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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Das entdeckte Geheimnis

»Gute Nacht!« wiederholte Romanowna für sich selbst, »ich sehe wahrhaftig keine Möglichkeit, zu schlafen; es ist mir so warm, und ich werde jedenfalls erst ein wenig im Zimmer auf- und abgehen, um mich abzukühlen.« Und dem Gedanken die That folgen lassend, sprang sie aus dem Bett und lief geraden Weges zum Tisch, auf dem Milnas Brief lag.

»Wenn ich den Brief einmal lesen könnte,« sagte sie zu sich selbst, »dann wüßte ich, was Milna vor mir verbergen will; ach nein, das wäre unrecht; wenn sie mir nicht selbst ihr Geheimnis mitteilt, will ich es auch nicht auf hinterlistige Art erfahren.« Bei diesem Gedanken trat Romanowna einige Schritte zurück.

»Obschon,« fuhr sie nachdenklich fort, »es vielleicht gut für Milna wäre, wenn ich alles wüßte. Wir könnten dann zusammen darüber sprechen, und sie würde mir offen von dem erzählen, was sie bedrückt. Nun, ich will den Brief nur einmal ansehen, und wenn ich dann merke, daß sie Recht hat und daß es sich wirklich um eine Sache handelt, die man nicht erzählen kann, dann ist ja doch nichts verdorben. Ich begrabe das Geheimnis auf ewig in meiner Brust und lasse niemand merken, daß ich etwas davon weiß.« – Mit festen Schritten ging Romanowna wieder an den Tisch und ergriff den Brief; aber ihre Hand zitterte vor Aufregung, als sie ihren Blick über das Schriftstück gleiten ließ, das nicht dazu bestimmt war, von ihr eingesehen zu werden, und noch ehe sie einen Buchstaben gelesen hatte, legte sie den Brief wieder auf seinen alten Platz. Immer und immer wiederholte sich der Streit in ihrem Innern; sie dachte darüber nach, ob es erlaubt oder unerlaubt sei, und mehr als einmal zog sie die Hand wieder zurück, die sie bereits nach dem Briefe ausgestreckt hatte.

Endlich hörte sie im Gange ein Geräusch und nur von dem Gedanken beseelt, daß Milna bald zurückkommen möchte, ergriff sie rasch den Brief und las mit laut klopfendem Herzen das Folgende:

»Simbirsk, ...

Lieber Freund!

Ja, ich bin in Simbirsk, und wie Sie sehen, kann ich also mein Versprechen, noch einmal zu unserm lieben Freund Doktor Dimsdale zu kommen, nicht halten. Der Grund ist Ihnen vielleicht bekannt! Die arme Romanowna fand ihren Vater in dem Augenblick wieder, als er gefangen genommen wurde. Wie schrecklich das für meine liebe Freundin war, kann ich Ihnen kaum sagen, denn es kam noch soviel hinzu, was ihren Schmerz vermehrte. Es ist schrecklich für ein Kind, einen Vater so verurteilen zu hören. Wie sehr verletzt sie jedes rauhe Wort, wie oft sehe ich sie bleich werden und ihre Lippen blutig beißen. Wie kann es auch anders sein? Die Nacht, in der er gefangen genommen wurde und die sie in der kleinen Herberge zugebracht hat, war schrecklich. Sie selbst wäre auch beinahe von der Frau des dummen Wirtes gefangen genommen worden, die sich einbildete, sie könne möglicherweise ein Lösegeld für die Tochter des Aufrührers bekommen. Mit vieler Mühe sind wir von dort fortgekommen, und damals haben wir uns soviel wie möglich beeilt, immer in der Hoffnung, den Gefangenen noch einzuholen, aber das ist uns nicht geglückt. Pugatscheff war schon zehn Tage vor uns hier angekommen und wird sehr streng bewacht. Romanowna hofft morgen Zutritt in das Gefängnis zu erhalten, wenigstens wenn der General Panin ihr ihn verschaffen kann. Soviel ich sehe, ist nicht die geringste Möglichkeit da, daß Pugatscheff entkommen wird, denn der hohe Preis, der auf seinen Kopf gesetzt ist, über den bei seiner Gefangennahme Streit entstand – stellen Sie sich vor, in Romanownas Gegenwart – und die strenge Wache hier im Gefängnis, machen es mehr als wahrscheinlich, daß die Kaiserin jetzt, da er in ihrer Macht ist, nicht sehr sanft mit ihm verfahren werde.

Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie den eigentlichen Zweck meines Briefes besser verstehen können. Der Zweck ist – es schmerzt mich tief, daß ich Sie mit demselben so sehr betrüben muß – Ihnen zu sagen, daß wir uns nicht wiedersehen dürfen, denn sehr bald wird Romanowna allein in der Welt stehen, wenigstens wird sie keine Hilfe und keinen Schutz bei dem Vater finden, für den sie alles aufgeopfert hat. Was sollte sie dann anfangen, wenn ich, nur an mich denkend, sie verlassen wollte? Ich weiß, was Sie antworten werden. Sie werden sagen, daß Sie ein Recht auf mich hätten, weil Sie wissen, daß ich Sie liebe, aber ich weiß ganz sicher, daß Sie im Grunde Ihres Herzens mir Recht geben müssen, wenn ich noch einmal wiederhole: Ich kann die Ihre nicht werden, denn ich habe andere Pflichten zu erfüllen.

Glauben Sie nicht, daß es mich wenig kostet, Ihnen das zu sagen; nein, häufig schwebt mir die Frage auf den Lippen: Ach, warum hat alles so kommen müssen? Warum muß gerade der Vater von meiner lieben, unschuldigen Freundin so schlecht sein? Warum mußte er gerade Ihren Vater auf so grausame Weise ermorden? Vorausgesetzt, daß Ihr Vater noch lebte, oder wenigstens, daß Romanownas Vater ihm nicht das Leben genommen hätte, wie glücklich könnten wir dann sein. Wir könnten dann zusammen ihr Leben, erleichtern, und vielleicht würde es uns gelingen, sie allmählich wieder heiter zu machen, und ... aber lassen Sie mich keine thörichten Luftschlösser bauen, denn niemals wird eine Vereinigung zwischen Ihnen und mir zustande kommen. Wie sich mein weiteres Leben gestalten wird, weiß ich nicht, aber gewiß ist, daß ich es Romanowna ganz widmen werde. Sie wird nie erfahren, daß ich mich für sie aufgeopfert habe. Ich bitte Gott darum, mir Kraft und Gesundheit zu geben, ihr beizustehen. Wenn sie den Wunsch hat, in ein Kloster zu gehen, werde auch ich meinen letzten Atem in einem Kloster aushauchen; will sie aber ihre Kräfte anderweitig nützlich verwenden, dann werde ich ihr helfen und mich freuen, daß ich derjenigen von Nutzen sein kann, die mich im Glück wie eine Gleichgestellte behandelte und so lieb gegen mich war und deshalb ein Anrecht hat auf meine Dankbarkeit und Liebe.

Ich kann Ihnen nicht sagen, was es mich kostet. Ihnen das zu schreiben; denn die Tage, die ich nach meiner Genesung im Hause Doktor Dimsdales an Ihrer Seite verlebte, waren die glücklichsten meines Lebens, und niemals werde ich Sie und Ihre Liebe vergessen. Versuchen Sie nicht, mich noch einmal zu sehen, denn ich bin immer bei Romanowna. Noch etwas muß ich Ihnen ...«

Hier war Milna jedenfalls von Romanowna gestört worden, denn der Brief brach hier ab. Mit nervös zitternder Hand legte Romanowna den Brief wieder hin und sprang wieder ins Bett. Gerade in diesem Augenblick kam Milna zurück.

»Mutter Ottekesa hat sich wieder ganz von dem Schreck erholt,« fing Milna an. »O, sie ist glücklich eingeschlafen,« dachte sie und lauschte andächtig nach dem Bett hin; dann setzte sie sich hin, um ihren Brief zu vollenden.

Romanownas Herz klopfte so heftig, daß sie in der Furcht, Milna möge ihre Aufregung bemerken, die Decke über ihren Kopf gezogen hatte und so liegen blieb, bis sie etwas ruhiger geworden war. Als sie endlich die Decke leise zurückschob, sah sie Milna eifrig bei dem flackernden Licht der Kerze schreiben, die schon beinahe heruntergebrannt war, und die sie nicht durch eine andere zu ersetzen wagte, aus Furcht, daß das Knarren der Thüre Romanowna wecken könnte; sie beeilte sich deswegen, fertig zu werden.

»Edles Mädchen,« sagte Romanowna zu sich selbst, während sie Milna in das bleiche, vorgebeugte Gesichtchen sah, »ich werde dein Opfer nicht annehmen; aber vorerst bleibt dein Geheimnis in meinem Herzen verschlossen. Jetzt verstehe ich manches, was mir früher wie ein Rätsel erschien, als ich noch bei Doktor Dimsdale war! Jetzt verwundere ich mich nicht mehr, daß du immer so gern dabei warst, wenn Herr Lowitz zu Besuch kam, sondern ich wundere mich vielmehr, daß du oft noch so lange bei mir gesessen hast!«

»Wie gut kann ich es verstehen, daß sie einander lieben,« dachte Romanowna weiter, »denn wie liebenswert ist doch Milna, und wie edel und männlich erschien mir Lowitz! Welch grausames Schicksal, das mich für immer entfernt hält von dem Manne, der der Gatte meiner Freundin, ja ich kann fast sagen, meiner Schwester werden wird. Er muß ihr Gatte werden, das steht fest, denn Milna darf für mich ihr Lebensglück nicht aufopfern; aber wie kann ich das verhindern? sie schickt ihm doch jetzt diesen Brief und dann ... Ach! wenn er sie wirklich so liebt, wie sie es verdient, wird dieser Brief seine Liebe eher vermehren als vermindern. Wie gut ist es doch, daß ich so unbescheiden gewesen bin, den Brief zu lesen, denn sonst hätte Milna sich selbst unglücklich gemacht, ohne daß mir nur eine Ahnung gekommen wäre! Milna muß glücklich werden, wenn die traurigen Zeiten vorüber sind und ich ... was werde ich anfangen, wenn mein Vater? ...«

Dieser Gedanke machte Romanowna immer traurig; denn sie wußte nur zu gut, wenn sie es auch nicht in Milnas Brief gelesen hätte, daß ihr Vater nicht mehr lange zu leben habe; und dann, wenn er nicht mehr bei ihr war, der Vater, den sie stets trotz alles Bösen, das sie von ihm hörte, mit ganzer Seele geliebt hatte, was sollte sie dann anfangen? Daran durfte sie gar nicht denken.


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