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XIV

Raiskij beobachtete diese innigen, verehrungsvollen und dabei bescheiden zurückhaltenden Blicke, die Tuschin immer wieder auf Wera richtete, und hörte seine herzlichen Worte, aus denen eine gleichsam unbewußt hervorbrechende Zärtlichkeit sprach.

Selbst einem gleichgültigen Augenzeugen, geschweige denn einem eifersüchtigen Rivalen wie Raiskij oder einer besorgten Beobachterin wie Tatjana Markowna mußte es auffallen, daß im ganzen Wesen des Forstmeisters, in seiner Gestalt, seinen Mienen und Bewegungen eine tiefe Sympathie für Wera zum Ausdruck kam, die nur noch durch einen gewissen rührenden Respekt am freien Heraustreten gehindert wurde.

Dieser Hüne an Kraft und Wuchs, der offenbar keine Furcht und Gefahr kannte, stand schüchtern vor dem schönen, schwachen Mädchen, flüchtete sich scheu in eine Ecke vor ihren Blicken, wog sorgfältig die Worte ab, die er zu ihr sprach, um nur ja nichts Ungehöriges zu sagen, nicht vor ihr als ein plumper Tölpel dazustehen, und suchte ihr jeden Wunsch, jedes Begehren vom Gesicht abzusehen.

›Auch der ist anscheinend nur ihr Sklave‹, dachte Raiskij und beobachtete ihr Verhalten gegen Tuschin.

Er nahm an, daß auch sie ihre Verwirrung nicht verbergen, ihre Sympathie für diesen Helden vor so vielen Augen nicht würde verheimlichen können; er war fest davon überzeugt, daß der Forstmeister der Held ihres Romans und des Geheimnisses war, das sie so ängstlich vor ihm hütete.

›Wer sollte sonst noch seine Briefe auf dieser blaßblauen Papiersorte schreiben?‹ sagte er sich.

Er war gespannt, auf welche Art sich ihr Gefühl offenbaren würde; ob durch ein Beben, ein Flimmern des Blickes oder durch starres Schweigen.

Doch weder das eine noch das andere trat ein. Wera zeigte sich vielmehr in ganz neuem Licht. In jedem ihrer Blicke, jedem Wort, das sie an Tuschin richtete, fiel Raiskij vor allem eine schlichte Natürlichkeit, ein Vertrauen, eine Liebenswürdigkeit und Wärme auf, wie er sie bisher an ihr – selbst der Großtante und Marfinka gegenüber – nicht beobachtet hatte.

Gegen die Großtante befleißigte sie sich einer gewissen Vorsicht, und in ihrer Beziehung zu Marfinka trat eine leichte Geringschätzung zutage; wenn sie dagegen Tuschin ansah oder mit ihm sprach, ihm die Hand reichte, sah man sogleich, daß sie Freunde waren.

Ja, das war sie, diese selbstlose Freundschaft, von der sie zu ihm gesprochen und die er bisher vergeblich angestrebt hatte.

Wie hatte nur dieser Forstmeister es angefangen, sich ihre Freundschaft zu erringen? Was verband sie beide miteinander? Wie waren sie zusammengekommen? Hatten sie bewußt aneinander eine gewisse Summe von sympathischen Eigenschaften entdeckt und sich auf Grund dessen gegenseitig liebgewonnen? Oder war ihre gegenseitige Zuneigung unbewußt entstanden, ohne die Mitwirkung des analysierenden Verstandes?

Drei Tage lang blieb der Forstmeister in der Stadt, wo er verschiedene Geschäfte zu erledigen hatte, und während dieser ganzen Zeit war er Tatjana Markownas Gast. Drei Tage lang suchte Raiskij den Schlüssel zu diesem neuen Charakter, seiner Stellung im Leben und der Rolle, die er in Weras Herzensleben spielte.

Iwan Iwanowitsch hatte von seinen Bekannten den Beinamen der »Forstmeister« bekommen, weil er mitten im Waldesdickicht auf seinem Gut lebte, sich mit Forstkultur abgab, seinen Wald hegte und pflegte und andererseits die ausgewachsenen Bestände für den Handel fällen und auf der Wolga durch Flößer befördern ließ. Sein Waldbesitz erstreckte sich über einige tausend Deßjatinen, und er betrieb die Bewirtschaftung dieses Besitzes auf sehr rationelle Weise. Er war der einzige Besitzer einer Dampfsägemühle in der ganzen Gegend und leitete persönlich sein Etablissement.

In seiner freien Zeit ging er auf die Jagd, trieb Fischfang, besuchte gern einmal seine unverheirateten Gutsnachbarn und veranstaltete gelegentlich lustige Ausflüge. Eine Anzahl Dreigespanne fuhren vor, und mit einer Schar von Freunden jagte er vierzig Werst weit zu irgendeinem entfernten Nachbar, wo die ganze fröhliche Gesellschaft drei Tage lang schmauste, um dann auf sein Gut zurückzukehren oder in die Stadt zu fahren, deren schläfrige Ruhe durch ein tolles Gelage aufgestört wurde, daß alles drunter und drüber ging. Für drei Monate verschwand er dann ganz von der Bildfläche, rührte sich nicht von der Scholle weg, und niemand sah, niemand hörte etwas von ihm.

Dann fällte er sein Holz, ließ die Baumstämme zum Strom bringen oder in der Sägemühle kreuz und quer schneiden, fuhr die neuen Dreigespanne ein, die er auf dem Jahrmarkt gekauft hatte, ging im Winter auf die Wolfsjagd oder beschlich den Bären im Dickicht des Waldes.

Nicht selten trug er nach solchen Belustigungen wochenlang den Arm in der Binde oder hatte eine ausgerenkte Schulter oder ging mit blutiger, von einer Bärentatze zerkratzter Stirn umher.

Er liebte dieses Leben über alles und hätte es um kein anderes vertauschen mögen. Zu Hause las er landwirtschaftliche Schriften und sonstige Bücher ökonomischen Inhalts.

Er hatte einen forstkundigen Deutschen im Dienst, dessen Ratschläge er einholte, ohne die Zügel des Betriebes aus der Hand zu geben. Mit Hilfe zweier Buchhalter und einer Gespannschaft von teils leibeigenen, teils gemieteten Arbeitern hielt er sein Unternehmen trefflich im Gange. Gelegentlich las er einen französischen Roman – es war die einzige Verweichlichung, die er sich bei seiner rauhen, übrigens von vielen Gutsbesitzern unserer entlegeneren Gaue geteilten Lebensweise gestattete.

Raiskij erfuhr, daß Tuschin mit Wera bei dem Popen bekannt geworden war und jedesmal bei diesem als Gast erschien, wenn er hörte, daß Wera bei der Popenfrau zu Besuch war. Wera selbst erzählte ihm das und fügte hinzu, daß sie mit ihrer Freundin öfters nach Tuschins Waldgut fahre. Er lebte dort mit Anna Iwanowna, einer unverheirateten älteren Schwester, der auch die Großtante herzlich zugetan war. Jedesmal, wenn Anna Iwanowna nach der Stadt kam, war Tatjana Markowna ganz glücklich. Mit niemandem saß die Großtante so gern plaudernd und allerhand Geheimnisse austauschend bei einem Täßchen Kaffee. Das gemeinsame Interesse an wirtschaftlichen Angelegenheiten bildete ein verknüpfendes Band zwischen beiden, vor allem aber machte die hohe Achtung, die Anna Iwanowna vor der Person der Gastgeberin, vor ihrer Abstammung und ihren Familientraditionen bewies, auf Tatjana Markowna tiefen Eindruck.

Tuschins ganzes Wesen bot dem Beobachter kein allzu schwieriges Problem. Er war ein einfacher Mensch aus einem Guß, der ewig sich selbst treu geblieben war; schlicht in seinem Äußeren wie im Charakter, war er weder nach der Gefühlsseite hin noch bezüglich seines Verstandes eine irgendwie komplizierte Natur.

Er war das Urbild der Offenheit, alles an ihm war durchsichtig und klar, nichts Geheimnisvolles, nichts Romantisches, nichts, das die Einbildungskraft gereizt hätte, haftete ihm an. Er war ein kluger Mensch im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes, weder Findigkeit noch Scharfsinn konnte man ihm nachsagen. Wohl aber besaß er ein gewisses Maß natürlichen Verstandes, das er, ohne sich irgendeinen geistigen Luxus zu erlauben, unmittelbar auf die Bedürfnisse und Forderungen des praktischen Lebens verwandte. Man findet diese Art von Verstand so gut beim Bauern wie beim Gebildeten, und er ist mehr als der sogenannte »gesunde Menschenverstand«, der so manchen, dem er eigen ist, doch nicht abhält, bei aller Gesundheit seiner Denkweise auf ungesunden Lebenswegen zu wandeln.

Diese Art von Verstand wurzelt nicht im Kopf allein, sondern auch im Herzen und im Willen. Wer mit ihm ausgerüstet ist, wird in der großen Menge nicht gerade leicht bemerkt, tritt nicht in den Vordergrund. Die feinen, scharfsinnigen Köpfe, denen das rasche Wort zur Verfügung steht, stellen solche Persönlichkeiten häufig in den Schatten. Doch sind gerade diese zumeist die unsichtbaren Führer, die regulierenden Faktoren der menschlichen Betätigung, wie überhaupt des ganzen Lebenskreises, in den das Schicksal sie gestellt hat.

In Tuschins Verhalten gegen Wera fiel Raiskij eine schon fast monoton wirkende Verehrung auf, die sich in seinen Blicken und Worten kundtat und fast an Schüchternheit streifte, während auf ihrer Seite ein ebenso monoton erscheinendes, sich stets gleichbleibendes, mit Wärme und Offenheit gepaartes Vertrauen zutage trat.

Das war alles, was er feststellen konnte. So sehr er sich auch bemühte, irgendein Zeichen, einen Hinweis, ein auffallendes Wort, einen verräterischen Blick zu konstatieren – es gelang ihm nicht. Immer nur dieselbe offene, gerade Zutraulichkeit auf ihrer Seite, dieselbe Ergebenheit, Hochschätzung und bärenhafte Dienstbereitschaft auf der seinen – das war alles, was sein spähender Sinn feststellen konnte.

Auch Tuschin war also nicht der Gesuchte – von wem stammte der blaßblaue Brief?

»Was für ein Forstmeister ist denn das?« fragte Raiskij am nächsten Tage, als er schon frühzeitig Weras Zimmer betrat. »Wie steht ihr denn zueinander?«

»Er ist mein Freund«, antwortete Wera.

»Das ist zu allgemein gesagt. In welchem Sinne ist er dein Freund?«

»Im besten und intimsten Sinne.«

»So, so! Ist er vielleicht der Glückliche, auf den du neulich anspieltest und dessen Namen du mir zu nennen versprachst?«

»Wann?«

»Vor deiner Abreise ...«

»Ich erinnere mich nicht. Was für ein Glücklicher? Was für ein Name? Was habe ich versprochen?«

»Wie schlecht doch dein Gedächtnis ist! Hast du den Brief auf dem blauen Papier schon vergessen?«

»Ach ja, ich erinnere mich. Ich habe durchaus kein schlechtes Gedächtnis, Vetter, ich erinnere mich an jede Kleinigkeit, sofern sie mich angeht oder mich interessiert. Doch gestehe ich offen, daß ich diesmal alles vergessen habe, weder an das Gespräch mit Ihnen noch an den Brief auf dem blauen Papier kann ich mich erinnern.«

»Auch ich war dir wohl schon aus dem Gedächtnis entschwunden?« sagte er.

Sie lächelte und nickte zustimmend mit dem Kopf.

»Du scheinst dich dort sehr gut unterhalten zu haben.«

»Ja, es war dort sehr nett«, sagte sie und blickte zerstreut zur Seite. »Niemand horchte mich aus, niemand verdächtigte mich.«

»Und der treuergebene Freund war dir stets zur Seite?«

Sie nickte wieder bejahend mit dem Kopf.

»Ich meine ihn, den Forstmeister ...« warf Raiskij rasch hin und sah Wera fragend an.

Sie hörte ihn nicht. Hinter ihrem gewohnten, alltäglichen Gesicht schien sich ein zweites Gesicht zu verbergen. Es machte den Eindruck, als bemühte sie sich – ohne rechten Erfolg –, ein inneres Frohlocken zu verheimlichen, als leuchte in ihren Blicken, ihrem Lächeln der Widerschein einer seelischen Befriedigung, die sie offenbar für sich behalten und mit niemandem teilen wollte.

Das zittrige Flimmern in ihrem Blick wurde seltener, der mißtrauische, unzufriedene Ausdruck ihrer Augen schwand, und auf ihrem Gesicht, auf ihrem ganzen Wesen lag der Stempel einer unerschütterlichen Ruhe, während es aus ihren Augen zuweilen wie ein Strahl der Verzückung hervorschoß, als hätte sie vom Becher des Glückes gekostet. Raiskij bemerkte das alles sehr wohl.

›Was für ein Glück aber war das? Von welcher Art war es, wer hat es ihr gegeben? Dieser Freund vielleicht, dieser Hinterwäldler?‹ ging es ihm durch das grübelnde Hirn. ›Aber sie verheimlichte doch nichts, was auf seine Person Bezug hatte, sie posaunte ihre Freundschaft mit ihm ganz offen hinaus; wo konnte hier ein Geheimnis stecken?‹

»Du scheinst recht glücklich, Wera ...« sagte er.

»Wieso?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht, wieso ... Du suchst dein Glück zu verheimlichen, doch es schaut dir aus den Augen heraus.«

»Wirklich?« fragte sie lächelnd, während sie ihn ansah.

Dann versank sie in nachdenkliches Schweigen, alle Lust am Leben schien ihr vergangen zu sein. Er nahm ihre Hand und drückte sie, und sie erwiderte den Druck. Er küßte sie auf die Wange; sie wandte sich nach ihm um, ihre Lippen begegneten sich, und sie drückte ihm einen Kuß auf, immer noch in demselben nachdrücklichen Schweigen verharrend. Dieser Kuß, den er so lange erwartet und ersehnt hatte, freute ihn nun gar nicht; sie hatte ihn so mechanisch gegeben.

»Wera«, sagte er, »du stehst ganz im Banne irgendeines Glücksgefühls – du bist in Ekstase!« sagte er.

»Und was weiter?« fragte sie plötzlich, aus ihrem Sinnen erwachend.

»Nichts, es scheint, daß du – irgendein Hindernis, einen Widerstand besiegt hast ... und du scheinst glücklich in diesem Gefühl des Sieges. Ich weiß nicht, was der Grund sein mag, aber du triumphierst! Die Stunde des Glücks scheint für dich gekommen.«

›Ach, wie weit ist es noch bis dahin!‹ flüsterte sie für sich. Und dann fügte sie laut hinzu: »Nein, es ist nichts Besonderes geschehen.«

Sie schien zerstreut, suchte jedoch heiter und sorglos zu erscheinen und sah Raiskij freundschaftlich ins Gesicht.

»Du liebst ihn also sehr, diesen ...«

»Den Forstmeister? Ja, sehr!« sagte sie. »Männer von seiner Art sind selten; er ist einer der trefflichsten Menschen, die ich hier kenne, wenn nicht der trefflichste.«

Wiederum fühlte Raiskij das Nagen der Eifersucht.

»Der trefflichste Mensch – nun ja, so im Äußeren. Er ist groß und stark, er fürchtet sich vor keinem Gewitter, schlägt Bären tot, ist als Wagenlenker so geschickt wie Phöbus selbst, ist ein schöner Mann – ja, das ist er!«

»Pfui, Boris Pawlowitsch!«

»Du ärgerst dich wohl, wenn man dein Ideal vom Piedestal herunterholen will?«

»Was für ein Ideal?«

»Nun, er ist doch ... der Held deines Geheimnisses und der Schreiber des blaßblauen Briefes! So sag es doch endlich, du hast es mir versprochen.«

»Hab ich das wirklich? Ach, ja, ja – Sie denken an gar nichts anderes mehr. Nun ja, er ist es ... was denn noch?«

»Nichts!« sagte Raiskij, heftig errötend – er hatte eine so rasche Lösung des Rätsels nicht erwartet. »Diese Körperkraft, diese Muskeln, dieser Wuchs!« sagte er.

»Sie sagten doch, daß die Leidenschaft jede Wahl rechtfertige!«

»Ich sage auch nichts weiter!« versetzte er mit einem Achselzucken. »Du siehst, ich bin vollkommen ruhig! Du wirst ihn also heiraten?«

»Vielleicht.«

»Er soll mehrere tausend Deßjatinen Wald besitzen?«

»Pfui, Boris Pawlowitsch!«

»Nun, jetzt kann ich also abreisen«, sagte er, steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief einer vorübergehenden Dienstmagd zu, sie solle Jegorka rufen.

»Hol den Reisekoffer vom Boden und bring ihn in mein Zimmer – ich reise morgen ab«, sagte er, ohne das Lächeln zu bemerken, das um Weras Mund spielte.

»Ich bin wirklich froh«, sagte er böse, während er sich bemühte, ihrem Blick auszuweichen. »Jetzt hast du doch einen Beschützer! Ein richtiger Held, vom Scheitel bis zur Sohle!«

»Ein ganzer Mensch, vom Scheitel bis zur Sohle«, verbesserte ihn Wera, »wenn auch kein Romanheld!«

»Wie ist es denn aber mit dem menschlichen Denken – kommt er damit vorwärts? Nimrod, der Altmeister aller Sportsmen, und Humboldt sind ja beide Menschen – doch besteht zwischen ihnen ein Unterschied ...«

»Ich weiß nicht, wie sie als Menschen waren. So viel aber weiß ich, daß Iwan Iwanowitsch ein Mensch ist, den alle anderen sich zum Muster nehmen könnten. Er handelt, wie er denkt und spricht; sein Kopf denkt richtig, sein Herz fühlt stark und warm, und er ist ein Charakter. Ich vertraue ihm in allen Dingen, und ich würde nichts, selbst das Leben nicht fürchten, wenn ich ihn an meiner Seite weiß!«

»So, so! Vor allem kein Gewitter, wenn er den Wagen lenkt!« ergänzte Raiskij spöttisch. »Er ist wohl auch ein sehr kurzweiliger Gesellschafter?« fügte er hinzu.

»Ja, auch das; er hat viel Mutterwitz und Humor – nur daß er nicht damit prahlt und sich lästig macht.«

»Mit einem Wort: ein ganzer Mann! Nun, ich gratuliere dir, Wera – und sage dir gleichzeitig Lebewohl!«

»Wohin wollen Sie denn?«

»Ich reise morgen früh ab und will nicht mehr von dir Abschied nehmen.«

»Warum nicht?«

»Du weißt, warum nicht. Ich würde mich nicht beherrschen können ... ich bin kein Stück Holz.«

Sie legte ihre Hand auf die seinige und sah ihm schelmisch, wie ein schmeichelndes Kätzchen, in die Augen, während ihr Kinn in verhaltenem Lachen zuckte.

»Und wenn ich wünsche, daß Sie nicht abreisen?«

»Du?«

»Ja, ich.«

»Wie kämest du dazu?«

Mit höchster Spannung erwartete er ihre Antwort.

»Raten Sie einmal!«

»Willst du vielleicht, daß ich bei deiner Hochzeit zugegen sein soll?«

Sie sah ihn noch immer lächelnd an und hielt ihre Hand nach wie vor auf der seinigen.

»Ja, ich will es«, sagte sie.

»Wann wird sie denn stattfinden?« fragte er trocken.

Sie schwieg.

»Wera ...«

Sie lachte plötzlich laut auf. Er sah sie an; noch niemals hatte er sie so lachen hören.

›Er ist's nicht, er ist's nicht ... Der Forstmeister kann ihr Held nicht sein! Das Geheimnis des blauen Briefes ist ungelöst!‹ war seine Folgerung.

Es war ihm leichter ums Herz. Er wurde heiter gestimmt, sang und plauderte, scherzte und lachte.

»Sagen Sie nur Jegorka, er solle den Koffer wieder fortbringen!« sagte sie.

»Warum willst du mich nun hierbehalten, Wera?« fragte er. »Sag mir die Wahrheit! Vergiß nicht, daß ich mich allen deinen Bedingungen füge.«

»Wirklich allen?«

»Ja, ohne jede Ausnahme. Was du auch mit mir anfangen, welche Rolle du mir auch zuweisen magst – ich lasse alles über mich ergehen, nur jage mich nicht fort.«

»Alles?«

»Ja, alles!« versicherte er in blinder Ergebung.

»Sehen Sie, Vetter – jetzt sind auch Sie in Ekstase! Daß es Ihnen nur später nicht leid wird, wenn ich Ihr Anerbieten annehme.«

»Ich schwöre es dir, Wera«, rief er aufspringend, »es gibt keinen Wunsch, keine Laune, die ich dir nicht erfüllen, keinen Kelch der Erniedrigung, den ich nicht bis zum letzten Tropfen leeren würde, wenn ich damit nur einen Augenblick ...«

»Genug! Ich nehme Ihr Anerbieten an – Sie sind jetzt ...«

»Dein Sklave? Oh, sag es, sag es ...«

»Wohlan denn: ja«, sagte sie, während ihr Nixenblick auf ihm ruhte.

»So kann ich also bleiben?«

»Bleiben Sie ...«

»Welche Wandlung!« sagte er, innerlich jubelnd. »Wie hast du nur plötzlich deine Meinung so ändern können?«

»Ich wollte nicht ...«

Sie sah ihn an, und er schwelgte in Entzücken, während er sich in ihre ruhig blickenden Samtaugen versenkte, deren Ausdruck ihm noch immer so rätselhaft schien.

»Ich wollte nicht ... daß Sie ... sich morgen über sich selbst ärgern, wenn Sie Ihren Reisekoffer wieder hinauftragen lassen. Sie wären ja doch nicht abgereist!«

»Doch, doch – ich wäre abgereist!«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich gebe dir mein Wort darauf ...«

»Nein. Sie wären nicht abgereist.«

»Warum nicht?«

»Weil ich es nicht will.«

»Du, du, du – Wera! Höre ich richtig, ist es keine Täuschung?«

»Nein.«

»Wiederhole es noch einmal!«

»Ich will nicht, daß Sie abreisen, und Sie werden bleiben.«

»Warum denn?« fragte er, leidenschaftlich flüsternd.

»Weil ich es will!« sprach sie, gleichfalls flüsternd, doch in befehlendem Tone.

»Wera ... schweig, kein Wort mehr! Wenn du mir jetzt sagst, daß du mich liebst, daß ich dein Ideal bin, dein Gott, daß du den Verstand verlierst, daß du stirbst vor lauter Sehnsucht nach mir – dann werde ich dir glauben ... alles, alles werde ich dir glauben – und dann ...«

»Was dann?«

»Dann wird es in der Welt keinen größeren Narren geben als mich. Ich werde dich vergöttern, anbeten ... bis zum Überdruß.«

»Mir ist nicht bange davor.«

»Du ... du selbst gestattest mir, dich zu lieben – in Seligkeit zu schwelgen, zu schwärmen, zu lieben ... Wera, Wera!«

Er küßte ihre Hand.

»Sie wollten es doch, Sie flehten darum – nun, und ... so will ich denn Mitleid haben!« sagte sie lächelnd.

»Dir ist etwas widerfahren, irgendein großes Glück – und du fühlst das Bedürfnis, ein wenig davon abzugeben; nun denn, was auch dein Beweggrund sein mag, ich nehme alles an, will es ertragen – nur gib mir die Möglichkeit, in deiner Nähe zu weilen, jage mich nicht fort, laß mich hierbleiben.«

»Bleiben Sie, ich befehle es Ihnen!« sagte sie mit gutmütig-spöttischer Miene.

Er wähnte, das Glück sei endlich zu ihm gekommen.

›Ja, Tantchen hat schon recht‹, frohlockte er im stillen, ›wenn man es am wenigsten erwartet, sucht das Glück einen heim. Zum Lohn für die Demut, sagt sie – nun denn, ich hatte schon demütig verzichtet, und jetzt ... o gnädiges Geschick!‹

Wie berauscht hatte er Weras Zimmer verlassen und war im Hausflur Jegorka begegnet, der eben mit dem Reisekoffer vorüberkam.

»Trag ihn wieder zurück«, sagte er und ging rasch nach seinem Zimmer, wo er sich aufs Bett legte und seine heftige Gemütsaufwallung sich in Tränen auslöste.

›Das ist sie – die Leidenschaft, die Leidenschaft!‹ flüsterte er, immer heftiger schluchzend.

Der Forstmeister reiste ab, und alles kam wieder ins alte Geleise. Raiskij war sehr glücklich. Seine Leidenschaft für Wera glich fast ganz derjenigen des Forstmeisters; sie wurde zur stummen, andachtsvollen Verehrung.

Ganz so wie jener beobachtete er fast schüchtern ihre Blicke, lauschte mit seltsamem Bangen auf den Klang ihrer Stimme, zupfte unwillkürlich, wenn er ihren Schritt vernahm, an seinen Kleidern, wechselte, wenn er mit ihr sprach, mehrmals die Haltung und wog sorgfältig seine Worte ab, um nur ja nichts zu sagen, was ihr mißfiel.

Auch sie war in einer seltsam feierlichen Stimmung. Die stille Ruhe des Glücks oder der inneren Befriedigung lag auf ihrem ganzen Wesen, sie schwelgte gleichsam schweigend in Entzücken, war gut und freundlich gegen die Großtante und Marfinka und wurde an einzelnen Tagen von einer seltsamen Unruhe befallen. Dann hielt sie sich in ihrem Zimmer auf oder sie ging in den Park oder den Abhang hinunter ins Gehölz. Wenn dann Raiskij oder Marfinka sie drüben im alten Hause aufsuchen oder sie auf ihren Spaziergängen begleiten wollten, wurde ihre Miene finster und unfreundlich. Bald aber nahm sie wieder ihr gleichmütiges, ruhiges Wesen an, war beim Mittagessen und des Abends mitteilsam, interessierte sich sogar für die Wirtschaft, half Marfinka beim Auswählen der Stickmuster, sah Tantchens Rechnungen durch und machte bei den Damen der Stadt Besuche. Mit Raiskij sprach sie viel über Literatur; er entnahm aus der Unterhaltung mit ihr, daß sie viel gelesen haben mußte, und sie lasen, wenn auch nicht regelmäßig, verschiedenes gemeinsam.

Sie ließ sich dabei leicht ablenken, bald nach dieser, bald nach jener Richtung, und zuweilen geriet sie in einen exaltierten Zustand, der fast in einen Rausch jäher Freude ausartete. Als sie eines Abends in dieser Stimmung aus dem Zimmer verschwand, sahen sich Raiskij und Tatjana Markowna mit einem langen, fragenden Blick an.

»Was ist mit Wera?« fragte die Großtante, »es scheint, daß sie wieder gesund geworden ist.«

»Ich fürchte im Gegenteil, Tantchen, daß es um sie schlimmer bestellt ist als bisher.«

»Was redest du da, Borjuschka – du siehst doch, daß sie ganz anders geworden ist, so vergnügt und lebhaft, so gesprächig, zuvorkommend.«

»Ist sie nicht doch gegen früher sehr verändert? Ich fürchte, ihre Heiterkeit ist krankhafter Art, ein Rausch der Erregung.«

»Du hast recht ... sie ist noch nie so gewesen ... was könnte es denn sein?«

»Sie ist in Ekstase – sehen Sie das nicht?«

»In Ekstase!« wiederholte Tatjana Markowna ganz erschrocken. »Warum sagst du mir das jetzt, zur Nacht? Ich werde nicht einschlafen können. Ein junges Mädchen, das in Ekstase ist ... die Sache ist ernst! Hast du ihr vielleicht irgend etwas eingeredet? Wovon sollte sie in Ekstase geraten? Was ist da zu tun?«

»Wir müssen achtgeben, welchen Verlauf die Sache nimmt.«

Die Großtante sah Raiskij mit ängstlichen Augen an; er lächelte.

»Du ziehst alles ins Lächerliche!« sagte sie, und streng fügte sie hinzu: »Stell du deine Versuche mit Sawelij und Marina, mit Polina Karpowna oder Uljana Andrejewna an, dichte Verse, Komödien, oder was du sonst willst – von Wera aber laß deine Hand weg! Dir mag's eine Komödie scheinen, mir aber ist es eine bittere Tragödie!«


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