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XVI

Wikentjew hatte Marfinka in den Garten gerufen, Raiskij war in sein Zimmer gegangen, und die Großtante blieb, in Nachdenken versunken, auf dem Kanapee sitzen. Eine ganze Weile saß sie da. Das Buch hatte sie bereits vergessen, ihr Glaube an die Wirksamkeit der gedruckten Moral war stark erschüttert, und sie schämte sich insgeheim sogar ein klein wenig, weil sie zu einem so banalen Mittel ihre Zuflucht genommen hatte. Ihr Auge hatte einen klaren, bewußten Ausdruck, sie schien irgend etwas zu überlegen oder alte, ruhende Erinnerungen zu erneuern. Ein hellseherisches Ahnen lag, mit Furcht, Mitleid und Rührung gepaart, auf ihrem Gesicht. Marina, Jakow und Wassilissa kamen nacheinander, um ihr zu melden, daß das Abendbrot serviert sei.

»Ich mag nicht essen«, antwortete sie nachdenklich.

Marina ging hinaus, um die jungen Damen zu Tisch zu rufen.

»Ich mag nicht essen«, sagte auch Wera.

»Ich mag nicht essen«, versetzte zu Marinas Erstaunen auch Marfinka, die noch niemals ohne Abendbrot zu Bett gegangen war.

»Soll ich's nicht in Ihrem Zimmer anrichten?« meinte Marina.

»Ich danke, ich mag nicht essen«, lautete die Antwort.

›Das geht nicht mit rechten Dingen zu‹, dachte Marina, ›das ist noch niemals dagewesen! Ich muß es der Gnädigen melden.‹

Zu Marinas Verwunderung war Tatjana Markowna jedoch keineswegs erstaunt über Marfinkas Verhalten und sagte nur kurz: »Ihr könnt abräumen!«

Marina ging hinaus, während Wassilissa schweigend das Bett der Gnädigen zurechtmachte.

In der Zeit, da Marina fragen ging, was mit dem Abendbrot geschehen solle, hatte Jegorka, der es bereits als sicher annahm, daß die Herrschaften heute nicht mehr zur Nacht speisen würden, den Deckel der Bratenschüssel abgenommen und, nachdem er den Inhalt berochen, ein Stück davon mit den Fingern herausgefischt, »um's zu probieren«, wie er Jakow gegenüber, der ihn bei seinem Tun ertappte, erklärte. Er forderte Jakow auf, seinem Beispiel zu folgen; dieser schüttelte anfangs den Kopf, bekreuzigte sich dann jedoch nach guter frommer Sitte und holte sich gleichfalls ein Stück von dem Braten mit den Fingern aus der Schüssel heraus, »um's zu probieren«.

»Es scheinen Lorbeerblätter an der Soße zu sein«, bemerkte er scharfsinnig.

»Kosten Sie auch von dieser Schüssel hier, Jakow Petrowitsch«, meinte Jegorka, während er seine Hand nach einem Stück Sterlet in Gelee ausstreckte.

»Wenn nur die Gnädige morgen nicht danach fragt!« meinte Jakow und nahm gleichfalls ein Stück von dem Fisch. Als Marina ins Zimmer kam, waren die beiden bereits beim Backhuhn angekommen.

»Alles aufgeputzt!« rief sie ganz verblüfft und schlug sich dabei auf die Hüfte. Jakow und Jegorka nahmen schleunigst Reißaus wie ein paar aufgescheuchte Wölfe, guckten sich dabei nach ihr um und grinsten.

»Was soll ich nun morgen zum Frühstück servieren?« sagte sie, ihnen verzweifelt nachschauend.

Alles im Hause war verstummt. Das Bett war gemacht. Tatjana Markowna erwachte aus ihrem Hinbrüten und blickte nach dem Heiligenbild an der Wand, vor dem sie jedoch nicht wie sonst niederkniete. Sie bekreuzigte sich nur, ohne zu beten – sie war zu unruhig, um die rechte Andacht zu finden. Sie setzte sich aufs Bett und versank wieder in düsteres Grübeln.

»›Wie soll ich dich warnen und schützen?‹ – ›Geben Sie mir Ihren Segen!‹« flüsterte sie bang, ihr Gespräch mit Wera wiederholend. »Wie kann ich erfahren, was in ihrer Seele vorgeht? Nun denn, der Morgen ist klüger als der Abend ... jetzt will ich zu Bett gehen«, sprach sie zu sich selbst.

Sie sollte jedoch in dieser Nacht nicht so bald den Schlaf finden. Eben wollte sie sich niederlegen, als sie ein Kratzen und Rascheln an ihrer Tür vernahm.

»Wer ist da?« fragte sie erschrocken.

»Ich, Tantchen – öffnen Sie!«

Es war Marfinkas Stimme. Tatjana Markowna öffnete die Tür.

»Was ist dir, mein Kind? Du willst mir wohl gute Nacht sagen? Warum hast du nichts zum Abend gegessen? Wo ist Nikolai Andrejitsch?« sagte sie. Als sie jedoch einen Blick auf Marfinka warf, erschrak sie.

»Was ist dir, Marfinka? Was ist geschehen? Wie siehst du denn aus? Du zitterst am ganzen Leibe! Bist du krank? Hat dich etwas erschreckt?« sprach sie, Marfinka mit Fragen überschüttend.

»Nein, nein, Tantchen – nichts, nichts. Ich kam nur ... ich muß Ihnen etwas sagen«, sprach sie, sich ängstlich an die Großtante schmiegend.

»Setz dich, setz dich ... dahin, da, auf den Stuhl.«

»Nein, Tantchen – ich setze mich lieber zu Ihnen, und Sie legen sich hin. Ich will Ihnen alles erzählen – das Licht bitte ich auszulöschen.«

»Aber was ist nur geschehen? Du machst mich ängstlich.«

»Nichts weiter, Tantchen – legen Sie sich nur rasch hin, ich sage Ihnen alles ins Ohr.«

Die Großtante beeilte sich, ihren Wunsch zu erfüllen, und Marfinka erzählte ihr nun alles, was ihr nach der Vorlesung im Garten begegnet war. Folgendes aber war ihr begegnet.

Als sie nach Beendigung des Romans hinaustrat, bat Wikentjew sie, doch mit ihm in den Hain zu kommen und zuzuhören, wie herrlich die Nachtigall dort schlage.

»Während Sie dort lasen, hörte ich ihr in einem fort zu. Ach, wie sie singt, wie sie singt! Kommen Sie!« sagte er.

»Es ist aber so dunkel, Nikolai Andrejewitsch«, meinte Marfinka.

»Haben Sie denn Angst?«

»Allein würde ich Angst haben, mit Ihnen aber nicht.«

»Dann kommen Sie! So wunderbar singt sie – hören Sie? Hören Sie? Man kann es von hier aus hören. Ein Uhu sitzt dort in einem hohlen Baumstamm, der schrie erst, aber wie er den Gesang hörte, verstummte er. Kommen Sie!«

Sie ging unentschlossen von der Freitreppe in den Garten hinab, und er reichte ihr den Arm. Langsam, halb wider Willen, schritt sie neben ihm her durch die Allee.

»Wie dunkel es ist ... nein, ich geh nicht weiter! Geben Sie meinen Arm frei!« sprach sie fast unwillig, ging jedoch unwillkürlich weiter; es war, als ziehe sie etwas gewaltsam vorwärts, obschon Wikentjew ihren Arm losgelassen hatte.

»Gehen Sie näher heran, hierher!« flüsterte er.

Sie machte noch zwei Schritte, sich gleichsam durchs Dunkel tastend, und blieb stehen.

»Noch näher, noch näher, fürchten Sie sich nicht!«

Sie ging noch einen Schritt weiter; ihr Herz schlug heftig, sie fürchtete sich in der Dunkelheit.

»Es ist so finster ... ich habe Angst«, sagte sie.

»Wovor denn? Es ist doch niemand da, vor dem Sie Angst zu haben brauchten! Treten Sie hierher – geben Sie acht, dort ist ein Graben! Stützen Sie sich auf mich – so!«

»Was denn? Lassen Sie mich doch, ich finde mich schon selbst durch!« sagte sie voll Angst; kaum aber hatte sie das Wort ausgesprochen, als er auch bereits ihre Taille umfaßt und sie über den Graben getragen hatte.

Sie kamen in den Hain.

»Ich gehe nicht einen Schritt weiter.«

Dennoch schritt sie langsam vorwärts, jedesmal zusammenfahrend, wenn ein trockener Zweig unter ihrem Fuß knackte.

»Hier wollen wir stehenbleiben – leise!« flüsterte er. »Hören Sie?«

Die Nachtigall schlug ihre Triller. Der Zauber der lauen Nacht umfing Marfinkas Sinne. Der Nebel, das leise Rauschen der Blätter, das Lied der Nachtigall ließ sie still erschauern. Starr und schweigend stand sie da und faßte in ihrer Angst zuweilen nach Wikentjews Hand. Als er dann jedoch nach der ihrigen griff, zog sie sie zurück.

»Wie schön ist das doch, Marfa Wassiljewna, welch eine Nacht!« sprach er.

Sie bedeutete ihm durch eine Handbewegung, daß er sie nicht beim Zuhören stören solle. Die köstliche Stimmung der Nacht hatte eben auf sie zu wirken begonnen.

»Marfa Wassiljewna«, flüsterte er kaum hörbar, »mir ist so wunderbar zumute, so wohl, wie ich es noch nie empfunden. Alles in mir ist in Bewegung.«

Sie schwieg.

»Ich könnte jetzt aufs Pferd steigen und davonrasen, daß mir der Atem vergeht! Oder ich möchte in die Wolga springen und ans andere Ufer schwimmen. Und wie ist Ihnen zumute?«

Sie fuhr zusammen.

»Was ist Ihnen? Sind Sie erschrocken?«

»Gehen wir fort von hier! Wir haben lange genug zugehört. Tantchen wird sonst böse werden.«

»Ach, noch einen einzigen Augenblick – bitte, bitte!« flehte er.

Sie blieb wie gebannt stehen. Immer herrlicher klang das Lied der Nachtigall.

»Wovon mag sie nur singen?« fragte er.

»Ich weiß es nicht.«

»Ihr Lied muß doch einen Sinn haben; sie singt doch nicht bloß so ins Blaue hinein! Sie singt doch für irgend jemand.«

»Sie singt für uns«, flüsterte Marfinka und lauschte dann schweigend.

»Mein Gott, ist das schön! ... Marfa Wassiljewna ...«, flüsterte Wikentjew und versank in stilles Sinnen.

»Wo sind Sie denn, Nikolai Andrejitsch?« fragte sie. »Warum schweigen Sie? Als wenn Sie gar nicht da wären. Sind Sie denn noch hier?«

»Ich glaube, die Nachtigall singt dasselbe, wovon auch ich jetzt singen möchte ... nur daß ich's nicht vermag.«

»So bedienen Sie sich doch der Nachtigallensprache«, sagte sie lachend. »Woher wissen Sie denn, wovon sie singt?«

»Ich weiß es eben!«

»Dann sagen Sie es mir doch!«

»Sie singt von der Liebe.«

»Von was für einer Liebe? Wen soll sie denn lieben?«

»Sie singt von meiner Liebe ... zu Ihnen.«

Er war selbst über seine Worte erschrocken. Plötzlich aber zog er ihre Hand an seine Lippen und küßte sie leidenschaftlich. Blitzschnell entriß sie ihm die Hand, lief Hals über Kopf davon, sprang leicht über den Graben, eilte die Parkallee entlang und die Freitreppe hinauf und blieb dort einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen.

Er war hinter ihr hergestürzt.

»Nicht einen Schritt weiter – daß Sie es nicht wagen!« sagte sie, schwer atmend und die Türklinke in der Hand haltend. »Gehen Sie nach Hause!«

»Marfa Wassiljewna! Engel! Herzensfreundin!«

»Wie können Sie es wagen, mich so zu nennen? Bin ich vielleicht Ihre Schwester, oder Ihre Kusine?«

»Mein Engel! Meine Teuerste! Sie sind mir alles auf dieser Welt! Bei Gott!«

»Ich werde schreien, Nikolai Andrejitsch! Gehen Sie nach Hause!« sprach sie in gebieterischem Ton und bebte dabei wie Espenlaub.

»Sagen Sie doch, bitte – warum sind Sie so sonderbar gegen mich? Sie weichen mir seit einiger Zeit aus, wollen nicht mehr mit mir allein bleiben.«

»Wir sind doch keine Kinder mehr, wir müssen unsere Torheiten lassen!« sagte sie. »Tantchen meinte ...«

»Was meinte Tantchen?«

»Gar nichts. Sie haben doch gehört, wie es mit Richard und Kunigunde in dem Buch kam, was dort das Ende vom Liede war! Wie konnten Sie sich erlauben ...«

»Dieses alberne Buch kann niemand sonst geschrieben haben als Nil Andrejitsch.«

»Gehen Sie nach Hause! Gott weiß, was die Leute schon von uns reden!«

»Sie lieben mich also nicht mehr, Marfa Wassiljewna?« sagte er düster und fuhr sich dabei nicht einmal mit den Fingern durchs Haar, wie er es sonst zu tun pflegte.

»Habe ich Sie denn je geliebt?« fragte sie mit unbewußter Koketterie. »Wer hat Ihnen das eingeredet? Was für dummes Zeug! Wie kommen Sie nur darauf? Ich will's Tantchen sagen!«

»Was wollen Sie ihr sagen? Ich werde es ihr selbst sagen!«

»Was werden Sie ihr sagen? Gar nichts können Sie ihr von mir sagen!« sagte sie bissig, doch nicht ohne innere Unruhe. »Wie sind Sie denn heut überhaupt? Es scheint etwas über Sie gekommen zu sein!«

»Ja, das ist's in der Tat. Hören Sie mich an, Marfa Wassiljewna, mein Engel! Auf den Knien bitte ich Sie!«

Er kniete vor ihr nieder.

»Ich gehe fort, wenn Sie noch ein einziges Wort sagen! Ich will nur zu Atem kommen. Tantchen wird erschrecken, wenn sie mich so sieht ... ich zittere an allen Gliedern! Ich gehe zu ihr!«

Er stand auf, trat entschlossen auf sie zu, nahm sie bei der Hand und führte sie fast gewaltsam nach der Allee.

»Ich will nicht, ich geh nicht! Sie sind zudringlich! Sie vergessen sich!« sagte sie und bemühte sich, ihm ihre Hand zu entziehen und von ihm loszukommen, ging aber doch gegen ihren Willen mit. »Was tun Sie, wie können Sie es wagen? Lassen Sie mich los, ich schreie sonst! Ich will Ihre Nachtigall nicht mehr hören!«

»Nicht die Nachtigall sollen Sie hören, sondern mich!« sagte er zärtlich, doch mit Entschiedenheit. »Ich bin jetzt nicht der lustige Junge, sondern spreche als Erwachsener, hören Sie mich also an, Marfa Wassiljewna!«

Sie hörte plötzlich auf, an ihrem Arm zu zerren, und überließ ihn ihm, während sie mit klopfendem Herzen und in gespannter Erwartung stehenblieb.

»Sie haben recht«, begann er, »wir sind keine Kinder mehr, und es war unrecht von mir, das nicht sehen zu wollen, obschon mein Herz mir längst sagte, daß Sie kein Kind mehr sind.«

Sie begann wieder an ihrer Hand zu zerren, doch hielt er sie fest und sicher in der seinen.

»Sie sind erwachsen und können daher furchtlos hören, was ich Ihnen zu sagen habe: es ist nicht für Kinderohren berechnet. Sie waren so frisch, so jung, so lieb, daß ich in Ihrer Gesellschaft meine Jahre vergaß und noch Zeit zu haben glaubte ... und vielleicht ist's auch wirklich noch zu früh für mich, Ihnen zu sagen, daß ich ...«

»Ich gehe fort. Sie wollen wieder irgend etwas Schreckliches sagen, wie dort im Hain. Lassen Sie mich los!« sagte Marfinka flüsternd, und er fühlte, wie ihre Hand zitterte. »Ich gehe, ich mag Sie nicht hören, ich werde alles der Tante sagen!«

»Gewiß, Marfa Wassiljewna, sagen Sie es ihr noch heute, jetzt gleich. Doch zuvor müssen Sie erst hören, was ich Ihnen zu sagen habe. Wir haben uns so befreundet, sind einander seelisch so nahe getreten, daß, wenn man uns trennen wollte – und das wollen Sie ja, nicht wahr?«

Sie schwieg.

»Wollen Sie das wirklich, Marfa Wassiljewna?«

Sie schwieg und machte nur eine heftige Bewegung, deren Sinn im abendlichen Dunkel nicht zu erkennen war.

»Wenn Sie das wollen – gut, dann trennen wir uns, jetzt gleich, auf der Stelle!« sagte er düster. »Ich weiß, was dann mein Schicksal sein wird. Ich melde mich auf einen andern Posten, ich reise nach Petersburg, ans Ende der Welt. Also sprechen Sie – entscheiden Sie mein Schicksal! Nur, wenn Sie es wollen, gehe ich – um Tatjana Markowna, oder um meine Mutter würde ich mich nicht bekümmern, wenn die noch sosehr unsere Trennung verlangen sollten. Also, wenn Sie wollen, gehe ich, sogleich von dieser Stelle, und komme nie wieder hierher. Und ich weiß auch, daß ich niemals wieder eine Frau lieben werde ... nie im Leben, bei Gott!«

Sie schwieg.

»Sprechen Sie nur ein einziges Wort. Darf ich Sie liebhaben? Wenn Sie nein sagen – gehe ich fort ... für immer ...«

Marfinka brach plötzlich in Schluchzen aus, und als er einen Schritt von ihr wegtrat, faßte sie kräftig nach seiner Hand.

»Sehen Sie, sehen Sie! Sind Sie nicht wirklich ein Engel? Hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß Sie mich lieben? Ja, Sie lieben, lieben, lieben mich!« rief er jauchzend. »Freilich nicht so, wie ich Sie liebe ... nein!«

»Wie können Sie es wagen ... so mit mir zu reden?« sagte sie, während die Tränen ihr über die Wangen rannen. »Glauben Sie nicht etwa, daß ich weine, weil ... ich weine auch um ein Kätzchen, oder um ein Vögelchen. Ich weine so leicht ... die Nachtigall hat mich so gerührt, und dann ist's auch dunkel! Bei Licht oder am Tage würde ich eher sterben, als daß ich weinen würde. Vielleicht habe ich Sie geliebt ... und wußte es nicht.«

»Auch ich wußte es kaum, daß ich Sie liebe. Die Nachtigall hat das alles bewirkt. Sie hat unser Geheimnis ans Licht gebracht. Ihr wollen wir auch alle Schuld zuschieben, Marfa Wassiljewna. Auch ich hätte bei Licht oder am Tage um keinen Preis der Welt Ihnen das gesagt ... bei Gott!«

»Und jetzt hasse, jetzt verachte ich Sie«, sagte sie. »Sie sind ein abscheulicher Mensch, Sie haben mich zum Weinen gebracht und freuen sich über meine Tränen ... ja, Sie sind vergnügt.«

»Ich – vergnügt? Gewiß bin ich's, und auch Sie sind es – Sie verstellen sich nur. Gott segne die Nachtigall!«

»Sie sind ein böser, gottloser Mensch, sind nicht ehrlich!«

»Nein, nein«, unterbrach er sie und fuhr sich hastig mit der gespreizten Hand durchs Haar, »sagen Sie das nicht! Nennen Sie mich meinetwegen einen Dummkopf, aber ehrlich bin ich – ja, ganz gewiß! Niemand darf das bezweifeln! Niemand soll es wagen!«

»Und ich wage es doch!« sagte Marfinka hitzig. »War es vielleicht ehrlich, ein armes Mädchen so weit zu bringen, daß es etwas ausplauderte, was es sonst niemandem, selbst Gott, selbst Vater Wassilij nicht gestanden hätte? Und jetzt – o Gott, welche Schande!« Sie war von ihrer Schuld überzeugt, und Tränen aufrichtiger Reue flossen über ihre Wangen.

»Es war nicht ehrlich, nicht ehrlich!« wiederholte sie in traurigem Ton. »Ich liebe Sie nun nicht mehr. Was wird man von mir denken, was wird man sagen? Ich bin verloren!«

»Meine Herzensfreundin, mein Engel!«

»Fangen Sie schon wieder an?«

»Bedenken Sie, daß Sie kein Kind sind!« redete Wikentjew ihr zu.

»Wie sonderbar Sie heute reden!« sagte sie plötzlich und hörte auf zu weinen. »Noch nie sind Sie so gewesen, noch niemals habe ich Sie so gesehen! Damals zum Beispiel, als Sie im Kornfeld Purzelbäume schossen und den Wachtelschlag nachahmten, oder gestern, als Sie meiner Katze aufs Dach nachkletterten – ach, da waren Sie ganz anders! Und wissen Sie noch, wie Sie in der Mühle sich ganz mit Mehl bestäubten, nur um mich zum Lachen zu bringen? Warum sind Sie nun mit einemmal so ganz anders geworden?«

»Wie bin ich denn geworden, Marfa Wassiljewna?«

»Nun, so ... keck! Sie wagen es, mir so törichte Dinge ins Gesicht zu sagen.«

»Und sind Sie vielleicht noch dieselbe, die Sie noch kürzlich, noch heute abend waren? Haben Sie sich vielleicht früher vor mir geschämt, oder mich gefürchtet? Haben Sie vielleicht früher so mit mir gesprochen wie jetzt eben? Auch Sie sind wie umgewandelt!«

»Ja – wie mag das nur kommen?«

»Die Nachtigall hat's uns doch gesagt. Wir sind beide jetzt groß und erwachsen, sind heute reif geworden, dort im Hain. Wir sind keine Kinder mehr.«

»Ja – und darum eben war es nicht ehrlich von Ihnen, mir das alles zu sagen, was Sie mir sagten. Sie haben leichtfertig gehandelt – es ist nicht ehrlich, einem jungen Mädchen sein Geheimnis zu entlocken.«

»Es wäre doch nicht ewig Ihr Geheimnis geblieben. Irgendeinmal hätten Sie es doch jemandem anvertraut.«

Sie dachte nach.

»Ja, das hätte ich vielleicht – doch nur der Tante ins Ohr ... und dann hätte ich den Kopf in die Kissen gesteckt und mich den ganzen Tag geschämt. Doch hier ... wo wir beide so ganz allein sind ... o mein Gott!« sprach sie tief aufseufzend und blickte voll Entsetzen zum Himmel auf. »Ich fürchte mich, jetzt ins Zimmer hineinzugehen, Tantchen wird mir alles vom Gesicht ablesen!«

»Mein Engel! Mein holder Schatz!« sagte er, sich über ihre Hand neigend. »Ich segne dieses Dunkel, segne den Hain und die Nachtigall!«

»Fort von hier, fort!« rief sie und lief wieder die Treppe hinauf. »Sie nehmen sich wieder Keckheiten heraus! Ach, ich glaubte immer, es gebe keinen bescheideneren, keinen ehrbareren Menschen in der Welt! Auch Tantchen glaubte das, und Sie ...«

»Was hätte ich denn tun sollen, um ehrbar zu bleiben? Wem hätte ich mein Geheimnis anvertrauen sollen?«

»Nun – der Tante, ins andere Ohr! Und dann hätten Sie sie fragen sollen, ob ich Sie liebe?«

»Ei, so sagen Sie ihr doch jetzt alles selbst!«

»Jetzt ist die ganze Sache verdorben. Es war schon unrecht von mir, daß ich auf Sie gehört, daß ich Tränen vergossen habe. Sie wird mir zürnen, wird mir nie verzeihen, und daran sind Sie schuld!«

»Sie wird Ihnen schon verzeihen, Marfa Wassiljewna – wird uns beiden verzeihen. Sie hat mich doch gern.«

»Sie bilden sich ein, alle Welt habe Sie gern: so eine Seltenheit!«

»Tantchen sagte sogar, sie liebe mich wie einen Sohn.«

»Das sagte sie nur, weil Sie so viel essen, sie liebt eben die starken Esser, selbst einen Openkin!«

»Nein, ich weiß, daß sie mich liebt – und wenn sie mich nicht noch für zu jung hält, dann wird sie sicher nichts dagegen haben, daß wir uns heiraten.«

»Schrecklich, was für Gedanken Sie haben!«

Sie wollte sich entfernen.

»Bleiben Sie doch, Marfa Wassiljewna!« sagte er. »Haben Sie keine Angst, ich werde so still dastehen wie eine Statue.«

Sie zögerte einen Augenblick, ging dann aber plötzlich von selbst die Stufen hinab auf ihn zu, ergriff seine Hand und sah ihm ernst und feierlich ins Gesicht.

»Weiß auch Ihre Mama von alledem, was Sie mir jetzt hier gesagt haben?« fragte sie. »Ja? Weiß Sie darum? Sagen Sie – ja oder nein?«

»Noch nicht!« sagte er leise.

»Noch nicht!« wiederholte sie bang.

Sie schwieg ein Weilchen.

»Wie konnten Sie es dann wagen, so mit mir zu reden?« fragte sie dann. »Sie sprechen vom Heiraten, und Ihre Mama weiß von nichts! Sagen Sie selbst: ist das ehrlich gehandelt?«

»Sie wird es morgen erfahren.«

»Wenn sie uns nun ihren Segen verweigert?«

»Dann werde ich ihr nicht gehorchen!«

»Und ich werde ihr gehorchen – nicht einen Schritt werde ich ohne ihre und der Tante Erlaubnis tun. Wird uns diese Erlaubnis nicht erteilt, dann ist Ihnen dieses Haus verschlossen. Merken Sie sich das, Monsieur Wikentjew!«

Sie wandte sich rasch von ihm ab und schritt davon.

»Ich bin fest davon überzeugt, daß meine Mutter einwilligt!«

»Sie hätten ihre Einwilligung vorher einholen sollen, dann hätten Sie mir diese Tränen erspart!«

»Wollen Sie wirklich gehen ... ohne mir zu verzeihen, daß ich mich so übereilte?«

»Wir sind keine Kinder, daß wir uns übereilen und dann um Verzeihung bitten sollten. Die Sünde ist begangen.«

»Wir sind allzumal Sünder ... leben Sie wohl! Heute nacht bin ich in Koltschino, und morgen komme ich zum Mittagessen hierher und bringe die Einwilligung meiner Mutter mit. Gute Nacht ... geben Sie mir die Hand!«

»Dann werde ich ... vielleicht ...«, sagte sie nach kurzer Überlegung, sah ihn an und reichte ihm die Hand.

Kaum hatte er ihre Hand ergriffen, als sie sie ihm sogleich wieder entzog.

»Mein Gott, was wird nur die Tante sagen! Gehen Sie nun – rasch, rasch, und vergessen Sie nicht, daß, wenn Ihre Mama Sie tadelt und Tantchen mir nicht verzeiht, Sie nie wieder sich hier sehen lassen dürfen. Ich schäme mich sonst zu Tode und muß Ihnen stets den Vorwurf machen, daß Sie gegen mich nicht ehrlich gehandelt haben.«

Sie ging ins Haus hinein, während Wikentjew schleunigst den Garten verließ.

›O Gott, o Gott – was wird nur die Tante sagen!‹ dachte Marfinka, die sich in ihrem Zimmer einschloß und wie im Fieber zitterte. ›Was haben wir da nur angerichtet!‹ ging es ihr durch den Kopf. ›Wie soll ich ihr das nur beibringen ... und wie wird sie es aufnehmen? Ob ich's nicht lieber zuerst Werotschka sage? Nein, nein – zuerst soll's die Tante erfahren! Ob wohl noch jemand unten bei ihr ist?‹

Sie war aufs heftigste erregt, sah in einem fort auf das Heiligenbild in der Ecke und bekreuzigte sich – bis Jakow heraufkam und sie zum Abendbrot rief.

»Ich mag nichts essen!« rief sie ihm durch die verschlossene Tür hindurch zu.

Dann kam Marina.

»Ich mag nicht essen«, wiederholte sie trübselig auch dieser gegenüber. »Was macht denn Tantchen?«

»Die Gnädige ist schlafen gegangen, mochte auch nichts essen«, sagte Marina.

Marfinka konnte es nicht erwarten, bis endlich alles im Hause sich zur Ruhe gelegt hatte – wie eine Maus huschte sie dann aus dem Zimmer und schlich sich zur Großtante hinunter.

Sie flüsterten lange, und die Großtante bekreuzigte und küßte Marfinka viele Male, bis diese endlich, an Tantchens Schulter gelehnt, einschlief. Tatjana Markowna legte Marfinkas Kopf vorsichtig auf das Kissen, erhob sich dann, kniete nieder und flehte unter Tränen den Segen des Himmels auf das junge Glück und das neue Leben ihrer Großnichte herab. Noch heißer aber und inniger betete sie für Wera. Ganz mit dieser beschäftigt, neigte sie lange das graue Haupt vor dem Bilde des Heilands und flüsterte heiße Gebete.

Dann streckte sie sich leise neben der schlafenden Marfinka aus, schlug noch einmal das Kreuz über ihr und dachte bei sich:

›Im Garten hat sie ihn getroffen – ganz wie Kunigunde! Ich würde mich nicht wundern, wenn es Wera gewesen wäre – aber Marfinka! Ich sage es ja immer: das Schicksal treibt seine Possen mit uns armen Menschenkindern!‹


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