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I

Raiskij hielt sich zwar nicht gerade für einen der allermodernsten Köpfe, aber ebensowenig für einen rückständigen Philister. Er erklärte offen, daß er an den Fortschritt glaube, ja er äußerte sogar seinen unverhohlenen Ärger über das »Schildkrötentempo«, in dem sich dieser Fortschritt vorwärtsbewegte. Dabei hatte er es jedoch durchaus nicht eilig damit, sich in irgendein kaum in den Umrissen erkennbares »Jahrzehnt« einrubrizieren zu lassen und leichten Herzens auf alle Überzeugungen, Beobachtungen und Erfahrungen zu verzichten, die durch die Geschichte überliefert, durch die Wissenschaft errungen oder durch die Praxis des eigenen Lebens erworben waren, um an ihre Stelle das kaum empordämmernde Morgenrot irgendwelcher scheinbar neuen Ideen und mehr oder weniger glänzenden oder scharfsinnigen Hypothesen zu setzen, auf die sich die Jugend in heißer Gier stürzte. Er pflegte auf seine Jahre hinzuweisen und sagte, daß für ihn die Zeit des vorsichtigen Abwartens gekommen sei: dort, wo die Phantasie ihn nicht mit fortriß, trottete er geduldig hinter seinem Zeitalter her.

Er interessierte sich für den allgemeinen Gang und die Entwicklung der Ideen, der Triumphe der Wissenschaft, doch er wartete erst sichere Resultate ab, machte keine Luftsprünge mit, beeilte sich nicht, den neuen Glauben anzunehmen, der die Geister mit allen möglichen waghalsigen Spekulationen lockte.

Er hieß jeden kühnen Schritt auf dem Gebiete der Kunst willkommen, freute sich aller neuen Erfindungen und Entdeckungen, die das alte Leben zwar ummodelten, aber doch nicht zerbrachen, begrüßte jedes neue, auf natürliche Weise, ohne Anwendung von Gewalt hervortretende Bedürfnis, wie er das junge Grün des Frühlings begrüßte, hegte jedoch dabei durchaus keine unfruchtbare, undankbare Feindschaft gegen die abgetane Ordnung der Dinge und die absterbenden Elemente, glaubte vielmehr fest an ihre historische Notwendigkeit und ihren engsten Zusammenhang mit dem jungen Frühlingsgrün, so neu und frisch sich dieses auch präsentierte.

Wenn er daher jetzt in der Hitze des Gefechts gelegentlich eine »Bombe« in das Lager der starrsinnigen alten Zeit warf und bei seinem Eintreten für die Idee der Menschlichkeit aller despotischen Willkür und altbojarischen Selbstsucht entgegentrat, so haftete doch seiner Kriegführung, soweit sie sich gegen Tatjana Markowna wandte, ein Zug von Gutmütigkeit und Versöhnung an, da er sah, daß hinter den eingelernten alten Maximen sich ein reichliches Maß von gesundem Menschenverstand und Lebensklugheit barg, daß in ihnen die Keime derselben Elemente enthalten waren, aus denen auch die neue Zeit ihre Lebensauffassung aufbaute, und daß diese Keime dort, in der alten Ordnung der Dinge, nur durch das Unkraut der Vorurteile überwuchert und niedergehalten waren.

Als er nun in Wera ganz unerwartet diese Kühnheit des Verstandes, diese Freiheit des Geistes, diesen starken Drang nach dem Neuen entdeckte, war er zuerst verwundert, dann durch diese seltene Verbindung äußerer und innerer Schönheit in hohem Maße entzückt und endlich, als sie es abgelehnt hatte, als »weise« zu gelten, sogar ein wenig befremdet. »Ich bin kein weises Mädchen!« hatte sie gesagt, und ein Schauer hatte sie dabei überlaufen. Und er hatte sie »wunderlich« gefunden und sich seine Gedanken über sie gemacht.

Nein, das war kein schlichtes, harmloses Kind, wie Marfinka, und auch kein »gnädiges Fräulein«. Sie fühlte sich beengt und unbehaglich in dieser veralteten, verschrobenen Lebensform, in die das geistige Leben, die Sitten, die ganze Bildung und Erziehung der jungen Mädchen bis zu ihrer Verheiratung seit so langer Zeit gepreßt worden waren.

Sie fühlte die Verlogenheit dieser Lebensform und suchte sich ihr im ehrlichen Ringen nach Wahrheit zu entwinden. Er fand in Wera viel von dem, was er vergeblich in Natascha, in der Belowodowa gesucht hatte: Geist, Selbständigkeit, Eigenart des Denkens wie des Charakters – kurz alle jene Kräfte, die den Typus des neuen, echten, selbstbewußten Weibes gestalten, die seinem eigenen Leben wie dem Leben der andern die Richtung geben und dem ganzen Kreise, in den das Schicksal es gestellt, Licht und Wärme bringen sollten.

Noch war Wera fast ein Kind, doch ein Kind mit titanischen Kräften. Es kam nur darauf an, daß diese Kräfte richtig entwickelt und vernünftig geleitet wurden.

Raiskij hätte seine ganze Kraft daran wenden mögen, um ihr die Erreichung ihres Zieles zu erleichtern, hätte mit Begeisterung die Saat seines Wissens, seiner Erfahrungen und Beobachtungen auf einen so fruchtbaren und dankbaren Boden ausstreuen wollen. Das wäre kein »Phantom« gewesen, sondern ein Triumph des menschlichen Geistes und die Erfüllung einer Pflicht, die uns allen obliegt, ohne die ein Fortschritt undenkbar ist.

Doch ach, welche Hindernisse traten ihm da entgegen! Sie leistete ihm Widerstand, versteckte sich vor ihm, verschanzte sich hinter ihr Recht, hinter die Wand ihrer Jungfräulichkeit – sie will also nichts von seiner geistigen Hilfe wissen. Und dabei ist sie doch unzufrieden mit ihrer Lage, sehnt sich aus ihr heraus, hat also ein Bedürfnis nach einer anderen Luft, nach anderer Nahrung, anderen Menschen. Wo sind diese Menschen? Wer soll ihr die neue Luft, die neue Nahrung gewähren?

Er ist ihr Verwandter, ihr natürlicher Beschützer, er hat somit ein Recht darauf, ihr gegenüber diese autoritative Rolle zu spielen. Auch die Großtante hatte ja geschrieben, daß sie ihm diese Rolle zuweise.

Wera ist wohl ein verständiges Mädchen, doch er ist erfahrener und kennt das Leben. Er kann sie vor groben Irrtümern bewahren, kann sie Lüge und Wahrheit unterscheiden lehren; er wird, als Denker wie als Künstler, seine erzieherische Arbeit an ihr verrichten, wird ihrem Freiheitshunger Nahrung geben, ihr die Ideen des Guten und Wahren vermitteln, wird als Künstler sich bemühen, die innere Schönheit ihres Wesens ans Tageslicht zu fördern. Er wird ihr Schicksal, ihre Lebensaufgabe erraten und ... und ... mit ihr gemeinsam an deren Erfüllung arbeiten. »Mit ihr gemeinsam«, das war es, wonach sein Wunsch ging. Diesem Wunsche zu entsagen, war ihm unmöglich, seine Absicht war somit nicht selbstlos – und das war das zweite der Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten.

Und noch ein drittes Hindernis war vorhanden: er sah es erst noch ganz im Nebel, erriet es erst halb und halb, doch schien es tatsächlich vorhanden zu sein und die Sachlage ganz besonders schwierig zu gestalten. Es war der Umstand, daß schon irgend jemand ihm zuvorgekommen war, daß sie bereits einen andern dazu ausersehen hatte, ihr Schicksal zu erraten und »mit ihr gemeinsam« an der Erfüllung ihrer Lebensaufgabe zu arbeiten.

›Das ist das Fatalste an der Sache!‹ sagte er sich und zog den Schluß, daß es für ihn das Vernünftigste wäre, ohne erst lange Erklärungen, ohne erst die Bestätigung seiner Vermutung über das Vorhandensein dieses Mitbewerbers abzuwarten, auf ihre Freundschaft zu verzichten und sich aus dem Staube zu machen.

Wenn irgendein unschuldiger Junge vom Schlage Wikentjews sich etwas vormachen ließ, so wäre das wohl verzeihlich gewesen. Ihm dagegen, dem welterfahrenen, herzenskundigen Lebemann, ziemte es zu wissen, daß alle diese verliebten Schwärmereien, Tränen und zärtlichen Gefühle nichts weiter sind als die Blumen, hinter denen sich Satyr und Nymphe verstecken.

Die Folgen sind immer dieselben: Jedermann weiß, daß dies alles spurlos vorübergeht, wenn Satyr und Nymphe sich nicht in Mann und Frau verwandeln oder auf Lebenszeit Freunde werden.

›Aber meine Nymphe will mich doch nun einmal nicht zu ihrem Satyr wählen‹, sagte er sich mit einem stillen Seufzer, ›also ist's auch nichts mit der Hoffnung auf eine Verwandlung in Mann und Frau, auf Glück, auf einen langen, gemeinsamen Lebensweg. Und was ihre Schönheit betrifft: nun, mit der werde ich mich schon abfinden, die soll mir nichts weiter anhaben.‹

In den Morgenstunden fühlte er sich immer ganz besonders frisch und kampfesmutig. Der Morgen verleiht Kräfte, bringt einen ganzen Schwall von Hoffnungen, Einfällen und guten Vorsätzen für den ganzen Tag. Man geht am Morgen entschlossener an die Arbeit, nimmt die Bürde des Lebens mutiger auf die Schultern.

Auch Raiskij fühlte diese Wirkung der Morgenstunden. Der Gedanke an Wera quälte ihn um diese Zeit weniger als sonst. Der neue Tag brachte neue Gedanken, brachte Begegnungen mit den Hausgenossen, mit neuen Menschen, brachte den erfrischenden Gang durch die Fluren, Zeitungen, neue Bücher, er mahnte ihn an den Roman, an dem er schrieb. Alles das verschaffte ihm Zerstreuung.

Gegen Abend laufen dann all die Fäden der Tageserlebnisse in einen Knoten zusammen, und mehr oder weniger bewußt zieht jeder die Summe des Erlebten. Wenn Raiskij am Abend diese Tagesbilanz aufstellte, mußte er feststellen, daß von allen Gedanken, Wünschen, Empfindungen, Unterhaltungen und Eindrücken des Tages ihm nichts übrigblieb als einzig und allein – Wera. Voll Ärger und Unwillen wälzte er sich auf seinem Lager und schlief schließlich mit dem einen Gedanken ein, um mit demselben Gedanken zu erwachen.

›Ich bedarf der Tätigkeit, der Beschäftigung‹, sagte er sich. Und da er keine wirkliche Tätigkeit hatte, warf er sich auf allerhand »Phantome«: er fuhr mit der Großtante zur Heuernte, besichtigte die Haferfelder, machte lange Spaziergänge, begleitete Marfinka ins Dorf, studierte die Lage der Bauern, machte Lustfahrten auf der Wolga oder Besuche in Koltschino bei Wikentjews Mutter, ging mit Mark auf den Fischfang oder die Jagd, stritt sich mit ihm herum und vertrieb sich die Zeit mit allerhand sonstiger Kurzweil.

›Ich muß mich beherrschen lernen, muß das Versprechen, das ich Wera gegeben, erfüllen‹, dachte er und sah sie bisweilen drei, vier Tage lang nicht.

Sie ließ sich den Kaffee auf ihr Zimmer bringen, er war häufig zum Mittagessen nicht zu Hause, und so ging alles bestens vonstatten.

Auch sonst suchte er seine Gedanken auf alle mögliche Weise abzulenken. Er hatte eines Tages irgendwo in einem Fenster in der Vorstadt einen hübschen Frauenkopf bemerkt und sich vor der Unbekannten lächelnd verneigt. Sie hatte gleichfalls gelächelt und war dann verschwunden. Er brachte in Erfahrung, daß sie die Tochter irgendeines Aufsehers sei, was für eines Aufsehers, konnte er nicht herausbekommen, es gibt bei uns in Rußland gar zuviel Arten von Aufsehern. Jedenfalls aber konnte er feststellen, daß dieser Aufseher es mit der Beaufsichtigung seiner Tochter nicht genau nahm; denn wie er alsbald bemerkte, beglückte sie noch manchen andern, der an ihrem Fenster vorüberkam, mit ihrem holden Lächeln. Er warf ihr eine Kußhand zu, und sie verneigte sich dankend. Zwei- oder dreimal hielt er, wenn er vorüberschritt, an ihrem Fenster, begann ein Gespräch mit ihr und versicherte ihr, daß er sie sehr hübsch finde und bis über die Ohren in sie verliebt sei.

»Ach, Sie schwi-indeln ja!« versetzte sie, die Worte langdehnend. »Ich glaube Ihnen nicht! Ihr Männer seid alle schlecht!«

»Wirklich – alle?«

»Gewiß doch! Die Männer! Wie viele waren schon bei mir – ich kenne sie! Nein, mich werden Sie nicht betrügen! Machen Sie, daß Sie weiterkommen!«

Lange noch belustigte ihn diese durch Erfahrung erworbene Weisheit der braven Bürgerstochter.

Aus allen Kräften arbeitete er so an dem Werke der Selbstüberwindung, ohne sich die Frage vorzulegen, was eigentlich der treibende Grund seines Eifers war: ob die aufrichtige Absicht, Wera in Ruhe zu lassen und seiner Wege zu gehen, oder das Bestreben, ihr ein »Opfer« zu bringen, ihr gegenüber »Großmut« zu üben. Um nun diesem Werk die Krone aufzusetzen, versprach er der Großtante, mit ihr zusammen in der Stadt Besuche zu machen, ja sogar unter den Gästen zu erscheinen, die sie am nächsten Sonntag »zu einer Pastete« besuchen wollten.


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