauch.
Im Frühjahr war sie dann plötzlich irgendwohin verschwunden, und wenige Tage darauf verzog auch ihr Mann.
Während die Wohnung leer stand und auf den neuen Mieter wartete, sah ich herein, um einen Blick auf die kahlen Wände mit den hellen, von den Bildern zurückgebliebenen Quadraten, den verbogenen Nägeln oder Nagelspuren zu werfen. Auf dem gestrichenen Fußboden lagen bunte Stofffetzen, Papierschnitzel, zerdrückte Arzneischachteln, leere Parfümfläschchen und eine große blitzende Kupfernadel herum.
Mir wurde traurig zumute; ich hätte die kleine Zuschneidersfrau gerne noch einmal gesehen und ihr gesagt, wie dankbar ich ihr bin.