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Am nächsten Tage, gegen zehn Uhr morgens, klopfte jemand an seine Tür. Bleich, mit finsterer Miene öffnete er und war starr vor Staunen. Vor ihm standen Wera und Polina Karpowna, die letztere in einem grellgelben Tüllkleid, das sie wie ein Nebel umgab, mit tiefem Brustausschnitt und kurzen Ärmeln, ganz übersät von Blumen, Bändern und Löckchen. Sie glich jenen weißen, kleinen Pudeln, die, glatt geschoren und mit Schleifen, Halsbändern und sonstigem Schmuck verziert, im Zirkus vorgeführt werden.
Raiskij musterte sie entsetzt, sah dann finster auf Wera und hierauf wieder auf Polina Karpowna. Sie hatte die Lippen zu einem süßlich-sanften Lächeln verzogen und sah ihn schweigend an, mit einem Blick, der sich tief in ihn hineinzubohren suchte; in ihrem ekstatischen Zustand, der durch die Hitze noch gesteigert schien, erinnerte sie an einen weichen, halb zerschmolzenen Bonbon.
»Ich liege zu Ihren Füßen!« begann die Krizkaja endlich mit verhaltenem Flüstern.
»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte er wütend.
»Zu Ihren Füßen ...« wiederholte sie – »Ihr ritterliches Eintreten für mich ... ich finde keine Worte ... ich kann es nicht aussprechen ...«
Sie führte ihr Taschentuch an die Augen.
»Was hat das zu bedeuten, Wera?« fragte er ungeduldig.
Wera sagte kein Wort, nur ihr Kinn begann zu zittern.
»Nichts, nichts – verzeihen Sie ...«, begann Polina Karpowna hastig – »vos moments sont précieux Ihre Zeit ist kostbar: ich bin bereit!«
»Ich schrieb Polina Karpowna, daß Sie eingewilligt haben, ihr Bild zu malen«, sagte Wera endlich.
»Ach!?« entfuhr es Raiskijs Munde.
Er rieb sich heftig die Stirn. »Das hat mir noch gefehlt!« murmelte er zähneknirschend.
»Kommen Sie, wir wollen gleich anfangen!« sprach er dann in entschiedenem Tone. »Erwarten Sie mich dort im Saal!«
»Gut, gut, befehlen Sie, und wir werden ... Allons, chère Wera Wassiljewna!« sagte die Krizkaja hastig und zog Wera mit sich fort.
Er hätte sich Polina Karpowna ohne Umstände vom Halse geschafft, wenn Wera nicht bei den Sitzungen zugegen gewesen wäre. Das wurde ihm sogleich klar, als die beiden sich entfernt hatten.
Das an Feindseligkeit streifende Mißtrauen, das Wera gegen ihn hegte, und vor allem dieser rätselhafte Brief hatten ihn so heftig gereizt, daß er sie beinahe haßte – und doch schien ihm jede Minute, die er mit ihr zusammen verbringen konnte, ein köstlicher Gewinn. Noch immer brannte er vor Verlangen, zu erfahren, von wem der Brief war.
Er holte aus einer Ecke des Zimmers eine auf den Rahmen gespannte Leinwand hervor, die eigentlich für ein Porträt Weras bestimmt war, und nahm Palette und Farben. Er ließ von Wassilissa Vorhänge zum Abdämpfen des eindringenden Lichtes in den Saal bringen und verhängte alle Fenster bis auf eins. Die Krizkaja musterte er nur zwei- oder dreimal mit flüchtigem, finsterem Blick, stellte ihr einen Stuhl hin und nahm selbst vor der Leinwand Platz.
»Sagen Sie, bitte, wie ich sitzen soll! Setzen Sie mich richtig hin!« sagte sie in einem Ton, aus dem zugleich Demut und Zärtlichkeit hervorklang.
»Setzen Sie sich, wie Sie wollen, nur sitzen Sie still und sprechen Sie nicht, das stört mich«, antwortete er kurz.
»Nicht einmal atmen werde ich!« flüsterte sie, neigte den Kopf anmutig zur Seite, schloß die Augen ein wenig und setzte ein süßes Lächeln auf.
›Was für eine abscheuliche Fratze!‹ ging es Raiskij durch den Kopf. ›Wart, meine Liebe, ich will dich schon abkonterfeien!‹
Ohne Umstände schickte er die Großtante und Marfinka, die gekommen waren, um zuzusehen, aus dem Saal. Jegorka, der gesehen hatte, daß der gnädige Herr ein ›Paträt‹ zu malen begann, kam herein, um zu fragen, ob er nicht den Reisekoffer auf den Boden tragen solle. Raiskij wandte sich schweigend um und wies ihm die Faust.
Boris begann zunächst die Umrisse des Kopfes mit Kreide hinzuzeichnen, wobei er immer wütender auf die ›abscheuliche Fratze‹ schaute, und so fest setzte er dabei die Kreide auf, daß die abspringenden Stückchen nach allen Seiten flogen.
Wera saß an der Tür, stichelte mit der Nadel an einer Stickarbeit herum und gähnte häufig; nur wenn sie einen Blick auf Polina Karpownas Gesicht warf, begann ihr Kinn zu zittern und ihr Mund zu zucken, als müsse sie mit Gewalt ein Lächeln unterdrücken.
»Suis-je bien comme ça? Bin ich so vorteilhaft?« wandte sich die Krizkaja flüsternd an Wera.
»Oh, oui, tout-à-fait bien! Oh, ja, sehr vorteilhaft!« antwortete Wera.
Raiskij machte eine unwillige Bewegung.
»Ich wage nicht zu atmen!« stammelte Polina Karpowna erschrocken und erstarrte in ihrer Pose.
Raiskij war mit der Kreideskizze fertig; er nahm nun die Palette und begann, während er der Krizkaja feindselige Blicke zuwarf, Augen und Nase zu untermalen.
»Arme Alte, ach, wohin
Schwand die Schönheit dein?
Niemand, niemand denkt daran
Als nur du allein!«
zitierte er unwillkürlich.
So oft sie seinem Blick begegnete, bemühte sie sich, noch süßer und zärtlicher zu lächeln.
Nach zwanzig Minuten war sie, da sie das Stillsitzen und Nichtatmen fast buchstäblich nahm, so erschöpft, daß ihre Stirn sich mit großen, an weiße Johannisbeeren erinnernde Schweißtropfen bedeckte und ihre Schläfenlöckchen ganz feucht wurden.
»Es ist so heiß!« flüsterte sie.
Doch Raiskij sah sie mit strenger Miene an und malte unbarmherzig weiter. Noch eine Viertelstunde verging.
»Un verre d'eau! Ein Glas Wasser!« flüsterte die Krizkaja kaum hörbar.
»Unmöglich, warten Sie noch!« sagte Raiskij streng. »Ich bin eben bei den Lippen.«
Polina Karpowna suchte sich zu beherrschen, als sie vernahm, daß er ihr ›Lächeln‹ male. Nur stoßweise, mit größter Anstrengung, wagte sie Atem zu schöpfen, und in ihrem Bemühen, sich um keinen Preis zu rühren, begann sie auch an Hals und Brust zu schwitzen. Raiskij aber malte und malte, als ob er nichts bemerkte.
»Polina Karpowna ist erschöpft!« sagte Wera.
Raiskij schwieg. Die Unterlippe der Krizkaja sank schlaff herunter, so sehr sie sich auch bemühte, sie an ihrem Platz festzuhalten. Aus ihrer Brust kam ein leichtes Pfeifen.
Raiskij tat nichts als nur malen, malen. Polina Karpowna bewegte die Lippen, als wolle sie etwas sagen, und Schweißtropfen rollten ihr schon von der Stirn auf die Arme hinab.
»Warten Sie noch ein Weilchen«, sagte Raiskij.
»Ich kriege keinen Atem!« kam es pfeifend aus Polina Karpownas Mund.
Raiskij war selbst schon ermattet, doch seine Wut beherrschte ihn ganz, und er fühlte weder Müdigkeit noch Mitleid mit seinem Opfer. Noch fünf Minuten gingen hin.
»Ach ... ach ... je n'en puis plus ... ich kann nicht mehr ..., ach, ach!« rief die Krizkaja und fiel vom Stuhl.
Raiskij und Wera sprangen auf sie zu und brachten sie zum Sofa. Sie holten Wasser, Eau de Cologne, einen Fächer, und allmählich kam sie, mit Weras Hilfe, wieder zu sich. Sie ging in den Garten, und Raiskij blieb mit Wera allein zurück. Er warf ihr einen raschen, feindlichen Blick zu.
»Der Brief ist nicht von der Frau des Popen!« zischte er.
Wera antwortete ihm gleichfalls mit einem Blick, so jäh und rasch wie der Blitz; dann ließ sie ihre Augen auf ihm ruhen, die nun wieder so durchsichtig und gläsern erschienen wie Nixenaugen.
»Wera, Wera«, sprach er leise, mit trockenen Lippen, während er ihre Hand ergriff – »du hast, kein Vertrauen zu mir!«
»Ach, lassen Sie mich!« sagte sie ungeduldig und entzog ihm ihre Hand. »Was soll Ihnen mein Vertrauen? Wozu bedürfen Sie seiner?«
Sie begab sich zu Polina Karpowna in den Garten.
›Ja, sie hat recht; was soll mir ihr Vertrauen? Und doch – ich muß es besitzen, mein Gott, um endlich dieser Aufregung Herr zu werden, um hinter ihr Geheimnis zu kommen – denn ein solches liegt vor – und dann abzureisen. Nein, ich kann nicht abreisen, ohne dahintergekommen zu sein, wer und was sie ist!‹
»Jegor!« sagte er, ins Vorzimmer hinaustretend, »bring den Koffer wieder auf den Boden!«
Er arbeitete noch eine halbe Stunde lang an dem Porträt der Krizkaja, setzte die nächste Sitzung auf den folgenden Tag fest und wandte nun wieder seine ganze Aufmerksamkeit der Lösung der Frage zu, von wem der blaßblaue Brief sein könnte. Nur dies wollte er noch in Erfahrung bringen – weiter nichts, dann wollte er ganz bestimmt abreisen. Das Schlimme an der Sache war eben diese Heimlichkeit; sie war es, die ihm soviel Pein bereitete.
Mit mißtrauischem Blick sah er auf die Großtante, auf Marfinka, auf Tit Nikonytsch, auf Marina – ja, namentlich auf diese, die ja Weras Kammerzofe war und ihre Vertraute zu sein schien.
Marina aber huschte nach wie vor, sich in den schlanken Hüften wiegend, wie eine Eidechse über den Hof, bald mit dem Bügeleisen und frisch geplätteten Unterröcken, bald auf der Flucht vor den Schlägen Sawelijs, laut heulend und gleich darauf übers ganze Gesicht lachend; und wie sie sonst den Knütteln oder Ziegelstücken auswich, die ihr Mann ihr nachwarf, so ging sie jetzt den Fragen Raiskijs aus dem Wege. Sie wandte, sobald sie ihn sah, ihr Gesicht ab, senkte die gelben, frechen Augen zu Boden und suchte ihn in möglichst großem Bogen zu umgehen.
›Diese Kanaille scheint in alles eingeweiht zu sein!‹ dachte er, doch scheute er davor zurück, sie eingehender zu befragen, weil er dann wieder den Vorwurf des Spionierens auf sich geladen hätte, und weil sein eigenes Gefühl sich doch gegen eine solche Schnüffelei sträubte.
Da hatte er ihr nun in so feierlicher Weise sein Wort verpfändet, sich beherrschen zu wollen, ihr ein Freund im einfachen, wahren Sinne dieses Wortes zu werden. Zwei Wochen hatte er sich dafür als Frist gesetzt – o Gott, und was hatte er nun erreicht! Welche törichte Qual hatte er da seiner Seele aufgeladen, ohne Liebe, ohne Leidenschaft – freiwillig hatte er sich einer Folter unterzogen, die ihm nur Leiden bot, nur peinliche Empfindungen bereitete. Nun schien es doch fast, daß er, der so wählerisch, so unabhängig und stolz war – er wenigstens hielt sich für stolz –, daß er sie wirklich liebte, und daß man es, wie der scharfsinnige Zyniker Mark sich ausdrückte, ›seinem Gesicht ansah‹.
Mitten in diesem Kampfe aber, diesen inneren Qualen, regte sich in seinem Herzen das Vorgefühl einer großen Leidenschaft. Er schwelgte im Vorgenuß der köstlichen Empfindungen, die ihm bevorstanden, lauschte voll Entzücken auf das Rollen des fernen Gewitters und malte sich aus, wie herrlich es sein müßte, seine Seele so ganz in Luft und Wonne zu baden, sein Leben im Feuer des höchsten Gefühls zu läutern und einen befruchtenden Regen auf das verdorrte Feld seines Daseins niedergehen zu lassen.
Was war die Kunst, was war selbst der Ruhm gegenüber diesen süßen Stürmen des Herzens! Was bedeuteten, im Vergleich damit, all die stickigen, schwülen Gase der politischen und sozialen Stürme, in denen nur Ideen kämpfen, schattenhafte Schemen ohne Glut, ohne Nerven, nicht wert der Begeisterung, mit der die Jugend ihnen anhängt! Diese ›Leidenschaften des Kopfes‹ sind doch nichts weiter als ein Spiel der kalten Selbstsucht, Ideen ohne Schönheit, oft nur nachgebetet und zusammengelesen, bar alles inneren Feuers, aller Lust und Qual.
›Nein, ich will nichts weiter als die ganz gewöhnliche, lebendige, animalische Leidenschaft, mit all ihrem Blitz und Donner. Ach, die Leidenschaft, die Leidenschaft!‹ hätte er am liebsten aufgeschrien, als er durch den Garten schritt und in vollen Zügen die frische Luft einatmete.
Doch Wera gab sie ihm nicht, diese Leidenschaft, und es schien ihrer Eigenliebe so gar nicht zu schmeicheln, sie in ihm zu erregen.
Auch in ihm hatte ja nicht die Eigenliebe allein die Hoffnung genährt, daß er doch endlich Wera nähertreten würde. Er hatte sich nicht mit der vermessenen Absicht getragen, mit Gewalt von ihrem Herzen Besitz zu ergreifen, wie es dem Wesen eines ersten besten Don Juans mit glatten Wangen und kleinem Hirn entsprochen hätte, dem es nur darauf ankam, um jeden Preis einen Erfolg zu erringen. Seine Hoffnung war von schüchterner, stiller Art gewesen, vielleicht, hatte sie ihm zugeflüstert, würde er doch noch einmal auf Wera Eindruck machen; doch auch diese Hoffnung war nun geschwunden.
Als er Weras Brief an die Freundin las, hatte diese leise Hoffnung, ohne daß er selbst es merkte, wieder einige Nahrung erhalten. Sie hatte in dem Brief bekannt, daß er, Raiskij, viel Verstand und Wissen, viel Geist und Talent besitze, daß sie sich vielleicht früher von diesem Wirbel hätte fortreißen lassen, doch jetzt ...
Dieses »Vielleicht«, das den Menschen auch in der verzweifeltsten Lage noch nach dem rettenden Strohhalm ausschauen läßt, zog jetzt auch Raiskij, zwar nicht in die eigentliche Wolke der Leidenschaft, aber doch in ihre heiße Atmosphäre hinein, aus der sich nur starke, wahrhaft stolze Charaktere zu retten vermögen.
Ja, immer noch glühte in ihm dieses Fünkchen von Hoffnung auf eine gegenseitige Annäherung oder sonst etwas, über das er sich selbst noch nicht völlig klar war; und mit jedem Tage wurde es ihm, wie er deutlich fühlte, immer schwerer, sich jener heißen, betäubenden Atmosphäre zu entziehen.
Nicht vor einer Woche – nein, vor einem Monat, oder vor Weras Ankunft, oder gleich nach der ersten Begegnung mit ihr hätte er daran denken sollen, abzureisen, sich vor ihr zu retten. Jetzt würde Jegorka wohl kaum wieder in die Lage kommen, den Reisekoffer vom Boden zu holen.
»Gib mir diese Leidenschaft!« stöhnte er, während er sich in der schwülen Sommernacht in den weichen Pfühlen der Großtante wälzte. »Gib sie mir, die volle, ganze Leidenschaft, die mich verzehrt und zugrunde richtet – ja, mag sie es nur tun! –, die mich aber auch in vollen Zügen, bis zur Sättigung, trinken läßt aus ihrem Becher! Oder sag mir kurz und bündig, von wem der Brief ist, und wen du liebst, seit wann du ihn liebst, und ob diese Liebe ewig dauern wird! Dann werde ich zur Ruhe kommen und gesunden – denn die Hoffnungslosigkeit macht gesund! Jetzt aber raunt eine blinde, törichte Hoffnung mir immer wieder ins Ohr: verzweifle nicht, fürchte ihre Strenge nicht, sie ist jung – wenn dir jemand zuvorgekommen ist, so kann das erst kürzlich geschehen sein. Noch kann in diesem Hause, wo Dutzende von Augenpaaren sie beobachteten, wo Vorurteile, Befürchtungen und die altfränkische Moral der Großtante sie auf Schritt und Tritt hemmen, ihre Liebe zu jenem andern nicht weit gediehen sein. Wart's nur ab – du wirst den Eindruck verwischen, und dann ... und so weiter. Und solange diese Hoffnung noch flüstert, solange kann die Gesundung nicht erfolgen!«
»Ich will zu ihr gehen! Ich halte es nicht mehr aus!« entschied er eines Tages in der Abenddämmerung. »Ich will ihr alles, alles sagen ... und die Antwort, die sie mir gibt, soll mein Schicksal entscheiden. Entweder Heilung – oder Untergang!«