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Raiskij ging nach Hause, um so bald wie möglich eine Aussprache mit Wera herbeizuführen, wenn auch nicht in dem Sinne, wie es zwischen ihnen abgemacht worden war. Der Sieg, den er über sich selbst errungen, war so sicher, daß er sich seiner früheren Schwäche schämte und sogar an Wera ein klein wenig Revanche nehmen wollte – dafür, daß sie ihn in eine solche Situation gebracht hatte.
Er legte sich unterwegs wohl zehn verschiedene Fassungen dieser letzten Unterredung mit ihr zurecht. Seine Phantasie malte es ihm ganz deutlich aus, wie er vor ihr in einer ganz neuen, unerwarteten Gestalt erscheinen würde, kühn, voll überlegener Ironie, frei von allem törichten Hoffen, unempfindlich gegen ihre Schönheit – oh, wie wird sie staunen ... und vielleicht betrübt sein!
Er entschied sich endlich für eine Fassung dieser letzten Unterredung, die zwar in der Tonart durchaus freundschaftlich und rücksichtsvoll sein, dabei jedoch eines gönnerhaften Anstrichs nicht entbehren und vor allem einen zurückhaltenden, gleichgültigen Charakter tragen sollte. Er wollte ihr sogar, natürlich in angemessener, ihrem Verständnis angepaßter Form, eine Art Generalbeichte über alle seine Herzenserlebnisse ablegen, wollte dabei die Belowodowa besonders hoch erheben und im Lichte strahlender Schönheit und Frauenanmut erscheinen lassen, damit die arme Wera sich neben ihr wie ein Aschenbrödel vorkäme – und dann wollte er ihr erklären, daß auch diese Schönheit sein Herz nur für kurze acht Tage in ihren Bann geschlagen habe.
Auch Marfinka sollte ihr Teil von seinem glühenden Lobeshymnus abbekommen, und zu guter Letzt wollte er dann flüchtig auch Wera erwähnen und in herablassendem Ton ihre Reize anerkennen, die er nur zu rasch habe auf sich wirken lassen. Während so alle übrigen in den hellen Vordergrund traten, sollte Wera möglichst im Schatten bleiben.
Er zitterte vor freudiger Erwartung, als er in seiner Phantasie sich das alles ausmalte – wie sie vor ihm stehen, wie die Erregung, das Bedauern in ihren Zügen zum Ausdruck kommen würde, Empfindungen, die er in ihrem Herzen hervorgerufen, deren sie sich vielleicht jetzt noch nicht völlig bewußt war, die aber dann, wenn er nicht mehr in ihrer Nähe weilte, ganz zum Durchbruch kommen mußten.
Er wollte diese Szene ganz so, wie er sie hier entworfen, als Schlußkapitel seinem Roman anfügen und dabei über seine Beziehungen zu Wera einen geheimnisvollen Schleier breiten, der die Dinge halb im Dunkel ließe: Er reist ab, von ihr unverstanden und ungewürdigt, voll Abscheu gegen alles, was Liebe heißt und was unter diesem Namen die einfachen, natürlichen Beziehungen zweier Menschenkinder trübt und fälscht – während sie mit einem Gefühl der Reue zurückbleibt, noch nicht zwar die Liebe selbst im Herzen, wohl aber eine Vorahnung zukünftiger Liebe, und die Trauer über einen Verlust, und eine dunkle Empfindung des Grams, der ihr Tränen entlockt und ihre Seele bedrückt – bis sie eines Tages irgendeinen Bezirksrichter heiratet. Vielleicht wird die Sache in Wirklichkeit nicht so verlaufen, aber der Roman ist eben nicht ganz identisch mit der Wirklichkeit, gewisse kleine Abweichungen gestattet eben die poetische Lizenz.
Sein Atem stockte vor Entzücken, als er sich vorstellte, wie effektvoll das alles, in der Wirklichkeit sowohl wie im Roman, sich ausnehmen werde.
Nach Hause zurückgekehrt, traf er zuerst die Großtante, die bereits von Jegorka gehört hatte, daß der gnädige Herr den Koffer habe nachsehen lassen und für die nächste Woche seine Kleider und seine Wäsche in Ordnung gebracht haben wolle.
Diese Neuigkeit hatte sich im Fluge durch das ganze Haus verbreitet. Alle hatten gesehen, wie Jegorka den Koffer nach dem Schuppen trug, um ihn dort von Staub und Spinnweben zu reinigen, und wie er ihn unterwegs der an ihm vorübergehenden Anjutka über den Kopf stülpte, die vor lauter Schreck eine Kanne mit Sahne zu Boden fallen ließ, worauf Jegorka sich kichernd aus dem Staube machte.
Raiskij machte ein ziemlich saures Gesicht, als die Großtante, die über die unerwartete Nachricht ganz verblüfft war, ihn mit Fragen bestürmte.
»Du willst abreisen, Borjuschka – was fällt dir ein?« sagte sie vorwurfsvoll. Aber Raiskij machte sich so schnell wie möglich von ihr los und ging zu Wera.
Ganz leise ging er die Treppe zum alten Hause hinauf – er brannte vor Ungeduld, in der neuen Gestalt vor ihr zu erscheinen. Unbemerkt gelangte er in ihr Zimmer, schritt über den weichen Teppich und trat dicht hinter sie.
Die Ellenbogen auf den Tisch stützend, saß sie da und war in die Lektüre eines Briefes vertieft. Es war ein Brief auf billigem blaßblauem Papier, und die Schriftzüge liefen, wie er flüchtig bemerkte, ziemlich unregelmäßig durcheinander. Mit dunkelbraunem Siegellack war das Schreiben verschlossen gewesen.
»Wera!« rief er leise.
Sie fuhr vor Schreck so jäh und heftig zusammen, daß auch er zu zittern begann. Im Augenblick hatte sie die Hand mit dem Brief in die Tasche ihres Kleides versenkt.
Starr blickten sie beide eine ganze Weile aufeinander.
»Verzeih – du bist beschäftigt?« begann er, langsam zurückweichend, ohne sich indes zu entfernen.
Sie schwieg und erholte sich allmählich von ihrem Schreck, doch sah sie ihn immer noch an und stand so da, wie sie sich von ihrem Platz erhoben hatte, die Hand tief in der Tasche versenkt.
»Ein Brief?« fragte er mit einem Blick nach der Tasche.
Ihre Hand verschwand noch tiefer in dem Kleid. Ein jäher Verdacht stieg in ihm auf, und es fiel ihm ein, wie sie ihn auch neulich getäuscht habe, als sie sagte, sie sei an der Wolga gewesen, während sie offenbar nicht dort gewesen war.
›Was bedeutet das alles?‹ dachte er, und Angst befiel ihn.
»Wohl ein sehr interessanter Brief, und ein wichtiges Geheimnis?« sagte er, gezwungen lächelnd. »Du hast ihn so rasch weggesteckt.«
Sie setzte sich auf das Sofa, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden, doch schaute sie nun schon wieder mit der gewohnten Gleichgültigkeit drein.
›Nein‹, dachte er im stillen, ›deine Gleichgültigkeit soll mich nun nicht mehr täuschen!‹
»Zeig mir doch den Brief«, sagte er in scherzendem Ton, doch mit einer Stimme, deren Klang seine Erregung deutlich verriet.
Sie sah ihn erstaunt an und hielt die Hand noch fester in der Tasche.
»Du willst ihn nicht zeigen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum wollen Sie ihn sehen?« fragte sie dann.
»Ich habe natürlich kein besonderes Interesse daran. Was kümmern mich fremde Briefe? Aber du kannst mir jetzt beweisen, daß du Vertrauen zu mir hast, und daß du dich wirklich mit mir befreunden willst. Du siehst, ich bin völlig gleichgültig gegen dich. Ich war eben zu dir unterwegs, um mit dir zusammen über meine törichte Schwärmerei und deine übertriebene Ängstlichkeit zu lachen. So sieh mich doch an! Komme ich dir nicht ganz anders vor als früher?« Im stillen freilich mußte er sich sagen: ›Hol's der Teufel, dieser Brief will mir nicht aus dem Kopf!‹
Sie sah ihn prüfend an, ob er auch wirklich so völlig gleichgültig sei, und sein Gesicht schien in der Tat seine Worte zu bestätigen, doch seine Stimme bettelte gleichsam um ein Almosen.
»Du willst mir den Brief nicht zeigen? Nun, wie du willst!« sagte er resigniert. »Ich gehe jetzt.«
Er wandte sich der Tür zu.
»Warten Sie noch«, sagte sie.
Dann suchte sie ein Weilchen in der Tasche, zog einen Brief heraus und reichte ihn Raiskij.
Er besah das Schreiben von beiden Seiten und blickte nach der Unterschrift. »Poline Krizki«, las er.
»Das ist nicht der Brief von vorhin«, sagte er, ihr das Schreiben zurückreichend.
»Haben Sie denn einen anderen Brief gesehen?« fragte sie trocken.
Er scheute sich, zuzugeben, daß er ihn gesehen habe – sie sollte ihn nicht wieder des Spionierens beschuldigen.
»Nein«, sagte er.
»Nun, dann lesen Sie doch!«
»Ma belle charmante, divine Wera Wassiljewna! Meine schöne, charmante, göttliche Wera Wassiljewna!«
so begann der Brief,
»ich bin entzückt, ich knie vor Ihrem herzigen, edlen, herrlichen Vetter! Er hat mich gerächt, ich triumphiere und vergieße Freudentränen. Er war groß, erhaben! Sagen Sie ihm, daß ich ihn als meinen Ritter betrachte für alle Zeiten, und daß ich ewig seine demütige Sklavin sein werde. Ach, wie ich ihn hochschätze! Ich möchte meinen Gefühlen so gern Worte leihen ... sie schweben mir auf der Zunge – aber ich wage nicht, sie auszusprechen. Doch warum soll ich es nicht wagen? Ja, ich liebe ihn – oder nein, vielmehr, ich vergöttere ihn! Alle Männer sollten vor ihm in die Knie sinken!«
Raiskij gab ihr den Brief zurück.
»Bitte, lesen Sie nur weiter«, sagte Wera, »da steht auch noch eine Bitte an Sie.«
Raiskij ließ einige Zeilen aus und las dann weiter.
»Ich bitte Sie, tragen Sie Ihrem Vetter mein Anliegen vor – er betet Sie an, nein, nein, bestreiten Sie es nicht, ich habe seine leidenschaftlichen Blicke bemerkt. O Gott, warum bin ich nicht an Ihrer Stelle? – Bitten Sie ihn also, herzallerliebste Wera Wassiljewna, mein Porträt zu malen, er hat es mir versprochen. Es ist mir nicht sosehr um das Bild zu tun – nein, mit ihm, mit dem Meister, will ich zusammen sein, will ihn sehen, mich an seinem Anblick erquicken, will mit ihm sprechen, mit ihm die gleiche Luft atmen! Ich fühle, ach, ich fühle ... Ma pauvre tête, je deviens folle! Je compte sur vous, ma belle et bonne amie, et j'attends la réponse. Mein armer Kopf, ich werde wahnsinnig! Ich verlasse mich auf Sie, meine schöne, gütige Freundin, und warte auf Antwort.«
»Was soll ich ihr antworten?« fragte Wera, als Raiskij den Brief auf den Tisch gelegt hatte.
Er schwieg. Er hatte ihre Frage gar nicht gehört und dachte nur immer daran, von wem wohl der andere Brief sei, und warum sie ihn so ängstlich verstecke.
»Soll ich ihr schreiben, daß Sie einverstanden sind?«
»Gott bewahre – um nichts in der Welt!« rief Raiskij, aus seinem Brüten erwachend, unwillig aus.
»Ja – was machen wir dann? Sie will doch mit Ihnen dieselbe Luft atmen.«
Um ihr Kinn zuckte ein heimlicher Spott.
»Der Teufel soll sie holen! Ich würde ersticken in dieser Luft.«
»Und wenn ich Sie darum bäte?« sagte sie mit ihrer tiefen, weichen Flüsterstimme, während sie ihn kokett ansah.
Sein Herz erbebte in jähem Hoffen.
»Du? Du bittest mich darum? Aus welchem Grunde?«
»Ich möchte ihr eine Freude machen«, sagte sie; verschwieg jedoch wohlweislich, daß es ihr vor allem darauf ankam, Raiskijs Aufmerksamkeit wenigstens in etwas von ihrer eigenen Person abzulenken. Sie wußte, daß Polina Karpowna ihn mit allen Mitteln festhalten und nicht so leicht wieder loslassen würde.
»Würdest du es als einen Beweis meiner Freundschaft ansehen, wenn ich deinen Wunsch erfüllte?«
Sie nickte mit dem Kopf.
»Aber es wäre doch ein Opfer, das ich dir da bringe?«
»Sie haben sich ja zu Opfern bereit erklärt; also ...«
»Du verlangst es?« sagte er, näher auf sie zutretend.
»Nein, nein, ich verlange gar nichts!« versetzte sie hastig, fast in Angst, und wich zurück.
»Siehst du! Gleich beim ersten Opfer, das ich dir bringen will, erschrickst du! Wohlan – bring auch du mir zwei kleine Opfer, damit du nicht in meiner Schuld bleibst! Du bist ja der Meinung, wahre Freundschaft dürfe nicht verpflichten; ich akzeptiere deine Theorie! Tu, was ich verlange, und wir werden quitt sein.«
Sie sah ihn fragend an.
»Erstens: sei auch du bei den Sitzungen zugegen, sonst laufe ich gleich das erstemal fort. Bist du einverstanden?«
Halb wider Willen nickte sie mit dem Kopf. Sie sah, daß ihre List mißlungen war, daß sie ihn auf diese Weise nicht los wurde und überdies bei ihm noch in eine moralische Schuld geriet. Doch konnte sie andererseits seinen Wunsch nicht ablehnen, um seinem Mißtrauen keine Nahrung zu geben.
»Und zweitens«, fuhr er, stehenbleibend, fort, während sie voll Spannung wartete, »zeig mir den andern Brief!«
»Welchen Brief?«
»Den du so rasch in die Tasche gesteckt hast.«
»Ich habe keinen andern Brief.«
»Doch – ich sehe, wie die Tasche absteht.«
Sie fuhr mit der Hand wieder in die Tasche.
»Sie sagten doch, Sie hätten keinen andern Brief gesehen. Ich zeigte Ihnen doch schon einen Brief! Was wollen Sie noch mehr?«
»Diesen Brief hättest du nicht so ängstlich versteckt. Willst du mir den andern nicht zeigen?«
»Sie wollen durchaus auf Ihrem Schein bestehen«, sagte sie vorwurfsvoll und begann in ihrer Tasche zu suchen, aus der sich das Geräusch knisternden Papiers vernehmen ließ.
»Nun, laß nur – ich habe gescherzt! Denk nur um Gottes willen nicht wieder, daß ich den Despoten oder den Spion spielen wollte – es war alles nur Neugier, nichts weiter. Behalt ruhig deine Geheimnisse für dich!« sagte er und erhob sich, um das Zimmer zu verlassen.
»Ich habe gar keine Geheimnisse«, antwortete sie trocken.
»Weißt du schon, daß ich bald abreise?« sagte er plötzlich.
»Ja, ich hörte es. Ist's wahr?«
»Warum zweifelst du daran?«
Sie schwieg und schlug die Augen nieder.
»Dir ist's recht, daß ich abreise?«
»Ja«, antwortete sie leise.
»Warum?« fragte er düster und trat näher zu ihr. Sie schwieg.
»Warum?« fragte er noch einmal.
Sie dachte ein Weilchen nach, dann begann sie wieder in ihrer Tasche zu suchen und zog einen zweiten Brief hervor. Sie überflog ihn rasch, nahm die Feder, strich sorgfältig einige Stellen aus, daß sie unleserlich wurden, und reichte ihm den Brief.
»Ich sagte es Ihnen schon, warum – aber weil Sie mich wieder danach fragen ... so lesen Sie dies da!« sagte sie und fuhr mit der Hand in ihre Tasche.
Er versenkte sich in die Lektüre des Briefes, während sie zum Fenster hinaussah.
Der Brief zeigte eine zierliche, feine Handschrift, die offenbar von einer Frau stammte.
Raiskij las:
»Ich bin Dir gegenüber in schwerer Schuld, meine liebe Natascha ...«
»Wer ist diese Natascha?« fragte er.
»Die Frau des Priesters, meine Pensionsfreundin.«
»Ach, die Popenfrau? Der Brief hier ist also von dir? Oh, wie interessant!« sagte Raiskij und rieb sich vor Vergnügen die Knie in Erwartung des Genusses, der ihm bevorstand. Voll Spannung begann er nochmals von Anfang an zu lesen:
»Ich bin Dir gegenüber in schwerer Schuld, meine liebe Natascha, weil ich Dir seit meiner Heimkehr noch nicht geschrieben habe. Wie gewöhnlich, ist auch diesmal meine Faulheit schuld gewesen, doch lagen auch noch andere Gründe vor, die Du sogleich erfahren sollst. Den hauptsächlichsten Grund weißt Du, es war ...« – an dieser Stelle waren drei Worte ausgestrichen –, »und das beunruhigte mich allen Ernstes. Doch darüber wollen wir ausführlicher sprechen, sobald wir uns wiedersehen.
Ein anderer Grund ist die Ankunft unseres Verwandten Boris Pawlowitsch Raiskij. Er wohnt jetzt hier bei uns, und zu meinem Unglück geht er fast gar nicht aus dem Hause, so daß ich in diesen letzten zwei Wochen nur immer darauf sinnen mußte, wie ich ihm entwischen könnte. Wieviel Verstand und Wissen, wieviel Geist und Talent, und nebenher auch Spektakel, oder Leben, wie er es nennt, ist mit ihm ins Haus gekommen! Alles hat er in Unruhe und Aufregung versetzt, von uns – der Großtante, Marfinka und mir – angefangen bis zu Marfinkas Geflügel. Vielleicht hätte auch ich mich früher von diesem Wirbel mit fortreißen lassen, doch jetzt ist mir das alles, wie Du Dir denken kannst, peinlich, ja unerträglich.
Er scheint, nachdem er jetzt seinem Gut einen Besuch abgestattet hat, nicht nur dieses Gut, sondern auch alles, was darauf lebt und webt, für sein Eigentum zu halten. Auf Grund irgendeiner verwandtschaftlichen Beziehung, die kaum noch als solche zu bezeichnen ist, und auf Grund der Tatsache, daß er mich und Marfinka einmal als kleine Kinder gekannt hat, behandelt er uns jetzt wie Kinder oder Pensionatsschülerinnen. Ich versteck mich schon immer, und kann es nur mit Mühe erreichen, daß er mich nicht auch noch im Schlafe belauert, nicht meine Träume, meine Gedanken und Hoffnungen kontrolliert.
Ich bin fast krank geworden infolge dieser Nachstellungen, habe niemanden gesehen, an niemanden geschrieben, nicht einmal an Dich, und es war mir, als sitze ich in einem Gefängnis. Es ist, als spiele er mit mir – vielleicht, ohne es selbst zu wollen. Heute ist er kalt und gleichgültig, und morgen glänzen und glühen seine Augen, und ich fürchte mich vor ihm, wie man sich vor einem Wahnsinnigen fürchtet. Das schlimmste aber ist, daß er selbst sich nicht kennt, und daß darum auf seine Entschließungen und Versprechen kein Verlaß ist. Heute nimmt er sich das eine vor, und morgen tut er etwas ganz anderes.
Er ist nervös, leicht erregbar und leidenschaftlich, wie er selbst, anscheinend mit Recht, es nennt. Er ist kein Schauspieler und verstellt sich nicht – dazu ist er zu klug und zu gebildet, und vor allem zu anständig. Er hat einmal solch ein ›Naturell‹, wie er sich ausdrückt.
Er ist eine Art Künstler. Er zeichnet, schriftstellert, phantasiert ganz allerliebst auf dem Klavier, geht ganz in der Kunst auf, scheint aber im übrigen nicht viel mehr zu tun als wir übrigen Sterblichen und verbringt sein ganzes Leben, wie er sagt, im Dienste der Schönheit – auf unsere Weise ausgedrückt: er ist ein verliebter Racker, wie unsere Daschenka Semetschkina im Pensionat, weißt Du noch – die einmal sogar in einen spanischen Prinzen verliebt war, dessen Bild sie im Kalender gesehen hatte, und vor deren Liebe kein Mensch, nicht einmal der Klavierstimmer Kisch, sicher war. Bei alledem aber ist er ein herzensguter, vornehm denkender Mensch, von großem Gerechtigkeitssinn, dabei heiter und freimütig, nur kommt das alles bei ihm immer in plötzlichen Ausbrüchen zum Vorschein, daß man nie weiß, woran man mit ihm ist.
Jetzt wirbt er um meine Freundschaft; doch auch vor seiner Freundschaft ist mir angst – alles, alles, was von ihm ausgeht, erfüllt mich mit Bangen ...«,
an dieser Stelle waren drei ganze Zeilen ausgestrichen.
»Ach, wenn er doch wieder abreisen wollte! Schrecklich, zu denken, daß er jemals ...«,
wieder folgten ein paar durchgestrichene, unleserliche Worte.
»Ich brauche nur eins: Ruhe und wieder Ruhe! Auch der Arzt meint, meine Nerven seien angegriffen, ich müsse geschont, dürfe nicht gereizt werden, und zum Glück hat er das alles auch der Großtante klarzumachen verstanden, so daß man mich jetzt in Ruhe läßt. Ich möchte nicht aus dem Lebenskreis heraustreten, den ich um mich herum gezogen habe – ich habe mich so zu stellen gewußt, daß niemand jetzt diese Linie überschreitet, und darauf beruht nun meine Ruhe und all mein Glück.
Sollte Raiskij in irgendeiner Richtung über diese Grenze hinausgehen, dann bleibt mir nur eins übrig: ich muß von hier fort! Das ist freilich leicht gesagt. Wohin sollte ich fliehen? Andererseits empfinde ich auch wieder Gewissensbisse. Er ist so gut, so lieb zu mir, als seiner Kusine, er überschüttet uns förmlich mit seiner Liebenswürdigkeit, seinen Freundschaftsbeweisen, ja, er will uns sogar diesen lieben Winkel hier schenken ... dieses Paradies, in dem ich mir bewußt geworden bin, daß ich lebe, daß ich geborgen bin auf dieser Welt ... Es liegt mir schwer auf der Seele, daß er uns so viel unverdiente Güte zuteil werden läßt, daß er mir so viel Aufmerksamkeit widmet und in mir ein zärtliches Gefühl zu erwecken sucht, während ich ihm doch jede Hoffnung in dieser Hinsicht genommen habe. Ach, wenn er wüßte, wie vergeblich alle seine Anstrengungen sind!
Nun sollst Du noch einiges hören über dieses ...«
An dieser Stelle brach der Brief ab. Raiskij hatte ihn zu Ende gelesen – und starrte immer noch auf die Zeilen, als erwarte er noch etwas, als wolle er irgend etwas erraten, was zwischen den Zeilen stand. Von Wera selbst sagte ihm der Brief so gut wie gar nichts – sie blieb im Schatten, nur auf ihn fiel alles Licht: ach, und welch ein grelles Licht!
Er sann und brütete noch eine ganze Weile über dem Brief, den er von allen Seiten betrachtete. Dann erwachte er plötzlich wie aus einer Betäubung:
»Auch das ist nicht der richtige Brief! Jener war auf blaßblauem Papier geschrieben!« sagte er schroff, sich zu Wera umwendend, »und dieses Papier ist weiß.«
Doch Wera war nicht mehr im Zimmer.