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XII

Während des Besuches bei der Krizkaja hatte Raiskij sich erinnert, daß er Leontij gegenüber immer noch jene heilige Freundespflicht zu erfüllen habe, auf die er sich jüngst so feierlich vorbereitet hatte, die jedoch infolge seines Zusammentreffens mit Wera unerledigt geblieben war. Sein Herz begann rascher zu schlagen, als er jetzt seiner guten Absicht, das häusliche Glück seines Freundes vor sicherer Schmach zu bewahren, wieder gedachte.

Leontij war nicht zu Hause, dafür kam Uljana Andrejewna ihm mit offenen Armen entgegen, doch lehnte er ihre allzu zärtliche Begrüßung trocken ab. Sie nannte ihn ihren alten Freund, ihren kleinen Schäker, zog ihn leicht am Ohr, ließ ihn auf dem Sofa Platz nehmen, setzte sich dicht neben ihn und nahm seine Hand in die ihrige.

Raiskij war verblüfft, ja unwillig über diese allzu unmittelbare Attacke und die rasch zugreifende Art Uljanas, die ihn plötzlich in die Zeit seiner ersten Bekanntschaft mit ihr und seiner studentischen Torheiten zurückversetzte. Wie weit lag diese Zeit schon zurück!

»Was fällt Ihnen ein, Uljana Andrejewna, nehmen Sie doch Vernunft an!« sagte er vorwurfsvoll. »Ich bin doch kein Student, und Sie sind kein junges Mädchen mehr!«

»Für mich sind Sie immer noch derselbe liebe, kleine Student, derselbe kleine Schäker, und ich bin für Sie dasselbe folgsame kleine Mädchen.«

Sie sprang auf, zog ihn am Arm hoch und tanzte dreimal im Walzertakt mit ihm durchs Zimmer.

»Wer hat mir denn damals das Kleid zerrissen, erinnern Sie sich noch?«

Er sah sie an und suchte sich zu besinnen.

»Wissen Sie noch, wie Sie mich damals um die Taille faßten, als ich fortlaufen wollte? Und wer hat denn vor mir gekniet? Wer hat mir die Hände geküßt? Da, küssen Sie sie wieder, Sie Undankbarer! Ja, ja, ich bin immer noch für Sie dieselbe Ulinka!«

»Haben Sie diese weit zurückliegenden Albernheiten noch nicht vergessen?« sprach er mit einem Seufzer.

»Nein, nein – alles weiß ich noch, alles!« Und sie wirbelte mit ihm durch das Zimmer.

Es war ihm in der Tat leichter gefallen, das dumme, lächerliche, ungefährliche Kokettieren der ewig nach ihrem Odysseus ausschauenden alternden Kalypso zu ertragen, als das unverfrorene Liebesspiel dieser Nymphe, die ihren Satyr suchte.

Mit flammenden Augen und einer selbstsicheren, freudig-kühnen Entschlossenheit, hinter der sich ein heimliches Lachen verbarg, sah sie ihm gerade ins Gesicht, während durch das Rot ihrer Wangen die Sommersprossen grell hervortraten und von dem hochblonden Scheitel und den Augenbrauen ein goldiger Glanz ausstrahlte.

Er wandte sich von ihr ab, suchte das Gespräch auf Leontij und seine Arbeiten zu bringen, schritt von Ecke zu Ecke durchs Zimmer und ging wohl zehnmal zur Tür, um sich zu entfernen, hatte jedoch das Gefühl, daß dies keineswegs leicht war.

Es war ihm, als sei er in den Käfig einer Tigerin geraten, die, in einer Ecke sitzend, jede Bewegung ihres Opfers beobachtete. Kaum faßte er einmal nach der Türklinke, da stand sie auch schon vor ihm, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Schloß und sah ihn mit jenem seltsam starren Ausdruck der Augen an, hinter dem sich ein Lachen zu verbergen schien, ohne daß sie in Wirklichkeit lachte.

Wohin er sich auch wandte, immer wieder war es ihm, als könne er nicht fort aus dem Banne dieses Blickes, der – wie der Blick eines Porträts – ihn überallhin zu verfolgen schien.

Er setzte sich und begann darüber nachzusinnen, wie er sich seiner Freundespflicht Leontij gegenüber am besten entledigen sollte. Es wurde ihm nicht leicht, einen Anfang zu finden. Er sah, daß hier mit Milde nichts auszurichten war. Er mußte schon ein Donnerwetter über diese mit der Schande spielende Frau hereinbrechen lassen, mußte die Dinge beim Namen nennen und ihr die Schmach vorhalten, die sie so reichlich auf das Haupt seines Freundes häufte.

Er maß sie schweigend, mit kaltem Blick, vom Scheitel bis zur Sohle, und ein leichtes Lächeln der Geringschätzung spielte dabei um seinen Mund.

Sie wich diesem wenig freundlichen Blick aus, ging um seinen Stuhl herum, beugte sich plötzlich zu ihm herab, legte ihre Hand auf seine Schulter und sah ihm aus nächster Nähe in die Augen. Dann zupfte sie ihn zärtlich am Ohr, blieb plötzlich wie versteinert stehen, blickte in tiefem Nachsinnen zur Seite, als kämpfe sie mit sich selbst, oder als gedenke sie jener fernen, schönen Tage, da Raiskij noch ein Jüngling und zugänglicher war. Und plötzlich seufzte sie, erwachte aus ihrer Erstarrung – und begann ihr Spiel mit ihm von neuem.

Er beobachtete sie mit scharfem Auge.

»Warum schauen Sie mich so finster an, lieber Freund, gar nicht so wie früher?« sagte sie leise, mit singender Stimme. »Ist in diesem Herzen nichts mehr für mich übriggeblieben? Erinnern Sie sich noch, wie schön es war, als damals die Linden blühten?«

»An nichts erinnere ich mich mehr«, sagte er trocken, »alles hab ich vergessen!«

»Undankbarer!« flüsterte sie und legte ihre Hand an sein Herz. Dann kniff sie ihn wieder ins Ohr und in die Wange und trat rasch auf die andere Seite.

»Haben Sie wirklich alles Wera gegeben?« flüsterte sie.

»Wera?« fragte er plötzlich und stieß sie zurück.

»P-s-t! Ich weiß alles – schweigen Sie! Jetzt müssen Sie Ihr Schätzchen für einen Augenblick vergessen.«

›Nein‹, sagte er sich, ›ich muß es auf ein andermal verschieben, wenn Leontij zu Hause ist. Ich will ihr dann irgendwo in einer Ecke oder im Garten eine Lektion erteilen, will ihr unverblümt sagen, wer sie ist, und was ich von ihrem Benehmen halte, aber jetzt ...‹

Er erhob sich.

»Lassen Sie mich, Uljana Andrejewna, ich komme ein andermal wieder, wenn Leontij zu Hause ist«, sagte er trocken und versuchte, sie von der Tür wegzuschieben.

»Und das gerade will ich nicht«, antwortete sie. »Was habe ich davon, daß Sie herkommen, wenn er da ist? Ich will mit Ihnen allein sein. Seien Sie wenigstens für eine Stunde mein, ganz mein, daß niemand auch nur ein Teilchen von Ihnen abbekommt! Und auch ich will die Ihrige, ganz die Ihrige sein!« flüsterte sie leidenschaftlich und legte ihren Kopf an seine Brust. »Ich habe mich gesehnt nach dieser Stunde, habe von Ihnen geträumt und wußte nicht, wie ich Sie herlocken sollte. Der Zufall ist mir zu Hilfe gekommen. Sie sind mein, mein, mein!« sprach sie und schlang ihre Arme um seinen Hals, ihren Mund zum Kusse spitzend.

›Nun, das ist nicht mehr Polina Karpowna, hier heißt es entschlossen auftreten‹, dachte Raiskij, umfaßte energisch ihre Taille, führte sie auf die Seite und öffnete die Tür.

»Leben Sie wohl«, sagte er, seinen Hut nach ihr hin schwenkend, »auf Wiedersehen! Vielleicht komme ich morgen.«

Sie hielt plötzlich seinen Hut in der Hand, und während sie den Kopf nach ihm vorneigte, hob sie den Hut hoch empor und schwenkte ihn hin und her.

Er wollte ihr den Hut wegnehmen, doch war sie bereits damit im anderen Zimmer und hielt ihm nun, ihn gleichsam lockend, die Kopfbedeckung hin.

»Nehmen Sie ihn doch!« neckte sie ihn.

Er beobachtete sie schweigend. »Geben Sie mir den Hut!« sagte er nach einer Weile.

»So nehmen Sie ihn doch!«

»Geben Sie ihn her!«

»Hier ist er!«

»Stellen Sie ihn auf den Fußboden!«

Sie tat, was er verlangte, und trat dann ans Fenster. Er ging in das andere Zimmer und nahm rasch den Hut, sie aber lief flink zur Tür, schloß sie ab und steckte den Schlüssel in die Tasche.

Sie sahen einander an: kühle Neugier lag in seinen Blicken, während sie mit einem kecken Ausdruck des Triumphes in den lachenden Augen ihn anschaute. Schweigend bewunderte er die Schönheit ihres römischen Profils.

›Ja, Leontij hat recht, das ist ein Kameenkopf, dieses Profil, diese strenge, reine Nacken- und Halslinie! Und ihr Haar ist noch ebenso dicht wie früher.‹

Plötzlich fiel ihm ein, weswegen er gekommen, und er setzte eine strenge Miene auf. »Begreifen Sie auch, was für ein keckes Spiel Sie spielen?« sprach er kalt und würdevoll.

»Lieber Boris«, sagte sie zärtlich, ihm die Hand hinhaltend und ihn zu sich lockend, »haben Sie den Garten und die Laube in Moskau schon vergessen? Ist Ihnen dieses Spiel wirklich so neu? Kommen Sie doch näher!« fügte sie rasch, im Flüstertone, hinzu, während sie auf dem Sofa Platz nahm und ihm ein Zeichen machte, sich doch neben sie zu setzen.

»Und Ihr Mann?« sagte er plötzlich.

»Mein Mann? Der ist immer noch derselbe Tölpel, der er früher war.«

»›Tölpel‹, sagen Sie?« versetzte er vorwurfsvoll, mit erhobener Stimme. »Lohnen Sie ihm so für seine Güte, sein Vertrauen?«

»Kann man ihn denn überhaupt lieben?«

»Warum nicht?«

»Nein, diese Art Männer liebt man nicht. Kommen Sie her!« flüsterte sie.

»Aber Sie haben ihn doch früher geliebt?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Warum haben Sie ihn denn dann geheiratet?«

»Das ist etwas ganz anderes: er wollte mich haben, und da sagte ich eben ›ja‹. Wo hätte ich denn sonst bleiben sollen?«

»Und so betrügen Sie ihn denn Ihr Leben lang, Tag für Tag, versichern ihm Ihre Liebe ...«

»Das habe ich noch nie getan, und er fragt auch nicht, ob ich ihn liebe. Sie sehen also, daß ich ihn nicht betrüge!«

»Aber ich bitte Sie, was tun Sie denn sonst?« sagte er und bemühte sich dabei, seiner Stimme einen Ausdruck des Entsetzens zu verleihen.

Sie sah ihn mit einem kecken Blick, in dem wieder ihr heimliches Lachen lag, an, und ihre Augen funkelten.

»Was ich sonst tue?« versetzte sie, sein Entsetzen in komischer Weise nachäffend. »Ich liebe Sie noch immer, Sie Undankbarer, bin immer noch meinem lieben Studenten Raiskij treu. Kommen Sie her!«

»Wenn er es wüßte!« sagte Raiskij, seine Augen schweiften ängstlich umher, bis sie auf ihrem Profil haftenblieben.

»Er wird nichts erfahren! Und wenn er etwas erfährt, macht's auch nicht viel aus. Er ist doch ein Dummkopf.«

»Nein, er ist kein Dummkopf, sondern ein schwacher Mensch, der Sie liebt und Ihnen blind vertraut. Und das ist nun – sein häusliches Glück!«

»Wo steckt denn sein Unglück, möcht ich wissen?« brauste Uljana Andrejewna auf. »Suchen Sie ihm doch erst eine zweite solche Frau, wie ich bin! Wenn ich auf ihn nicht acht gebe, fährt er mit dem Löffel am Mund vorbei. Er hat seine Kleider und Stiefel in Ordnung, ißt gut, trinkt gut, schläft ruhig, treibt sein Latein, was fehlt ihm noch? Das genügt vollkommen. Die Liebe ist nicht für solche Männer geschaffen!«

»Für welche denn?«

»Na, für solche, wie Sie sind. Kommen Sie her!«

»Aber er vertraut Ihnen doch, er betet Sie an.«

»Ich habe auch nichts dagegen: er ist mein Mann. Was will er noch mehr?«

»Ihre Zärtlichkeiten, Ihre Fürsorge – alles das sollte ihm allein gehören!«

»Es gehört ihm auch. Bin ich nicht zärtlich genug gegen ihn, diesen häßlichen Kerl? Ach, wenn Sie doch ...«

»Aber diese Leichtfertigkeit, dieser Monsieur Charles!«

Sie fuhr beleidigt auf.

»Welch ein Unsinn – Charles! Wer hat Ihnen das aufgebunden? Sicherlich Ihre abscheuliche Tante; aber ich sage Ihnen: es ist Unsinn, Unsinn!«

»Ich habe doch selbst gehört ...«

»Was haben Sie gehört?«

»Im Garten neulich, wie Sie flüsterten, wie Sie ...«

»Das ist alles dummes Zeug, es schien Ihnen nur so! Monsieur Charles spricht wohl öfters vor, trinkt ein Glas Rotwein und ißt einen Zwieback dazu; aber wenn er ausgetrunken hat, geht er gleich wieder.«

Sie ging ans Fenster und begann in ihrem Ärger die Blüten und Blätter der Zimmerpflanzen, die dort standen, abzureißen. Ihr Gesicht nahm den starren Ausdruck einer Maske an, und ihre Augen hörten auf zu leuchten und wurden farblos und durchsichtig. ›Wie damals bei Wera‹, dachte er. ›Ja, ja, ja – das ist er, dieser Blick, er ist bei allen Weibern derselbe, wenn sie lügen, betrügen, ein Geheimnis haben. Der Nixenblick!‹

»Ihr Herz, Uljana Andrejewna, Ihr inneres Gefühl ...«, sagte er laut.

»Was denn noch?«

»Ihr Gewissen, mit einem Wort – peinigt es Sie nicht, flüstert es Ihnen nicht zu, wie tief Sie meinen armen Freund kränken?«

»Was für albernes Zeug Sie zusammenreden, nicht anzuhören!« sagte sie, während sie sich plötzlich umwandte und seine Hand ergriff. »Ich möchte nur wissen, wo die Kränkung steckt? Wie kommen Sie dazu, mir Moral zu predigen? Leontij beklagt sich doch nicht, kein Wort sagt er; ich habe ihm mein Leben geopfert, mich ihm ganz hingegeben; er ist so ruhig, so zufrieden, und wünscht sich gar nichts weiter. Was für ein Leben aber führe ich, ohne alle Liebe! Wo fände er noch eine zweite Frau, die ihr Leben so an das seinige knüpfen würde?«

»Er liebt Sie aufrichtig!«

»Reden Sie doch nicht! Was weiß er von Liebe! Nicht ein Wort spricht er, das von Liebe handelt: macht nur große Augen und guckt mich an, das ist seine ganze Liebe! Ein richtiger Klotz! Nur für seine Bücher lebt er, hat ewig die Nase darin stecken und kümmert sich um nichts anderes. Gut – dann soll er sich bei ihnen auch Gegenliebe suchen! Seine Hausfrau will ich bleiben, doch seine Geliebte« – sie schüttelte energisch den Kopf – »niemals!«

»Das ist ja eine Philosophie ganz neuer Art«, versetzte Raiskij in heiterem Ton. »Liebe und Ehe sind danach zwei ganz verschiedene Dinge: der Gatte ...«

»Der Gatte bekommt seine Kohlsuppe, sein sauberes Hemd, sein weiches Bett, seine Ruhe.«

»Und die Liebe?«

»Die Liebe ... die ist für den da!« sagte sie, schlang plötzlich ihre Arme um Raiskij Hals und schloß ihm den Mund mit einem langen, leidenschaftlichen Kuß.

Er war so bestürzt und überrascht, daß er fast seinen Halt verlor. Sie aber ließ ihn nicht los aus ihrer Umarmung, sondern blitzte ihn aus flammenden Augen an und sah mit Wohlgefallen die Wirkung ihres Kusses.

»Hören Sie auf, hören Sie auf«, sagte er, sie verwirrt abwehrend. »Sie vergessen ... ich bin Leontijs Freund, ich habe die Pflicht ...«

Sie verschloß ihm den Mund mit ihrer kleinen Hand, und er ... küßte diese Hand.

›Nein, ich darf nicht ...‹, dachte er und bemühte sich, das römische Profil und die weit geöffneten, funkensprühenden Augen nicht zu sehen. Jetzt ist der Augenblick da, jetzt will ich meinen Stein gegen diese kalte, herzlose Statue schleudern ...‹

Er machte sich aus ihrer Umarmung los, strich sein zerzaustes Haar zurecht, trat einen Schritt zurück und stellte sich in Positur.

»Und die Scham? – Wo ist Ihre Scham geblieben, Uljana Andrejewna?« sagte er schroff.

»Die Scham ... die Scham ...«, flüsterte sie tief errötend und barg ihren Kopf an seiner Brust, »die Scham will ich in Küssen ersticken!«

Sie preßte wieder und immer wieder ihre Lippen auf seine Wangen.

»Lassen Sie mich! Kommen Sie zur Besinnung!« sagte er streng. »Wenn sich im Hause meines Freundes ein Dämon eingenistet hat, so will ich als Schutzengel über seinem Frieden wachen.«

»Reden Sie nicht, oh, reden Sie nicht so schreckliche Worte!« rief sie fast stöhnend. »Wie kommen Sie dazu, mich zur Scham zu rufen? Jeder andere ... ja! Aber Sie? Haben Sie denn vergessen? Oh, mir ist so entsetzlich zumute, dieser Schmerz! Ich werde krank, ich werde sterben! Ich hab's schon über, dieses Leben, diese schreckliche Langeweile hier!«

»Stehen Sie auf, fassen Sie sich. Vergessen Sie nicht, daß Sie eine Frau sind«, sagte er.

Sie schmiegte sich noch leidenschaftlicher, fast krampfhaft, an ihn an und barg ihren Kopf an seiner Brust.

»Ach«, sagte sie, »warum, warum ... müssen Sie mir das sagen? Sie, Boris, mein lieber Boris ... warum?«

»Lassen Sie mich los! Ich ersticke in Ihrer Umarmung!« sagte er. »Ich habe das heiligste Gefühl: das Vertrauen eines Freundes, verraten. Möge diese Schande auf Ihr Haupt kommen!«

Sie zuckte zusammen, nahm plötzlich den Schlüssel aus der Tasche, den sie von der Tür abgezogen hatte, und warf ihn Raiskij vor die Füße. Dann sanken ihre Arme schlaff herab, und während sie mit trübem Blick, wie geistesabwesend, Raiskij ansah, stieß sie ihn heftig zurück. Ihr Auge irrte durchs Zimmer, ihre beiden Hände fuhren nach dem Kopf, und plötzlich stieß sie einen so jähen Schrei aus, daß Raiskij heftig erschrak und sein Unterfangen, das schlummernde Gefühl der Scham in ihr zu wecken, aufs tiefste bereute.

»Uljana Andrejewna! So fassen Sie sich doch! Kommen Sie zur Besinnung!« sprach er und suchte sie an den Armen festzuhalten. »Ich habe das nur so hingeredet, nur gescherzt, verzeihen Sie mir!«

Doch sie hörte seine Worte nicht, sondern schüttelte ganz verzweifelt den Kopf, riß sich an den Haaren, rang die Hände, krallte sich die Nägel ins Fleisch und schluchzte ohne Tränen.

»Was bin ich? Wo bin ich?« rief sie, mit entsetzten Blicken um sich schauend. »Die Scham ... die Scham ...«, kam es abgerissen aus ihrer Brust, »o mein Gott, die Scham ... ja, sie brennt so – da, da!«

Sie riß sich das Chemisett von der Brust.

Er knöpfte oder riß vielmehr ihr Kleid auf und legte sie auf das Sofa. Sie warf sich hin und her, wie in heftigem Fieber, und schrie, daß man sie auf der Straße hörte.

»Uljana Andrejewna, so kommen Sie doch zu sich!« rief er, vor ihr niederkniend und ihre Hände, ihre Stirn, ihre Augen küssend.

Sie sah ihn wie zufällig an und machte dann große Augen, als sei sie erstaunt, ihn zu sehen. Dann warf sie sich plötzlich krampfhaft zuckend an seine Brust, stieß ihn wieder von sich und rief von neuem:

»Die Scham! Die Scham! Es brennt so ... da, da ... ich ersticke.«

Er begriff in diesem Augenblick, daß, wenn er ihr längst eingeschläfertes Schamgefühl hatte wecken wollen, dies nur ganz allmählich, nur mit größter Schonung hätte geschehen müssen – vorausgesetzt, daß dieses Gefühl überhaupt bei ihr noch vorhanden und nicht schon abgestorben war. ›Es ist wie mit den Trunkenbolden‹, ging's ihm durch den Kopf, ›auch die kann man nur allmählich entwöhnen.‹

Er wußte nicht, was er tun sollte, öffnete die Tür, lief in das Eßzimmer, geriet dann, in seiner Verzweiflung hin und her eilend, in einen dunklen Winkel und gelangte schließlich in den Garten. Von da kam er in die Küche, rief vergeblich nach der Köchin, traf jedoch im ganzen Hause keinen Menschen und eilte, die Türen laut hinter sich zuschlagend, wieder zurück, nachdem er unterwegs eine Karaffe mit Wasser erwischt hatte.

Einen Augenblick schwankte er, ob er sich nicht aus dem Staube machen sollte, doch erschien es ihm grausam, sie in dieser Lage zurückzulassen.

Er kam in das Zimmer zurück, wo sie noch immer sich stöhnend hin und her warf. Das aufgelöste dichte Haar fiel ihr über Brust und Schultern. Er kniete neben ihr, verschloß ihr den Mund, um ihr Stöhnen nicht länger hören zu müssen, mit seinen Lippen und küßte ihre Hände, ihre Augen.

Allmählich verstummte ihr Schreien, sie lag ein paar Minuten wie selbstvergessen da und kam endlich zu sich. Sie richtete den müden, matten Blick auf ihn, fiel ihm dann plötzlich in wilder Raserei um den Hals, preßte ihn leidenschaftlich an sich und flüsterte:

»Sie sind mein ... mein! Sprechen Sie nicht mehr so Entsetzliches zu mir! ›Laß deine Drohung, schilt Tamara nicht!‹« zitierte sie Lermontow mit müdem Lächeln.

›O Gott, was soll ich tun?‹ klang es verzweifelt in seinem Innern.

»Bleiben Sie!« bat sie flüsternd, während sie seinen Kopf wie eingezwängt in ihren Armen hielt: »Sie sind mein!«

Raiskij konnte seinen Kopf in ihren Armen nicht rühren, während er selbst ihren Nacken und Hals in den Händen hielt: die römische Kamee lag ihm gleichsam auf der flachen Hand, in all dem Reiz ihrer flehenden Augen, ihrer halbgeöffneten, glühenden Lippen.

Er konnte den Blick nicht von ihrem Profil losreißen, ein jäher Schwindel befiel ihn. Ihre glühend roten Wangen färbten sich noch tiefer und versengten ihm förmlich die Augen. Sie küßte ihn, und er erwiderte ihren Kuß. Sie umschlang ihn noch leidenschaftlicher, noch heißer und flüsterte kaum hörbar:

»Jetzt sind Sie mein. Niemand sonst soll Sie haben!«

Er schalt nicht mehr, sprach kein einziges »entsetzliches« Wort mehr. Der Donner hörte auf zu rollen.


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