Maxim Gorki
Unter fremden Menschen
Maxim Gorki

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18

Ossip wuchs in meinen Augen – wie seinerzeit der Heizer Jakow – derartig, daß er alle anderen Menschen vor mir verdeckte. Er hatte etwas dem Heizer Verwandtes, erinnerte mich aber gleichzeitig an den Großvater, den Bibelkenner Pjotr Wassiljitsch, den Koch Smuryj und hinterließ, indem er an alle diese meinem Gedächtnis fest eingeprägten Menschen erinnerte, seine tiefen Spuren in ihm; er fraß sich in mein Gedächtnis ein wie Oxyd in das Erz einer Glocke. Man merkte, daß er zweierlei Arten Gedanken hatte – am Tage, unter Menschen, bei der Arbeit waren seine Gedanken rasch, einfach, sachlich und leichter verständlich als die, die ihm abends während der Mußestunden kamen, wenn er in die Stadt zu seiner Gevatterin, einer Pfannkuchenhändlerin, mit mir ging, oder nachts, wenn er nicht schlafen konnte. Er hatte seine besonderen nächtlichen Gedanken, die vielseitig wie das Licht einer Laterne ausstrahlten. Sie leuchteten gut, aber wo war ihre eigentliche Richtung, welche Seite des einen oder anderen Gedankens war Ossip näher und wichtiger?

Er schien mir bei weitem klüger als alle Menschen, denen ich begegnet war, und ich strich in der gleichen Stimmung um ihn herum wie seinerzeit um den Heizer Jakow – ich wollte ihn erkennen und verstehen, doch er entglitt mir, wand sich hin und her und blieb ungreifbar. Was war der Kern seines Wesens? Welcher Seite konnte man trauen?

Ich muß daran denken, wie er zu mir sagte: »Finde selber heraus, was in mir steckt, versuch's doch!«

Das trifft meinen Ehrgeiz, und nicht nur den Ehrgeiz, sondern viel mehr – es ist für mich lebenswichtig, den Alten zu begreifen.

Er ist bei aller Ungreifbarkeit doch fest. Mir scheint, er würde sich, auch wenn er noch hundert Jahre zu leben hätte und alles so bliebe, wie es ist, unter den sonderbar schwankenden Menschen unverändert erhalten. Auch bei dem Bibelkundigen hatte ich dieses Gefühl von Beständigkeit gehabt, aber es war mir nicht sehr angenehm gewesen; Ossips Beständigkeit war anders, sie sagte mir schon eher zu.

Der Wankelmut der Menschen fiel allzusehr auf, ihre vertrackten Bocksprünge aus einer Lage in die andere warfen mich um; ich war des Wunderns über die unerklärlichen Sprünge schon müde, sie löschten mein reges Interesse für die Menschen allmählich aus, beirrten mich in der Liebe zu ihnen.

Eines Tages, Anfang Juli, fuhr an der Stelle, an der wir arbeiteten, rasch eine klapprige Mietdroschke vor; auf dem Bock saß, finster schluckend, der bärtige, betrunkene Kutscher – ohne Mütze, mit blutender Lippe; im Fond lümmelte sich, auch er schwer angegangen, Grigorij Schischlin, Arm in Arm mit einer dicken, rotwangigen Jungfer, die einen Strohhut mit feuerroter Schleife und Glaskirschen trug, einen Sonnenschirm in der Hand hielt und Gummigaloschen an den bloßen Füßen hatte.

Sie fuchtelte mit dem Schirm, schaukelte hin und her, lachte und rief: »Ha, Teufel! Die Messe ist doch noch gar nicht eröffnet, von Messe ist keine Rede, und mich schleifen sie her!«

Grigorij glitt zerknittert, fast schon zerfledert, aus der Droschke, setzte sich auf die Erde und verkündete uns Zuschauern unter Tränen: »Auf den Knien liege ich vor euch – ich habe mich schwer versündigt! Habe über alles nachgedacht und mich versündigt: So, da habt ihr's! Jefimuschka sagt: ›Grischa, Grischa . . .‹ So sagt er, und damit hat er auch recht, ihr aber verzeiht mir! Ich kann euch ja gern einladen. Er hat recht: Wir leben alle nur einmal . . . mehr ist nicht drin . . .«

Die Jungfer lachte aus vollem Halse, trampelte mit den Füßen und verlor ihre Galoschen, und der Kutscher verlangte brummig: »Fahren wir rasch weiter! Los, ihr, das Pferd ist nicht mehr zu halten!«

Das Pferd, eine alte, abgetriebene Mähre, völlig von Schaum bedeckt, stand da wie angewurzelt; alles zusammen wirkte unwiderstehlich komisch. Grigorijs Arbeiter wälzten sich vor Lachen und staunten ihren Herrn, seine geputzte Dame, den aus dem Häuschen geratenen Kutscher an.

Nur Foma, der neben mir in der Ladentür stand, lachte nicht; er murmelte: »Jetzt hat's dem Schwein die Maske heruntergerissen . . . Dabei hat er zu Hause eine Frau, ein schönes Frauenzimmer!«

Der Kutscher bestand darauf, rasch weiterzufahren, die Jungfer stieg aus, half Grigorij auf und verstaute ihn in der Droschke zu ihren Füßen; dann schwang sie den Schirm und rief: »Abfahren!«

Gutmütig über den Chef spottend und ihn beneidend, machten sich die Leute auf einen Zuruf Fomas wieder an die Arbeit; Foma war es offenbar unangenehm, Grigorij so lächerlich zu sehen.

»Und so etwas nennt sich Chef!« murmelte er. »Wir haben weniger als einen Monat zu arbeiten und fahren dann aufs Dorf . . . Aber nein, er hat es nicht ausgehalten . . .«

Ich ärgerte mich über Grigorij – diese Jungfer mit den Kirschen nahm sich so abgeschmackt neben ihm aus.

Nicht selten fragte ich mich: Warum ist Grigorij Schischlin der Herr und Foma Tutschkow sein Arbeiter?

Kräftig und krausköpfig, mit weißer Haut, Habichtnase und klugen grauen Augen im runden Gesicht, sah Foma einem Bauern wenig ähnlich – in guten Kleidern hätte er für einen Kaufmannssohn aus gutem Hause gegolten. Er war ein finsterer Mann, der wenig und sachlich sprach. Schreib- und lesekundig, führte er die Rechnungen des Unternehmers, stellte Voranschläge auf und wußte die Gefährten zur Arbeit anzuhalten, obwohl er selbst nicht gern dabei mittat.

»Ganz läßt sich die Arbeit ja doch nie schaffen«, meinte er gelassen. Über Bücher äußerte er geringschätzig. »Drucken kann man alles, ich sauge mir aus den Fingern, was du willst, das ist gar nichts . . .«

Dennoch hörte er aufmerksam auf alles hin und fragte die Leute, sobald ihn etwas interessierte, eingehend und beharrlich aus; er ging dabei stets seinen eigenen Gedanken nach und beurteilte alles nach seinem eigenen Maß.

Eines Tages sagte ich zu Foma, eigentlich müsse er der Unternehmer sein. Er gab lustlos zur Antwort: »Ja, wenn man gleich mit Tausenden schalten könnte . . . Aber so – sich mit den Leuten wegen Groschen herumschlagen – das heißt doch leeres Stroh dreschen! Nein, ich sehe mir das alles noch eine Weile an und gehe dann ins Kloster, nach Oranki. Ich sehe gut aus und bin auch kräftig – vielleicht gefalle ich einer Kaufmannswitwe! So was kommt vor – da hat ein Bursche aus Sergatsch in knapp zwei Jahren sein Glück gemacht und sich mit einem Mädchen verheiratet, auch noch von hier, aus unserer Stadt; sie zogen mit einer Ikone von Haus zu Haus, und eben bei dieser Gelegenheit hat sie ihn dann entdeckt . . .«

Darüber hatte er nachgedacht – er kannte zahlreiche Geschichten von Menschen, die das Noviziat in einem Kloster auf angenehme Bahnen geführt hatte. Mir gefielen seine Erzählungen nicht, auch seine ganze Denkweise sagte mir nicht zu, ich war jedoch überzeugt, er werde wirklich in ein Kloster gehen.

Dann wurde die Messe eröffnet, und Foma verdingte sich, überraschend für uns alle, als Kellner in einer Gastwirtschaft. Ich will nicht sagen, daß seine Arbeitskameraden sehr verwundert waren; wohl aber hatten alle von da an nur noch Spott für ihn übrig; wenn sie feiertags Tee trinken gingen, zwinkerten sie sich gegenseitig zu und sagten: »Auf denn – zu unserem Kumpel!«

In der Gastwirtschaft kommandierten sie wie große Herren herum: »Kellner! He, Krauskopf, komm doch mal her!«

Er trat auf sie zu, sah auf und fragte: »Was wünschen Sie?«

»Erkennst du deine alten Bekannten nicht wieder?«

»Dazu habe ich keine Zeit.«

Er fühlte, daß seine Kameraden ihn verachteten, daß sie sich einen Spaß mit ihm machen wollten, und blickte sie mit trauriger Erwartung an; sein Gesicht wurde hölzern, es schien zu sagen: Los, macht schon, lacht mich schon aus, worauf wartet ihr noch?

»Nimmst du ein Trinkgeld?« fragte man ihn, kramte absichtlich recht lange in seiner Börse und gab keine Kopeke.

Ich fragte Foma, wieso er denn zu den Mönchen gewollt habe und plötzlich Lakai geworden sei.

»Zu den Mönchen habe ich nicht gewollt«, entgegnete er, »und Lakai werde ich nicht lange bleiben . . .«

Ich traf ihn vier Jahre später in Zarizyn; er arbeitete immer noch als Kellner in einer Gastwirtschaft; schließlich erfuhr ich aus der Zeitung, daß Foma Tutschkow wegen versuchten Einbruchdiebstahls verhaftet worden war.

Besonders verblüffte mich die Geschichte des Maurers Ardaljon, des ältesten und besten Arbeiters in Pjotrs Artel. Unwillkürlich fragte ich mich auch hier, warum eigentlich Pjotr und nicht dieser vierzigjährige, schwarzbärtige, fröhliche Bauer Herr des Artels war. Er trank nur selten Wodka und betrank sich fast nie; auf seine Arbeit verstand er sich ausgezeichnet und war auch mit Liebe dabei – die Ziegel flogen in seinen Händen wie rote Tauben. Der kranke und mürrische Pjotr erschien neben ihm im Artel völlig entbehrlich; über die Arbeit pflegte Pjotr zu sagen: »Ich baue Steinhäuser für die anderen, damit es zu einem hölzernen Sarg für mich reicht . . .«

Ardaljon, der mit fröhlichem Grimm die Steine vermauerte, rief hier und da den Arbeitsgefährten zu: »He, Jungen, packt an, zum Ruhme Gottes!«

Und er erzählte allen, er werde im kommenden Frühjahr nach Tomsk gehen, sein Schwager habe dort einen großen Auftrag – den Bau einer Kirche – übernommen und wolle ihn als Vorarbeiter einstellen.

»Das ist für mich eine beschlossene Sache. Kirchen bauen – da bin ich dabei!« sagte er und schlug mir vor: »Komm mit! In Sibirien, Verehrter, hat es einer, der lesen und schreiben kann, sehr einfach, das ist dort Trumpf!«

Ich war einverstanden, und Ardaljon rief triumphierend aus: »Na also! Das ist doch was, sind schließlich keine Späße . . .«

Pjotr und Grigorij behandelte er mit gutmütigem Spott, wie ein Erwachsener Kinder; zu Ossip sagte er über sie: »Prahlhänse, versuchen sich gegenseitig ihren Verstand zu beweisen wie beim Kartenspiel. Der eine – da, schau her, was für ein Blatt ich habe, der andere – und ich erst, sieh dir das an, nur Trümpfe!«

Ossip bemerkte unbestimmt: »Wie könnte es anders sein? Prahlen ist menschlich, die Mädchen wölben alle den Busen vor . . .«

»Immer stöhnen sie und führen Gott im Munde, häufen dabei aber Geld an!« ließ Ardaljon nicht nach.

»Nun, Grischa wird wohl keins anhäufen . . .«

»Ich rede von meinem. Soll er mit seinem Gott doch in die Wälder, in die Wüste gehen . . . Ach, ich habe hier alles satt, im Frühjahr mach ich mich auf und davon – nach Sibirien . . .«

Die Arbeiter beneideten Ardaljon und meinten: »Ja, wenn wir so einen Rückhalt hätten wie du in deinem Schwager, würden auch wir uns nicht vor Sibirien scheuen . . .«

Und plötzlich war Ardaljon verschwunden. Er hatte das Artel an einem Sonntag verlassen, und etwa drei Tage hörte man nichts von ihm. Man riet besorgt hin und her: »Vielleicht ist er bei einer Schlägerei verletzt worden?«

»Oder er hat gebadet und ist ertrunken?«

Doch dann kam Jefimuschka und erklärte betreten: »Ardaljon bummelt!«

»Was redest du da?« rief Pjotr mißtrauisch.

»Er bummelt, er trinkt. Hat einfach wie eine Getreidedarre von innen her zu brennen begonnen. Als wäre ihm die geliebte Frau gestorben . . .«

»Er ist doch Witwer! Wo steckt er?«

Pjotr machte sich ärgerlich auf, um Ardaljon zu retten, doch der verprügelte ihn.

Da preßte Ossip die Lippen aufeinander, vergrub die Hände in den Taschen und erklärte: »Jetzt gehe ich mal hin und sehe nach, was mit ihm ist. Er ist doch ein anständiger Kerl . . .«

Ich heftete mich an seine Fersen.

»So ist das nun mit den Menschen«, sagte Ossip unterwegs, »da lebt einer still dahin, alles scheint gut, und plötzlich mit fliegender Fahne ab durchs Gelände! Halte die Augen offen, Maximytsch, und lerne . . .«

Wir kamen in eines der billigen »Häuser« des »vergnüglichen Dorfes Kunawino«; eine durchtriebene Alte empfing uns. Ossip flüsterte mit ihr, worauf sie uns in ein fast leeres kleines Zimmer führte, das dunkel und schmutzig war wie ein Stall. Auf einem Bett schlief, Arme und Beine von sich gestreckt, eine große, dicke Frauensperson; die Alte stukte sie mit der Faust in die Seite und sagte: »Hinaus! He, du alte Kröte, hinaus!«

Die Frau sprang erschrocken auf, rieb sich die Augen und fragte: »Mein Gott! Was ist? Wer ist denn das?«

»Geheimpolizei«, entgegnete Ossip barsch; die Frau schrie auf und verschwand, während Ossip ihr nachspie und mir erklärte: »Vor der Geheimpolizei fürchten sie sich ärger als vor dem Teufel . . .«

Die Alte nahm einen kleinen Spiegel von der Wand und hob ein Stück Tapete hoch.

»Sehen Sie her – ist es der?«

Ossip spähte durch eine Lücke in der Bretterwand.

»Er ist es! Jag das Mädel fort . . .«

Auch ich sah durch die Lücke. In einer Kammer, genauso eng wie die, in der wir uns befanden, brannte auf dem Fensterbrett vor den verschlossenen Läden eine Blechlampe, und neben ihr stand eine schlitzäugige nackte Tatarin, die ihr Hemd einnähte. Dahinter ragte auf zwei Bettkissen das gedunsene Gesicht Ardaljons empor und starrte, schwarz und zerzaust, sein Bart. Die Tatarin zuckte zusammen, warf sich das Hemd über, glitt am Bett vorüber zur Tür und erschien plötzlich in unserem Zimmer.

Ossip blickte sie an und spie aufs neue aus.

»Hu, schamloses Frauenzimmer!«

»Und du bist eine alte Dummkopf«, entgegnete sie lachend.

Auch Ossip lachte und drohte ihr mit dem Finger.

Wir gingen in die Kammer der Tatarin hinüber, Ossip setzte sich zu Ardaljons Füßen aufs Bett und bemühte sich lange; doch ohne Erfolg, ihn zu wecken; Ardaljon lallte nur: »Schon gut . . . Augenblick, wir gehen gleich . . .«

Schließlich wurde er wach, sah Ossip und mich scheu an, schloß die geröteten Augen und brummte: »Nun, nun . . .«

»Was ist denn mit dir los?« fragte Ossip gelassen, zwar ohne Vorwurf, aber nicht gerade heiter.

»Bin eben ins Bummeln gekommen«, erläuterte krächzend und hustend Ardaljon.

»Wieso denn?«

»Nun ja, wie das nun mal so ist . . .«

»Wenig schön, will mir scheinen.«

»Was soll daran schon Schönes sein . . .«

Ardaljon griff nach der angebrochenen Flasche auf dem Tisch, trank einen Schluck Wodka und bot auch Ossip davon an. »Magst du? Da ist wohl auch noch was zu essen . . .«

Ossip nahm einen Schluck aus der Flasche, verzog das Gesicht und zerkaute sorgfältig ein Stück Brot, während der noch benebelte Ardaljon lustlos fortfuhr: »Da habe ich mich mit dieser Tatarin eingelassen . . . Daran ist nur Jefimuschka schuld; sie ist jung, hat er gesagt, ist eine Waise aus Kassimow und hat sich zur Messe bei uns eingefunden.«

Hinter der Wand sagte jemand fröhlich in gebrochenem Russisch: »Tatarin gut! Tatarin wie junge Huhn. Wirf ihm hinaus, ist doch nicht deine Vater . . .«

»Ja, eben die meine ich«, murmelte Ardaljon und starrte dumpf zur Wand.

»Ich habe sie gesehen«, sagte Ossip.

»So ist das alles mit mir, Verehrter«, wandte sich Ardaljon an mich.

Ich hatte erwartet, daß Ossip ihm Vorwürfe machen und ihn zurechtweisen und daß sich Ardaljon verwirrt und bußfertig zeigen würde. Doch nichts dergleichen geschah – sie saßen Schulter an Schulter nebeneinander und unterhielten sich seelenruhig in kurzen Worten. Ich fand es traurig genug, sie hier, in diesem dunklen, schmutzigen Loch zu sehen; die Tatarin gab durch die Lücke in der Wand allerlei komisches Zeug zum besten, aber sie hörten ihr nicht zu. Ossip nahm eine gedörrte Zärte vom Tisch, klopfte sie mehrmals gegen seinen Stiefel und schälte sorgsam die Haut ab, wobei er fragte: »Dein Geld hast du wohl restlos vertan?«

»Ich kriege noch etwas von Petrucha.«

»Sieh zu, daß du mit allem zurechtkommst! Du wolltest doch nach Tomsk?«

»Was soll ich da?«

»Hast du's dir anders überlegt?«

»Ja, wenn es Fremde wären . . .«

»Wie meinst du das?«

»Nun ja, es sind doch meine Schwester und mein Schwager . . .«

»Na und?«

»Es ist nicht allzu angenehm, bei seinen Verwandten in Dienst zu gehen.«

»Dienst ist Dienst.«

»Trotzdem . . .«

Sie unterhielten sich so freundschaftlich und ernst, daß die Tatarin es aufgab, sie zu necken, schweigend das Zimmer betrat, ihr Kleid von der Wand nahm und verschwand.

»Sie ist jung«, meinte Ossip.

Ardaljon sah ihn an und sagte ohne Bedauern: »Alles nur dieser Tunichtgut Jefimuschka! Er kennt nichts als die Weiber . . . Diese Tatarin ist allerdings lustig, hat lauter Flausen im Kopf.«

»Paß auf, daß du nicht hängenbleibst«, warnte ihn Ossip, aß seine Zärte auf und verabschiedete sich.

Auf dem Rückweg fragte ich Ossip: »Was wolltest du bei ihm?«

»Einfach mal nachsehen! Ist schließlich ein guter Bekannter. Ich habe da ziemlich viel solche Fälle gesehen – ein Mensch lebt friedlich dahin und bricht so mir nichts, dir nichts aus dem Zuchthaus aus«, wiederholte er mit anderen Worten, was er schon früher gesagt hatte. »Man muß sich vor dem Wodka in acht nehmen!«

Einen Augenblick später jedoch setzte er hinzu: »Dabei ist ohne ihn alles so trübselig!«

»Ohne Wodka?«

»Gewiß doch! Hat man einen getrunken, dann ist es, als wandle man auf einer anderen Erde . . .«

Ardaljon kehrte nicht wieder zurück. Zwar stellte er sich einige Tage später zur Arbeit ein, verschwand jedoch bald aufs neue: ich traf ihn im Frühjahr unter Barfüßlern – sie hackten Lastkähne aus dem Eis einer Flußbucht frei. Wir kamen uns freundlich entgegen und gingen in ein Gasthaus, um Tee zu trinken. Beim Tee warf er sich in die Brust: »Weißt du noch, was für ein Arbeiter ich war? Geradeheraus gesagt – in meinem Fach ein Meister! Ich hätte Hunderte verdienen können!«

»Hast du aber nicht . . .«

»Ha – habe ich nicht!« rief er stolz. »Ich pfeife auf die Arbeit!«

Er spielte sich ziemlich auf, die Leute im Gasthaus horchten aufmerksam auf seine großspurigen Reden hin.

»Weißt du noch, was der heimliche Dieb Petrucha über die Arbeit gesagt hat? Den anderen ein steinernes Haus, für mich einen hölzernen Sarg. Da hast du deine Arbeit!«

Ich sagte: »Petrucha ist krank, er fürchtet sich vor dem Tod.«

Doch Ardaljon rief: »Auch ich bin vielleicht krank, bei mir ist vielleicht die Seele nicht auf dem rechten Fleck!«

Feiertags stieg ich oft aus der Stadt zur Millionnaja-Straße hinunter, in der die Barfüßler hausten, und sah, wie rasch Ardaljon in der »goldenen Rotte« heimisch wurde. Vor einem Jahr noch fröhlich, aber gesetzt, war Ardaljon irgendwie aufrührerisch geworden; er hatte sich einen eigentümlichen, schaukelnden Gang zugelegt, sah die Menschen herausfordernd an, als suche er mit jedermann Streit oder Händel, und prahlte in einem fort: »Schau dir an, wie ich hier aufgenommen worden bin – ich bin hier eine Art Bandenhauptmann!«

Er bewirtete, ohne mit dem Verdienten zu geizen, die Barfüßler, stellte sich bei Schlägereien auf die Seite des Schwächeren und erhob oft genug seine mahnende Stimme: »Kinder, das ist nicht richtig von euch! Man muß gerecht sein!«

So bekam er den Spitznamen »Der Gerechte«, und das gefiel ihm sehr gut.

Eifrig beobachtete ich die Menschen, die in dem alten und schmutzigen steinernen Straßenschlauch zusammengepfercht waren. Alle waren im Leben gestrandet, aber das Leben, das sie sich selber geschaffen hatten, schien mir vergnügt und unabhängig von irgendwelchen Herren. Sorglos und verwegen, erinnerten sie mich an Großvaters Erzählungen von den Burlaken, die sich so mühelos in Räuber oder Einsiedler verwandelten. Wenn keine Arbeit da war, verschmähten diese Menschen auch kleine Diebstähle auf Lastkähnen oder Dampfern nicht, aber das störte mich kaum – ich sah, daß Diebereien das Leben durchwirkten wie graue Fäden einen alten Mantel, und sah auch, daß diese Menschen mit ungeheurer Begeisterung und ohne sich zu schonen arbeiten konnten, wie das bei eiligen Umladungen, Feuersbrünsten und während des Eisgangs der Fall war. Überhaupt lebten sie feiertäglicher als alle anderen Menschen.

Ossip jedoch, der meine Freundschaft mit Ardaljon bemerkte, warnte mich väterlich: »Hör zu, mein Herz, du kümmerliches Reis, wie kommt es, daß du so dick mit der Millionnaja befreundet bist? Paß auf, daß du nicht Schaden dabei nimmst . . .«

Ich erklärte ihm, so gut ich konnte, warum diese Menschen mir gefielen – sie schlugen sich fröhlich, ohne viel Arbeit durch.

»Wie die Vögel unter dem Himmel«, fiel er mir spöttisch ins Wort. »Das kommt nur daher, weil sie Faulpelze und unnützes Volk sind, weil Arbeit für sie ein Unglück bedeutet!«

»Was ist denn schon die Arbeit? Man sagt doch: Mit ehrlicher Arbeit erwirbt man keine steinernen Häuser!«

Das auszusprechen fiel mir nicht schwer, ich hatte diese Redensart zu oft gehört und fühlte, daß sie stimmte. Doch Ossip wurde böse und fuhr mich an: »Wer sagt das? Dummköpfe und Faulpelze! Du, Gelbschnabel, brauchst nicht darauf zu hören! Sieh einer an! Solche Dummheiten verzapfen Neider und Pechvögel – werde erst einmal trocken hinter den Ohren, dann kannst du von mir aus rumoren! Von deiner Freundschaft aber erzähle ich dem Prinzipal – nimm mir's nicht übel!«

Und er erzählte es ihm. Der Prinzipal sagte in seiner Gegenwart zu mir: »Die Millionnaja gib mal auf, Peschkow! Dort hausen Diebe und Prostituierte, der Weg von da führt ins Gefängnis oder ins Krankenhaus. Laß die Finger davon!«

Ich begann meine Besuche in der Millionnaja zu verheimlichen, war aber bald genötigt, sie aufzugeben.

Eines Tages saß ich mit Ardaljon und seinem Gefährten Robenok im Hof eines der Nachtasyle auf einem Scheunendach; Robenok erzählte uns spaßig von seinem Fußmarsch aus Rostow am Don nach Moskau. Er hatte als Pionier gedient, war Ritter des Georgskreuzes und lahmte – im Türkenkrieg war ihm das Knie zerschmettert worden. Klein und stämmig, verfügte er über furchterregende Kräfte in den Armen – Kräfte, die ihm nichts einbrachten, da er wegen seiner Lahmheit nicht arbeiten konnte. Die Haare auf Schädel und Gesicht waren ihm infolge irgendeiner Krankheit ausgegangen – sein Kopf erinnerte an den eines Neugeborenen.

Er blinzelte mit den rötlichen Augen und sagte: »Ja, also – Serpuchow; da sitzt im Vorgarten ein Pope. ›Ehrwürdiger Vater‹, sagte ich, ›bitte um eine milde Gabe für einen Helden aus dem Türkenkrieg‹«

Ardaljon wiegt den Kopf und bemerkt: »Immer schwindel nur.«

»Wieso schwindle ich denn?« fragt Robenok, ohne gekränkt zu sein, während mein Freund Ardaljon belehrend und träge brummt: »Du weißt nicht richtig zu leben! Du solltest dich als Wächter anstellen lassen, die Lahmen sind immer Wächter, du aber treibst dich sinnlos herum und tust weiter nichts als schwindeln.«

»Ich tu es doch nur, damit man was zum Lachen hat.«

»Lachen solltest du über dich selbst . . .«

Auf dem Hof, der trotz des trockenen, sonnigen Wetters dunkel und schmutzig war, erschien eine Frau, die irgendeinen Fetzen schwenkte und ausrief: »He, Freundinnen, wer kauft einen Rock?«

Aus allen Ritzen des Hauses kamen Frauen zum Vorschein und drängten sich um sie; ich hatte sie sofort erkannt – es war die Wäscherin Natalja! Ich sprang vom Scheunendach, sie hatte den Rock jedoch gleich zum ersten besten Preis verkauft und verließ bereits still und heimlich den Hof.

»Guten Tag!« begrüßte ich sie freudig, nachdem ich sie hinter dem Haustor eingeholt hatte.

»Und was hast du sonst noch zu sagen?« fragte sie, sah mich von der Seite her an, blieb plötzlich stehen und rief ärgerlich aus: »Ach du meine Güte, was machst denn du hier?«

Ihr erschrockener Ausruf rührte und verwirrte mich, ich begriff, daß sie meinetwegen erschrocken war – Angst und Verwunderung malten sich deutlich auf ihrem klugen Gesicht. Hastig erklärte ich ihr, daß ich in dieser Straße nicht wohne, sondern nur dann und wann herkomme, um mir alles anzusehen.

»Um alles anzusehen?!« rief sie mit spöttischem Ärger. »Wo siehst du denn dabei hin? Den Vorüberkommenden in die Taschen oder den Weibern unter die Bluse?«

Ihr Gesicht wirkte zerknittert, um die Augen lagen dunkle Schatten, die Lippen waren müde gesenkt.

Sie blieb vor der Tür einer Gastwirtschaft stehen und sagte: »Komm herein, ich bewirte dich mit Tee! Bist sauber angezogen, siehst gar nicht aus wie einer von hier, aber ich glaube dir nicht ganz . . .«

In der Gastwirtschaft faßte sie aber wohl doch Vertrauen zu mir und erzählte trübe, sie sei erst vor einer Stunde aufgewacht und habe noch nichts gegessen und getrunken.

»Bin gestern völlig beschwipst zu Bett gegangen, ich weiß gar nicht mehr, wo und mit wem ich gezecht habe.«

Sie tat mir leid, ich hatte ihr gegenüber ein peinliches Gefühl und hätte sie gern gefragt, wo ihre Tochter sei. Doch nachdem sie einen Wodka und heißen Tee getrunken hatte, erzählte sie in der bekannten Art der Frauen dieser Straße – munter und grob; als ich sie schließlich nach ihrer Tochter fragte, wurde sie gleich nüchtern und rief: »Was geht dich das an? Nein, mein Lieber, an meine Tochter kommst du nicht heran!«

Sie trank noch einen Wodka und erzählte: »Die Tochter hat nichts mehr mit mir zu schaffen. Wer bin ich? Eine Wäscherin. Was bin ich in ihren Augen für eine Mutter? Sie hat die Schule besucht, sie ist gebildet. So ist das nun, Verehrter! Sie ist von mir fort, zu einer reichen Freundin, angeblich, um Lehrerin zu werden . . .«

Nach einem kurzen Schweigen fragt sie mit gedämpfter Stimme: »Ach was? Eine Wäscherin sagt Ihnen nicht zu? Und eine Herumtreiberin – sagt die Ihnen zu?«

Daß sie sich herumtrieb, sah ich natürlich gleich – andere Frauen gab es in dieser Straße nicht. Als sie es aber selber aussprach, traten mir vor Scham und Mitleid die Tränen in die Augen – sie, die noch vor kurzem so Tapfere, Unabhängige, Kluge, hatte mich mit diesem Bekenntnis gleichsam verbrannt.

»Hach, du«, sagte sie, sah mich an und seufzte. »Verschwinde du mal von hier! Und ich bitte dich auch und rate dir – laß dich nicht wieder hier sehen, du gehst zugrunde!«

Sie beugte sich über den Tisch, zeichnete mit dem Finger irgend etwas auf das Tablett und fuhr leise und abgerissen, mehr zu sich selber fort: »Aber was machst du dir schon aus meinen Bitten und Ratschlägen? Wenn selbst die eigene Tochter nicht auf mich gehört hat. Ich rufe ihr zu: ›Du kannst doch nicht die eigene Mutter verlassen, ich bitte dich!‹ Und sie zu mir: ›Ich hänge mich auf.‹ Ist nach Kasan gefahren, will Hebamme lernen. Also gut . . . gut . . . Und ich? Nun, ich mache es eben so . . . An wen soll ich mich anschmiegen? . . . An den ersten, der vorüberkommt . . .«

Sie verstummte, dachte lange über etwas nach, bewegte lautlos die Lippen und hatte mich augenscheinlich vergessen. Ihre Mundwinkel senkten sich, die Lippen verbogen sich zu einer Sichel, und es tat weh, zu sehen, wie die Lippenhaut zuckte, wie die zitternden Fältchen stumm von etwas erzählten. Das Gesicht hatte einen kindlichen, gekränkten Ausdruck. Eine Haarsträhne war unter dem Tuch hervorgekommen, lag auf der Wange und zog sich hinauf hinter das kleine Ohr. In die Tasse mit dem kalt gewordenen Tee fiel eine Träne; als Natalja es bemerkte, schob sie die Tasse beiseite, schloß fest die Augen, preßte noch zwei Tränen heraus und wischte sich das Gesicht mit dem Tuch.

Meine Geduld reichte nicht aus, um länger bei ihr zu sitzen, und ich stand leise auf.

»Leben Sie wohl!«

»Was? Geh, scher dich zum Teufel!« winkte sie ab, ohne mich anzusehen; sie hatte vermutlich vergessen, mit wem sie zusammen war.

Ich kehrte in den Hof, zu Ardaljon, zurück – wir wollten Krebse fangen gehen, auch hätte ich ihm gern von dieser Frau erzählt. Doch weder er noch Robenok waren noch auf dem Dach; während ich im unübersichtlichen Hof nach ihnen suchte, erhob sich auf der Straße ein Lärm – der hier nun einmal übliche, fällige Krach.

Ich trat aus dem Tor und stieß gleich darauf mit Natalja zusammen – sie wischte sich schluchzend mit dem Kopftuch das blutende Gesicht, strich mit der anderen Hand die zerzausten Haare glatt und ging wie blind den Bürgersteig entlang, gefolgt von Ardaljon und Robenok.

Robenok sagte: »Hau ihr noch eine rein, los!«

Ardaljon holte die Frau ein und hob die Faust; sie wandte sich zu ihm um; ihr Gesicht war furchterregend, die Augen brannten vor Haß.

»Da, schlag zu!« rief sie aus.

Ich fiel Ardaljon in den Arm; er sah mich erstaunt an.

»Was hast du?«

»Rühr' sie nicht an«, vermochte ich mit Mühe zu sagen.

Er brach in Lachen aus.

»Ist sie deine Geliebte? Sieh einer an – Natascha hat einen Mönch vernascht!«

Auch Robenok wieherte und schlug sich auf die Schenkel; man zog mich lange auf, verbrühte mich wie mit heißem Schlamm – das war quälend genug! Immerhin war Natalja inzwischen verschwunden; ich hielt es nicht länger aus und stieß Robenok mit dem Kopf vor die Brust, warf ihn um und lief davon.

Ich blieb der Millionnaja von da an lange Zeit fern, sah aber Ardaljon noch einmal wieder – ich traf ihn auf der Fähre.

»Wo hast du denn gesteckt?« erkundigte er sich erfreut.

Als ich ihm sagte, daß ich mich mit Widerwillen daran erinnere, wie er Natalja zusammengeschlagen und mich auf schmutzige Art gekränkt habe, brach er in gutmütiges Lachen aus.

»Aber das war doch alles nicht im Ernst! Wir haben dich doch nur gehänselt! Und sie? Ja, warum soll man eine wie die nicht schlagen? Man prügelt Ehefrauen, da brauchen einem solche erst recht nicht leid zu tun! Jedenfalls war alles nur Spaß! Ich weiß doch – mit der Faust bringt man keinem was bei!«

»Was willst du ihr denn beibringen? Wieso bist du besser als sie?«

Er faßte mich um die Schultern, schüttelte mich und pflichtete mir spöttisch bei: »Darin besteht ja bei uns die ganze Gemeinheit, keiner ist besser als der andere . . . Ich weiß das doch alles, mein Freund, ich kenne das in- und auswendig! Ich bin nicht vom Dorf . . .«

Er war ein wenig angeheitert und sah mich mit freundlichem Bedauern an – wie ein gutmütiger Lehrer einen begriffsstutzigen Schüler.

Ich traf gelegentlich mit Pawel Odinzow zusammen; er war noch munterer geworden als früher, kleidete sich wie ein Stutzer, behandelte mich von oben herab und warf mir immerfort vor: »Was du dir für eine Arbeit ausgesucht hast! Du gehst doch dabei zugrunde! Immer nur diese Bauern . . .«

Danach erzählte er mir betrübt die Neuigkeiten von der Werkstatt.

»Shicharew hat es noch immer mit dieser Kuh; Sitanow scheint sich zu grämen – er trinkt zuviel. Gogolew aber haben die Wölfe gefressen; da macht er sich in der Weihnachtswoche nach Hause auf, und unterwegs verspeisen ihn, den Betrunkenen, die Wölfe!«

Pawel bricht in fröhliches Lachen aus und ergeht sich in komischen Phantasien: »Sie fressen ihn also und sind ebenfalls alle betrunken! Sie werden vergnügt, gehen wie dressierte Hunde auf den Hinterläufen durch den Wald, heulen und sind am nächsten Tage alle krepiert!«

Ich hörte ihm zu und lachte mit, fühlte jedoch, daß die Werkstatt mit allem, was ich dort erlebt hatte, weit hinter mir lag. Das schmerzte ein wenig.

 


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