Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Alle Schrecken der Einsamkeit suchten Raiskij heim, seit Wera abgereist war. Er kam sich ganz verwaist vor, die ganze Welt erschien ihm trostlos und öde; er hatte das Gefühl, als befinde er sich in einer dürren Wüste; er übersah ganz, daß diese Wüste in üppigem Blätter- und Blütenschmuck prangte, und fühlte nicht, daß die köstlich warme Sommerzeit, die draußen die Natur in vollem Schmuck erprangen ließ, auch ihn umschmeichelte und umkoste.
Er hatte für nichts mehr Sinn, weder für Tatjana Markownas häusliches Walten, noch für das muntere Wesen Marfinkas, die ihre traulichen Liedchen sang und mit dem frischen Springinsfeld Wikentjew fröhlich plauderte, noch für die Gäste, die sich zuweilen einfanden – die stets komisch wirkende Polina Karpowna, den lärmenden Openkin, die sorgfältig frisierten, elegant gekleideten Damen und die jungen Stutzer: nichts, nichts interessierte ihn. Sie belustigten ihn nicht und langweilten ihn nicht, sie machten ihn weder kalt noch warm – er sah nur immer wieder das eine: daß der lila Vorhang sich nicht bewegte, daß die Fenster Weras drüben im alten Hause dicht verhängt waren und die Bank im Park leer blieb, daß, mit einem Worte, Wera nicht da war, was für ihn soviel hieß, wie, daß niemand und nichts da war, daß das ganze Haus und die ganze Umgegend ausgestorben waren.
Nicht lieben wollte er Wera – und wenn er es selbst gewollt hätte, so hätte er's doch nicht gedurft. Alle Rechte, alle Hoffnungen waren ihm ja genommen. Die einzige zärtliche Bitte, die sie jemals an ihn gerichtet hatte, lautete immer wieder: »Reisen Sie so bald wie möglich ab!« – Und er war doch ganz von dem Gedanken an sie, an sie allein erfüllt, er kannte und sah nichts anderes!
Selbst ihre Schönheit schien die Macht über ihn verloren zu haben – es war eine andere Kraft, die ihn jetzt zu ihr hinzog. Er hatte das Gefühl, daß er nicht durch belebende, vielversprechende Hoffnungen, nicht durch ein erwartungsvolles Beben der Nerven mit ihr verknüpft war, sondern durch ein feindseliges, hirnaufstachelndes Gefühl des Schmerzes, durch Empfindungen und Beziehungen, die eher mit dem Gegenteil der Liebe als mit der Liebe verwandt waren.
Ihn peinigte vor allem jetzt das geheimnisvolle Rätsel: Wie es möglich war, daß sie so plötzlich vor aller Augen aus dem Hause, dem Park verschwinden konnte, um dann plötzlich wieder zu erscheinen, als steige sie vom Grund der Wolga empor, einer Nixe gleich, mit leuchtenden, durchsichtigen Augen, mit diesem Stempel der Unergründlichkeit und der Täuschung im Gesicht, mit der Lüge auf den Lippen – nur der Kranz aus Wasserrosen fehlte noch auf dem Kopf, damit sie einer wirklichen Nixe glich!
Wie schön, wie drohend und berückend schön leuchtete ihm dieses geheimnisvoll strahlende Nachtwesen entgegen!
Aber wenn es nur das gewesen wäre! Doch sie hatte ihm da ein halbes Geständnis abgelegt, daß sie liebe, daß es irgend jemanden hier in der Nähe gebe, der ihrem Leben Inhalt verleihe, der ihr diesen Winkel teuer mache, der diesen Bäumen, diesem Himmel, diesen Fluten in ihren Augen alle Reize gebe.
Kaum hatte sie die geheimnisvolle Tür für einen Augenblick geöffnet, als sie sie auch schon wieder eigenwillig zuschlug und plötzlich verschwand, unter Mitnahme der Schlüssel zu allen diesen Geheimnissen: zu ihrem Charakter, zu ihrer Liebe, zu der ganzen Sphäre ihrer Gedanken und Gefühle, diesem ganzen sonderbaren Leben, das sie führte. Alles, alles hatte sie mitgenommen – und vor ihm stand wieder die einzig verschlossene Tür.
»Alle Schlüssel hat sie mitgenommen!« sprach er ärgerlich für sich, als er sich mit der Großtante über Wera unterhielt.
Tatjana Markowna hatte die Worte gehört und war vor Schreck zusammengefahren.
»Welche Schlüssel hat sie mitgenommen?« fragte sie voll Angst.
Er schwieg.
»So sprich doch!« drängte sie ihn und begann in allen Taschen und Körben zu suchen. »Welche Schlüssel denn? Es scheint doch, daß alle da sind! Marfinka, komm doch einmal her! Welche Schlüssel hat Wera Wassiljewna mitgenommen?«
»Ich weiß es nicht, Tantchen; sie nimmt nie irgendwelche Schlüssel mit, höchstens den Schlüssel von ihrem Schreibtisch.«
»Aber Borjuschka sagt doch, sie habe sie mitgenommen! Sieh einmal nach, und frag auch Wassilissa, ob alle Schlüssel da sind, ob nicht vielleicht diese windige Person, die Marina, die Schlüssel von der Vorratskammer mitgenommen hat. Geh, mach rasch! Warum tust du denn so geheimnisvoll, Boris Pawlowitsch? So sag doch, welche Schlüssel sie mitgenommen hat! Hast du sie gesehen?«
»Ja, ich habe sie gesehen«, sagte Raiskij boshaft. »Sie zeigte sie mir und versteckte sie dann wieder.«
»Wie sehen sie denn aus? Hatten sie einen Bart, oder glichen sie diesem hier?«
Sie zeigte ihm einen Schlüssel.
»Es waren die Schlüssel zu ihrem Geist, ihrem Herzen, ihrem Charakter, ihrem Denken und ihren Geheimnissen.«
Der Großtante fiel eine Last von der Seele.
» Die Schlüssel meinst du!« sagte sie, wurde nachdenklich und seufzte dann. »Ja, deine Allegorie enthält die Wahrheit. Die Schlüssel überläßt sie niemandem. Und doch wäre es besser, wenn sie an Tantchens Gürtel hingen!«
»Warum?«
»Nun, so.«
»Sagen Sie mir, Tantchen – wes Geistes Kind ist eigentlich Wera?« fragte Raiskij plötzlich, während er neben Tatjana Markowna Platz nahm.
»Du siehst es doch selbst. Was soll ich dir's erst sagen? Wie du sie siehst, so ist sie.«
»Ich sehe aber nichts.«
»Uns allen geht es nicht besser. Sie hat ihren Kopf für sich, siehst du, und ihr freier Wille geht ihr über alles. Wehe, wenn Tantchen einmal nach etwas fragt: ›Nein, nein, es ist nichts, ich weiß von nichts, von gar nichts!‹ Von ihrer Geburt an hatte ich sie bei mir, all die Zeit war sie bei mir im Hause, und doch weiß ich nicht, was in ihrem Kopf vorgeht, was sie liebt oder haßt. Selbst, wenn sie krank ist, sagt sie es nicht; klagt nicht, will keine Arznei haben, sondern schweigt nur um so hartnäckiger. Man kann sie nicht gerade faul nennen, und doch tut sie nichts: näht nicht, stickt nicht, treibt keine Musik, macht keine Besuche – sie ist einmal so von Geburt an. Nie habe ich gesehen, daß sie einmal so recht von Herzen lachte, oder daß sie Tränen vergoß. Wenn sie schon das Lachen ankommt, so unterdrückt sie es, als wäre es etwas Sündhaftes. Und sowie ihr etwas Unangenehmes widerfährt, oder irgend jemand sie ärgert, zieht sie sich gleich in ihren Turm zurück und macht ihren Kummer, ihre Freude ganz mit sich allein ab. So ist sie, siehst du!«
»Aber das ist doch nur zu loben! Sie hat Charakter, hat ihren eigenen Willen, hat Selbstbewußtsein! Das sind doch bei einem jungen Mädchen sehr schätzbare Eigenschaften!«
»Ich danke! Wozu braucht ein junges Mädchen seinen eigenen Willen? Bestärke sie nicht noch darin, Boris Pawlowitsch, ich bitte dich sehr darum. Du bist doch ein verständiger, guter, ehrenhafter Mensch, und du wünschst den beiden Mädchen sicherlich alles Gute, mitunter aber platzt du mit etwas heraus.«
»Womit bin ich denn schon herausgeplatzt, Tantchen?«
»Womit? Hast du nicht Marfinka den Rat gegeben, sie solle, wenn sie jemanden liebgewinnt, nicht erst lange die Tante fragen? Überleg einmal, ob das recht gehandelt war! Ich hätte das von dir nicht erwartet! Wenn du dich auch meiner Botmäßigkeit entzogen hast, so brauchst du darum noch nicht dem armen Mädchen den Kopf zu verwirren.«
»Ach, Tantchen, was für eine herrschsüchtige Frau Sie doch sind. Immer wollen Sie recht haben! Wie oft haben wir schon miteinander darüber gestritten, daß es keine Liebe auf Kommando gibt.«
»Sieh, Borjuschka, darauf hätte dir nun Nil Andrejitsch die richtige Antwort gegeben – ich vermag's nicht. Leider haben wir den aus dem Hause geworfen. Ich weiß nur so viel, daß du Unsinn redest, nimm mir's nicht übel! Sind das am Ende die neuen Prinzipien?«
»Ja, Tantchen, das sind sie; die alte Zeit ist vorüber, sie kann nicht wieder von vorn beginnen. Auch das Neue muß doch einmal an die Reihe kommen!«
»Sie scheint ja sehr merkwürdig auszusehen, deine neue Zeit!«
»Urteilen Sie selbst, Tantchen. Die Zeit der Liebe ist gleichsam der Frühling im Leben eines Mädchens. Und nun wird solch einem jungen Wesen die Möglichkeit des freien Aufblühens genommen, man schließt es ab, entzieht ihm die frische Luft, pflückt seine Blüten von den Zweigen. Mit welchem Recht wollen Sie beispielsweise Marfinka zwingen, nach Ihrem Rezept glücklich zu werden, und nicht nach ihrer eigenen Neigung und Wahl?«
»So frag doch einmal Marfinka, ob sie glücklich sein wird, und ob ihr überhaupt ein Glück erstrebenswert scheint, zu dem die Tante nicht ihren Segen gibt.«
»Ich habe sie schon gefragt.«
»Nun, und?«
»Ohne Sie, sagt sie, tut sie keinen Schritt.«
»Da siehst du es!«
»Ja – ist denn das in der Ordnung? Wo bleibt denn da die Freiheit, das Recht? Sie ist doch ein denkendes Wesen, ein Mensch – wie kann man ihr denn einen fremden Willen, ein Glück, das sie gar nicht haben will, aufzwingen wollen?«
»Wer zwingt ihr denn etwas auf? So frage sie doch einmal! Als ob ich sie hier beide unter Verschluß hielte, als ob sie nicht lebten wie die Vögel in der Luft und tun könnten, was ihnen gefällt.«
»Ja, Tantchen, das ist richtig«, bekannte Raiskij offen, »in dieser Hinsicht haben Sie recht. Nicht Furcht und Autorität ist in Ihrem Verhältnis zu ihnen maßgebend, sondern die warme Zärtlichkeit eines Taubennestes. Und beide vergöttern Sie auch, gewiß. Aber dennoch fehlt da etwas in Ihrem Erziehungssystem. Warum wollen Sie ihnen durchaus diese veralteten Anschauungen einimpfen und sie großziehen wie die Vögel im Käfig? Lassen Sie sie doch selbst ein klein wenig Erfahrung sammeln im Leben. Solch ein Vogel, der immer nur im Käfig eingeschlossen war, entwöhnt sich des freien Fluges, und wenn man ihm dann das Pförtchen öffnet, wagt er sich nicht hinaus. Das habe ich auch zu unserer Kusine Belowodowa gesagt: dort ist die eine Art von Unfreiheit, hier die andere.«
»Ich habe weder Marfinka noch Werotschka irgend etwas eingeimpft; von Liebe war noch nie auch nur mit einer Silbe die Rede, ich fürchte mich, daran auch nur zu tippen; das aber weiß ich, daß Marfinka ohne meinen Rat und meinen Segen niemals ihr Herz verschenken würde.«
»Das will ich wohl glauben«, sagte Raiskij nachdenklich.
»Und wenn du, oder sonst jemand, sie zu dieser Freiheit der Liebe bekehren und sie sich danach richten sollte, dann ...«
»Dann würde sie das unglücklichste Geschöpf werden – gewiß, Tantchen, das will ich glauben; und wenn Marfinka Ihnen das Gespräch mitgeteilt hat, das ich über diesen Punkt mit ihr hatte, dann hätte sie Ihnen auch sagen sollen, daß ich ihren Standpunkt billigte und ihr den Rat gab, stets auf Sie und auf Vater Wassilij zu hören.«
»Auch das weiß ich. Alles habe ich mir von ihr wiedererzählen lassen, und ich sehe, daß du nur ihr Gutes willst. Laß sie also in Ruhe, rede ihr nichts ein, sonst kommt es schließlich darauf hinaus, daß nicht ich, sondern du ihr ein Glück aufzwingen willst, das sie gar nicht mag, und daß der Vorwurf des Despotismus, den du mir machst, auf dich zurückfällt. Glaubst du vielleicht«, fuhr sie nach kurzer Pause fort, »wenn irgendein reicher Mann von gutem Herkommen, von Rang und Stand sich um Marfinkas Hand bewerben, ihr aber mißfallen sollte – daß ich dann auch nur einen Augenblick daran denken würde, sie umzustimmen?«
»Nun gut, Tantchen, ich will Ihnen Marfinka gern abtreten – aber dafür lassen Sie mir Wera in Ruhe! Marfinka und Wera sind grundverschieden! Wenn Sie bei Wera dasselbe System versuchen sollten, würden Sie sie unglücklich machen.«
»Wer – ich?« fragte die Großtante. »Sie täte gut daran, nicht so stolz zu sein und mehr Vertrauen zur Tante zu haben. Vielleicht würden wir auch noch Verstand genug haben, um ein anderes System anzuwenden.«
»Tun Sie ihr nur keinen Zwang an, lassen Sie ihr ihren Willen. Es gibt Vögel, die für den Käfig geboren scheinen, und andere, die nur in der Freiheit leben können. Sie wird ihr Schicksal schon selbst zu lenken wissen.«
»Tu ich ihr denn Zwang an? Lege ich ihr denn etwas in den Weg? Sie vertraut mir nicht, sie versteckt sich, schweigt, lebt ganz nach ihrem Kopf. Ich wage es nicht einmal, bei ihr nach den Schlüsseln zu fragen – und du scheinst dir deshalb Kopfschmerzen zu machen?«
Sie sah ihm forschend ins Gesicht.
Raiskij errötete, als die Großtante ihm plötzlich so schlicht und klar bewies, daß ihr ganzer »Despotismus« auf der Grundlage mütterlicher Zärtlichkeit und unermüdlicher Sorge um das Glück ihrer geliebten Waisen beruhte.
»Ich sehe nur immer wie ein Polizeimeister darauf, daß draußen auf der Straße alles in Ordnung ist, in die Häuser gehe ich nicht hinein, solange man mich nicht hineinruft«, fügte Tatjana Markowna hinzu.
»Ei nun, das ist ja das Ideal, die Krone der Freiheit! Tantchen! Tatjana Markowna! Sie stehen auf dem Gipfel der geistigen, sittlichen und sozialen Entwicklung! Sie sind in jeder Beziehung ein fertiger, vollendeter Mensch! Und Sie haben dieses Ziel ganz mühelos erreicht, während unsereins sich endlos quält, um zu ihm emporzuklimmen. Schon einmal habe ich mich vor Ihrer Frauenwürde gebeugt – ich tue es nun zum zweiten Male und erkläre mit Stolz: Sie sind groß!«
Sie schwiegen beide.
»Sagen Sie, Tantchen, was für eine Popenfrau ist denn das, mit der Wera verkehrt, und was für Beziehungen bestehen zwischen ihnen?« fragte Raiskij.
»Du meinst Natalja Iwanowna, die Frau des Priesters? Sie waren zusammen in der Pension und haben sich dort befreundet. Wir haben sie oft hier zu Besuch. Sie ist eine gute, brave Frau, und so bescheiden.«
»Wie kommt es, daß Wera ihr so zugetan ist? Sie scheint eine geistig hervorragende, charaktervolle Person zu sein?«
»Oh, nicht im geringsten – was heißt da Charakter? Sie ist nicht dumm, hat gut gelernt, liest viele Bücher und kleidet sich gern nett. Ihr Mann, der Geistliche, hat eine gute Stelle. Michailo Iwanytsch, sein Patron, hat ihn gern – er lebt für einen Popen so recht aus dem vollen. An nichts fehlt es ihm, weder an Getreide noch sonst an was; Wagen und Pferde hat er ihm geschenkt, ja, er schickt ihm sogar Zimmergewächse aus seiner Orangerie. Der Pope ist ein kleiner Mensch, einer von den ›Jungen‹ – nur daß er sich schon gar zu weltlich benimmt, er hat das so von seinem Verkehr mit den Gutsbesitzern an sich. Französische Bücher liest er sogar, und raucht auch, was eigentlich zu seinem Meßgewand wenig paßt.«
»Nun, und die Frau des Geistlichen? Sagen Sie, warum ist Wera ihr so zugetan, wenn sie, wie Sie sagen, nicht einmal Charakter besitzt?«
»Darum eben hängt sie ihr so an, weil sie keinen Charakter besitzt.«
»Wie denn? Kann man einen Menschen deshalb lieben?«
»Allerdings. Hast du das noch nicht beobachtet? Und dabei wolltest du mir doch Belehrungen geben! Ja, so ist's wirklich.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Nun – der Starke liebt eben niemals den Starken; wenn zwei Starke zusammenkommen, gehen sie aufeinander los wie die Ziegenböcke und bearbeiten sich gegenseitig mit den Hörnern. Ein Starker aber und ein Schwacher – die vertragen sich miteinander recht gut. Dieser liebt jenen um seiner Stärke willen, und jener ...«
»... liebt diesen um seiner Schwäche willen, wie?«
»Ja, um seiner Nachgiebigkeit, seiner Anhänglichkeit willen – darum, daß er sich ihm stets unterordnet.«
»Ganz recht, Tantchen, Sie sind wirklich eine Weise! Ich entdecke jetzt, daß ich hier in ein Heiligtum der Weisheit geraten bin. Ich will mir's nicht mehr beikommen lassen, Tantchen, Sie ummodeln zu wollen, ich will fortan Ihr gehorsamer Schüler sein; nur um eins bitte ich Sie: geben Sie es auf, mich zu verheiraten. In allen übrigen Dingen will ich stets auf Sie hören. Nun, also – wes Geistes Kind ist diese Popenfrau?«
»Sie ist ein gutmütiges, verträgliches Hühnchen, schwatzt in einem fort, singt, flüstert gern, namentlich mit Wera; ein ewiges Flüstern ist das, und immer ins Ohr. Und Wera – die hört nur zu und schweigt, nickt höchstens einmal mit dem Kopf oder läßt ein Wort fallen. Ein Blick von Werotschka, eine Laune von ihr ist ihr heilig. Nur was Wera sagt, ist verständig, ist gut. Und das gerade ist's, was Wera braucht; nicht eine Freundin will sie haben, sondern eine gehorsame Sklavin. Dazu gibt sich jene her – und darum eben hat Wera sie so gern. Sowie Wera mit etwas unzufrieden ist, bekommt Natalja Iwanowna eine Heidenangst, bittet gleich: verzeih nur, mein Seelchen, mein Herzchen, küßt sie auf die Augen, auf den Hals – und jene nimmt es hin, als müsse es so sein.«
›So liegen die Dinge!‹ dachte Raiskij bei sich. ›Dieser stolze und unabhängige Charakter will Sklaven um sich sehen! Und dabei redet sie von Freiheit und Gleichheit und will nichts davon wissen, daß ich ihr den Hof mache. Warte, meine Liebe!‹
»Aber Wera liebt doch auch Sie, Tantchen?« fragte Raiskij, der darauf hinaus wollte, zu erfahren, ob Wera noch für jemand anders als Natalja Iwanowna zärtliche Empfindungen hege.
»Gewiß liebt sie mich!« sprach die Großtante in zuversichtlichem Ton. »Nur eben auf ihre Weise. Sie zeigt es nie und wird es nie zeigen. Und dennoch liebt sie mich und ist imstande, für mich durchs Feuer zu gehen.«
›Wer weiß – vielleicht liebt sie auch mich und will es nur nicht zeigen!‹ suchte Raiskij sich zu trösten, doch gab er diese Möglichkeit sogleich wieder als völlig ausgeschlossen auf.
»Woher wissen Sie denn, daß sie Sie liebt, wenn sie es Ihnen nicht sagt?«
»Ich weiß nicht, was ich dir antworten soll; jedenfalls hat sie mich lieb.«
»Und Sie lieben sie wieder?«
»Ob ich sie liebe!« sagte die Großtante halblaut. »Ach, und wie ich sie liebe!« fügte sie mit einem Seufzer hinzu, und die Tränen traten ihr fast in die Augen. »Sie weiß es nicht einmal, wie sehr. Doch vielleicht erfährt sie es noch.«
»Haben Sie nicht bemerkt, daß Wera seit einiger Zeit so merkwürdig nachdenklich ist?« fragte Raiskij zögernd, in der stillen Hoffnung, daß ihm vielleicht die Großtante eine Antwort auf die ihn quälende Frage, von wem der blaßblaue Brief sei, geben könnte.
»Ist dir etwas aufgefallen?«
»Das nicht gerade ... ich weiß ja nicht, wie sie sonst war, nur kam es mir so vor.«
»Ich müßte sie nicht lieben, wenn ich es nicht bemerkt haben sollte. So manche Nacht schon habe ich schlaflos gelegen und mich mit dem Gedanken herumgequält, warum sie eigentlich seit dem Frühjahr so sonderbar geworden ist. Bald ist sie heiter und vergnügt, bald ganz in sich versunken; so launisch ist sie oft, und manchmal sogar aufbrausend. Es ist eben Zeit, daß sie heiratet!« sagte die Tante, mehr vor sich hin. »Ich fragte den Arzt, der schob alles auf die Nerven; die Nerven müssen jetzt immer als Vorwand dienen. Was heißt überhaupt Nerven? Früher wußten die Ärzte gar nichts von Nerven. Da hieß es einfach: das Kreuz tut einem weh, oder man hat Schmerzen in der Herzgrube, und danach wurde die Kur eingerichtet. Jetzt aber müssen die Nerven für alles herhalten. Wenn dazumal einer verrückt wurde, sagte man einfach: er hat den Verstand verloren, vor lauter Kummer, oder weil er zu viel trank, oder aus sonst einem Grunde, und jetzt heißt es: sein Gehirn ist erweicht.«
»Ist sie nicht am Ende verliebt?« versetzte Raiskij halblaut, bereute aber schon im nächsten Augenblick, das Wort ausgesprochen zu haben. Es war, als hätte er der Großtante einen Stoß gegen die Stirn versetzt.
»Um Gottes willen!« rief sie und bekreuzigte sich, als wäre ein Blitz vor ihr niedergefahren. »Der Kummer hätte gerade noch gefehlt!«
»Was reden Sie da von Kummer! Was ihr Glück ausmacht, bereitet Ihnen Kummer!«
»Treib damit keinen Scherz, Borjuschka! Du hast selbst vorhin gesagt, Wera sei nicht das, was Marfinka ist. Solange Wera nur ihre Launen hat und schweigt und vor sich hinbrütet ohne tieferen Grund – solange ist die Sache nicht gefährlich. Aber sobald erst die Schlange der Liebe sich in ihr Herz geschlichen hat, wird mit ihr nicht auszukommen sein! Diesen ›Schröpfkopf‹ wünsche ich nicht einmal dir, um wieviel weniger meinen Mädchen. Wie kommst du eigentlich darauf? Hast du mit ihr über diese Frage gesprochen, oder hast du irgend etwas bemerkt? Sag mir nur alles, alles, mein Lieber!« fügte sie in flehendem Ton hinzu und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Nicht doch, Tantchen, beruhigen Sie sich nur, um Gottes willen! Ich bin nur so mit der Tür ins Haus gefallen, wie Sie zu sagen pflegen, und Sie sind gleich ängstlich geworden, wie neulich, als ich von den Schlüsseln sprach.«
»Ja, diese Schlüssel«, fiel die Großtante, das Wort voll Eifer ergreifend, ihm in die Rede, »diese Allegorie, was hat sie zu bedeuten? Du sprachst von dem Schlüssel zu ihrem Herzen – was meintest du damit, Boris Pawlowitsch? Beunruhige mich nicht unnütz, sag mir alles ganz offen, wenn du irgend etwas weißt.«
Raiskij ärgerte sich über seine eigene Voreiligkeit und war bemüht, die Großtante auf jegliche Weise zu beruhigen, was ihm zum Teil auch gelang.
»Ich habe nichts weiter bemerkt, als was auch Sie beobachtet haben«, sagte er. »Und wie können Sie glauben, daß sie mir etwas anvertrauen wird, was sie vor Ihnen allen verbirgt? Ich wußte ja nicht einmal, wohin sie immer fährt, und was für eine Popenfrau das ist – ich fragte sie und fragte sie immer wieder und bekam nicht ein Wort aus ihr heraus. Erst von Ihnen erfuhr ich, um was es sich handelt.«
»Nein, nein, sie sagt nichts, das stimmt – nichts ist aus ihr herauszubekommen!« fügte Tatjana Markowna beruhigt hinzu. »Kein Wort verrät sie! Und diese Schwätzerin, die Popenfrau, erfährt alles von ihr, aber sie stirbt lieber, als daß sie Weras Geheimnisse preisgibt. Über sich selbst plaudert sie alles aus, doch von dem, was Wera ihr anvertraut, kommt nicht eine Silbe über ihre Lippen!«
Sie schwiegen beide.
»In wen hätte sie sich auch hier verlieben sollen?« fuhr die Großtante nachdenklich fort. »Es ist ja niemand da, der sie interessieren könnte.«
»Wirklich niemand?« fragte Raiskij lebhaft. »Kein Mensch in der ganzen Stadt und Umgegend?«
Tatjana Markowna schüttelte den Kopf.
»Höchstens der Forstmeister«, sprach sie nachdenklich, »ein trefflicher Mensch! Ich glaube, er interessiert sich für sie. Es wäre für Wera eine sehr gute Partie ... ja.«
»Nun, und?«
»Sie ist so wunderlich. Es scheint, daß er es nicht wagt, sich ihr zu nähern, um sie zu werben. Doch ist's ein prächtiger Mensch, so solide, und reich dabei, allein an Wald hat er an einige Tausend Deßjatinen.«
»Der Forstmeister!« wiederholte Raiskij. »Was für ein Forstmeister denn? Was für ein Mensch ist er sonst – jung, gebildet, repräsentabel?«
Wassilissa trat in diesem Augenblick ins Zimmer und meldete, daß Polina Karpowna vorgefahren sei und fragen lasse, ob Boris Pawlowitsch Lust habe, an ihrem Porträt weiterzuarbeiten.
»Nicht einmal ein Weilchen plaudern kann man ... muß die der Teufel reiten!« brummte die Großtante vor sich hin. »Wir lassen bitten. Sorg dafür, daß das Frühstück bald fertig ist!«
»Lassen Sie ihr doch sagen, Tantchen, wir könnten heute nicht empfangen! Richte ihr doch aus, Wassilissa, ich würde an dem Porträt nicht weitermalen, bis Wera Wassiljewna wieder zu Hause wäre.«
Wassilissa ging hinaus, kehrte jedoch sogleich wieder zurück.
»Sie läßt Sie herausbitten«, sagte sie zu Raiskij, »sie will nicht aus dem Wagen steigen.«