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Endlich war Milna wieder soweit hergestellt, daß sie in das gemütliche Wohnzimmer des Arztes kommen konnte. Sie wurde dort sehr herzlich begrüßt, denn Herr und Frau Dimsdale, die keine Kinder besaßen, hatten die beiden jungen Mädchen, die sie unter so traurigen Verhältnissen kennen gelernt, schon sehr ins Herz geschlossen.
»Ich finde es herrlich,« sagte der Doktor, »daß wir jetzt einmal so gemütlich zusammensitzen, und ich hoffe, oder besser, wir hoffen, nicht wahr, Lucie? daß es Ihnen beiden gut in unserem Hause gefällt und wir Sie recht lange bei uns behalten dürfen.«
»Milna,« antwortete Romanowna sogleich, »wird gern Ihrer freundlichen Einladung folgen, aber mich ruft die Pflicht, jetzt, da Milna wiederhergestellt ist, zu meinem Vater, und wenn Sie gestatten, möchte ich gern morgen abreisen.«
Der Doktor sah seine Frau an und sagte dann nach einigen Augenblicken der Überlegung: »Wenn Sie mich um Rat fragen, werde ich Ihnen gewiß abraten, einen Schritt zu thun, der Ihnen nur Elend bringen wird.«
»Sie kennen meines Vaters Liebe zu mir nicht, Herr Doktor,« sagte Romanowna in ruhigem, aber betrübtem Ton. »Er hat, wie ich fürchte, einige Missethaten begangen, aber seine Tochter war nicht bei ihm, und ich bin überzeugt, nein, ich weiß bestimmt, er würde nichts Gewissenloses begangen haben, wenn er daran gedacht hätte, daß er mich damit betrübe.«
»Es thut mir schrecklich leid,« sagte der Doktor, »daß ich das feste Vertrauen einer Tochter in die Liebe ihres Vaters erschüttern muß; aber ich bin gezwungen, Ihnen offen zu sagen, ich glaube nicht, daß Sie noch Einfluß auf ihn haben werden.«
»Kennen Sie meinen Vater denn, Herr Doktor?« fragte Romanowna mit leise verweisender Stimme.
»Nicht persönlich,« war die Antwort, »aber zu meinem Leidwesen erfahre ich täglich mehr Nachteiliges über ihn, so daß ich seine Bekanntschaft durchaus nicht wünsche.«
Romanownas Augen füllten sich mit Thränen, weil sie sich sagen mußte, daß ihr sonst so rücksichtsvoller Wirt sich nicht ohne begründete Ursache in solcher Weise ausgesprochen haben würde.
Während sie so still vor sich hin blickte, schreckte sie plötzlich empor infolge des Eintritts eines Offiziers, der, ohne die Gesellschaft zu begrüßen, in hastig aufgeregtem Ton fragte: »Um Gotteswillen, sagen Sie mir, wo ist Lowitz?«
»Lowitz?« wiederholte der Doktor, »ich kann über ihn nichts sagen, denn er hat uns lange nicht mehr besucht; aber was ist mit ihm?«
»So können Sie mir also nichts über ihn sagen? nehmen Sie es mir dann nicht übel, aber ich muß ihm nachgehen,« sagte der Offizier aufgeregt und verließ hastig das Zimmer.
Doktor Dimsdale nahm seinen Hut und eilte ihm nach. »Sagen Sie mir, mein Herr,« fragte er, »was fürchten Sie für meinen Freund Lowitz?«
»Nun, der Junge ist rasend vor Wut über die schändliche Ermordung seines Vaters, und ...«
»Ist Herr Lowitz tot?« fragte Doktor Dimsdale mit offenbarer Betrübnis.
»Wieder ein neues Opfer Pugatscheffs,« rief der Offizier und eilte davon; aber Doktor Dimsdale begleitete ihn ohne Zögern, denn er begriff, daß es etwas Besonderes sein müsse, das eine so große Aufregung rechtfertige.
In ängstlicher Spannung blieben die Damen zurück. Sie fühlten alle drei, daß etwas Schreckliches geschehe oder geschehen war und hatten doch nicht den Mut, miteinander darüber zu sprechen.
Endlich – nach wie langer Zeit, hätte niemand sagen können – sahen sie drei Personen am Fenster vorübergehen; und bald darnach trat der Doktor mit dem Offizier und dem jungen Lowitz ins Zimmer. Die beiden Erstgenannten sahen sehr erhitzt und ermüdet aus, Herr Lowitz aber war bleich und schien ganz geistesabwesend, wenigstens ließ er sich auf den ersten besten Stuhl fallen und blieb da unbeweglich sitzen.
»Was ist denn geschehen?« fragte Frau Dimsdale besorgt.
»Das werde ich dir später erzählen,« antwortete ihr Mann mit einem Seitenblick auf Romanowna; »aber sei so gut und sorge, daß unsere Gäste etwas zu essen bekommen.«
Frau Dimsdale verließ sogleich das Zimmer, nachdem sie dem fremden Offizier, der sich wegen seines Eindringens entschuldigte, versichert hatte, daß er als Freund von Herrn Lowitz sehr willkommen sei.
Romanowna, die den Blick des Doktors bemerkt hatte, fragte ängstlich, während sie auf ihn zuging und ihre Hand auf seine Schulter legte: »Doktor, was ist denn geschehen? ich fürchte, daß es etwas auf meinen Vater Bezügliches ist.«
Der Doktor gab keine Antwort, und Romanowna sah von ihm auf die beiden anderen Herren.
»O, sagen Sie mir,« bat sie, »ob ich mich täusche; ich habe eine Ahnung, als ob mit meinem Vater etwas vorgefallen sei.«
»Herr Doktor,« wiederholte Romanowna, als die beiden anderen auch schwiegen, »ich bin auf alles vorbereitet, o, sagen Sie mir doch alles, lassen Sie mich das Schlimmste wissen. Er ist doch nicht tot?«
»Er ist nicht tot, aber er hat getötet,« sagte der junge Lowitz mit dumpfer Stimme. »Er hat meinen guten, lieben Vater ermordet, während ...«
»Lowitz,« riefen der Doktor und der Offizier zu gleicher Zeit warnend; aber er achtete nicht darauf, und Romanowna winkte den Herren mit der Hand, ihn nicht zu unterbrechen.
»... er mit der Erfüllung seiner Pflicht beschäftigt war. Er machte auf Befehl der Kaiserin Vermessungen für den neuen Kanal und war nahe bei Dmitrijewsk beschäftigt, als Pugatscheff zu ihm kam und ihn fragte, was er mache. ›Ich untersuche, wie man am besten eine Verbindung zwischen Don und Wolga herstellen kann‹, antwortete mein Vater. Pugatscheff hörte mit erheucheltem Interesse zu und lud ihn zu einem seiner Feste ein. Mein Vater entschuldigte sich, weil er bei dem guten Wetter einige astronomische Beobachtungen machen wolle und noch sehr viel zu thun habe. Die Entschuldigung wurde angenommen, und Pugatscheff verließ meinen Vater; einige Tage nachher ließ er fragen, ob mein Vater nicht zu ihm kommen wolle. Nichts Böses ahnend, begab dieser sich sogleich zu ihm; aber sobald er bei dem Bösewicht eintrat, ließ dieser ihn auf einen Spieß stecken und rief ihm zu:
›Sieh dich jetzt einmal gut um und bedanke dich bei mir, daß ich eine so bequeme Art, die Sterne zu beobachten, für dich erfunden habe.‹«
Lowitz hatte sehr langsam gesprochen und während seiner Rede die Augen niedergeschlagen, aber als er nun aufblickte und Romanowna, die beinahe dicht vor ihm stand, ansah, that ihm jedes Wort leid, das er gesagt hatte, und er hätte gerne alles widerrufen. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepreßt, und aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, während ihre Augen mit einem unsicheren Ausdruck starr auf ihn gerichtet waren.
»Ach warum,« fragte Milna Herrn Lowitz in sanft verweisendem Ton, »haben Sie meiner Freundin das angethan?«
»Ich gäbe einen Teil meines Lebens darum, wenn ich meine Worte zurücknehmen könnte,« antwortete er halblaut. »Ich bin absichtlich nicht früher hierher gekommen, weil ich fürchtete, mich nicht beherrschen zu können, über den entsetzlichen Vorfall zu sprechen.«
»Ach! wäre ich nur bei ihm gewesen!« sagte Romanowna mit einem tiefen Seufzer. »Herr Doktor,« fuhr sie fort, »nun werden Sie mich doch gewiß nicht mehr zurückhalten, morgen zu ihm zu gehen.«
»Nein, meine liebe Freundin,« sagte der Doktor, »ich rate Ihnen nicht ab, das zu thun, was Sie für Ihre Pflicht halten, aber ich bitte Sie doch, zu bedenken, ob es unter den obwaltenden Verhältnissen wirklich ratsam für Sie ist, nach Dmitrijewsk zu gehen?«
»Wollen Sie zu Pugatscheff?« fragte der Offizier, »der befindet sich nicht mehr in Dmitrijewsk.«
»Wo denn?« fragte Romanowna.
Der Offizier zuckte die Achseln und sagte: »Sein Heer ist mit General Bibikoff handgemein geworden.«
»Und?« fragte Romanowna erwartungsvoll.
»Der General hat erst das Heer der Aufständischen in das Gebirge zurückgedrängt und ihm dann durch eine Truppenverstärkung, die ihm Oberst Michelson zuschickte, die Zufuhr von Lebensmitteln abgeschnitten.«
»Das war doch ebenso grausam!« rief Romanowna.
»Grausam?« wiederholte der Offizier. »Das war Kriegsrecht.«
»Kein ruchloses Morden,« sagte Lowitz halblaut.
»Der General mußte wohl so handeln,« fuhr der Offizier fort, »denn er verteidigte eine gerechte Sache.«
»Mein Vater auch,« bemerkte Romanowna und fügte hinzu, als keiner der Anwesenden ihre Worte zu beachten schien: »der Kaiser hat doch, nach meiner Meinung, mehr Recht auf den Thron als seine Gemahlin, die ihn ermorden lassen wollte.«
»Der Kaiser sicher,« sagte der Offizier mit Nachdruck, »aber ...«
In diesem Augenblick kam gerade Frau Dimsdale wieder herein und ließ das einfache Abendbrot auftragen. Der Doktor benutzte die kleine Unterbrechung, die Herren zu bitten, das peinliche Gespräch abzubrechen; aber wie sehr sich auch alle bemühten, eine andere Unterhaltung in Gang zu bringen, Romanowna ruhte nicht, bis der Offizier ihr alles mitgeteilt hatte, was er wußte.
Von ihm hörte sie dann, daß das ganze Heer ihres Vaters in die Flucht geschlagen und auseinander gesprengt worden sei, und daß er selbst sein Leben nur durch die Flucht gerettet habe.
»Wo hat er sich dann hin geflüchtet?« fragte Romanowna.
»Man sagt, er sei über die Wolga geschwommen,« antwortete der Offizier, »aber da ich nicht ahnen konnte, jemand zu begegnen, der sich für ihn interessierte, habe ich nicht weiter darnach gefragt.«
Romanowna schwieg den übrigen Teil des Abends; auch die andern hatten nicht die geringste Lust, eine lebhafte Unterhaltung zu führen, und so trennte man sich so früh wie möglich. – Romanowna schlief wenig und Milna gar nicht; all' die Ermüdungen und Aufregungen verursachten wieder etwas Fieber, und so endete der Tag, der so schön angefangen hatte, sehr traurig.