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Zwanzigstes Kapitel.
In Doktor Dimsdales Haus

Wache ich oder träume ich?« fragte Romanowna, als sie in einer ihr ganz fremden Umgebung die Augen aufschlug. Sie lag in einem Bett mit schön geblümten Vorhängen und befand sich jedenfalls an einem Ort, an dem sie früher noch nie gewesen war. Sie konnte sich erst gar nicht auf das besinnen, was vorgefallen war; aber nach und nach fiel ihr die tolle Schlittenfahrt und der darauf folgende Stoß wieder ein, und sie hatte eine undeutliche Vorstellung von jemand mit einem Messer und von einem anderen, der sie in einen Schlitten getragen und dann von weichen Frauenhänden, die sie ausgekleidet und zugedeckt hatten. Noch ehe sie soweit zum Bewußtsein gekommen war, um sich aufzurichten, hörte sie dicht bei ihrem Bett jemand etwas sagen. Sie schob mit der Hand die Vorhänge zurück und erblickte eine Dame, die sie sich jetzt erinnerte, schon am vorhergehenden Abend gesehen zu haben. Dieselbe trug ein schwarzes Samtkleid, das am Hals mit einem weißen Kragen geschlossen war. Ihre Haare waren in dicken Flechten so um den Kopf gelegt, daß sie eine Art Krone bildeten. Romanowna fiel die nichtrussische Kleidertracht sogleich auf, aber sobald sie die Dame ansah, vergaß sie alles andere über den Reiz des schönen Gesichts.

» How do you do?« fragte die Dame leise, während sie sich zu Romanowna niederbeugte, um sie anzublicken.

Romanowna, die kein Englisch konnte, verstand sie nicht, begriff aber die Bedeutung der Frage und deutete mit der Hand auf die Stirn, um damit zu sagen, daß sie Kopfweh habe. »Aber, das hat nichts zu bedeuten,« sagte sie, »ich möchte nur wissen, wie es Milna geht.«

Die Dame, die kein Russisch verstand, zuckte die Achseln, aber als Romanowna ihre Frage französisch wiederholt hatte, erzählte sie ihr, daß Milna zu Bett liege und ziemlich ruhig schlafe.

»Wenn Sie sich wohl genug fühlen, um aufzustehen,« sagte die Dame, »werden Sie uns großes Vergnügen machen, wenn Sie zum Frühstück hereinkommen wollen, denn wir sind sehr gespannt. Näheres von Ihnen zu hören.«

»Ich habe solches Verlangen, Milna zu sehen,« sagte Romanowna.

»Sie ist näher bei Ihnen, als Sie vermuten,« meinte die Dame lachend und ließ Romanowna, nachdem sie den Vorhang noch etwas zurückgeschoben hatte, das Bett sehen, in dem Milna lag.

Romanowna sprang hastig aus ihrem Bett und eilte zu Milna. Diese lag still mit geschlossenen Augen und sah sehr bleich aus; aber Romanowna bemerkte mit Entzücken, daß sie ziemlich regelmäßig atme. Ohne die Freundin zu wecken, kleidete sich das junge Mädchen an; die schöne, bleiche Dame verließ sie, nachdem sie Romanowna noch gebeten hatte, in das anstoßende Zimmer zu kommen, wenn sie mit dem Ankleiden fertig sei.

Als Romanowna ihren Anzug vollendet und ihr Zimmer verlassen hatte, begegnete sie schon im Gang dem älteren Herrn, den sie bei dem Schlitten gesehen hatte.

»Gut geschlafen auf den Schreck?« fragte er heiter, während er ihr die Hand reichte.

»Ich glaube wohl,« sagte Romanowna, »aber ich weiß wahrhaftig nicht, was geschehen ist, seit ich Sie an dem Schlitten sah.«

»Ich glaube, ich habe Sie recht erschreckt. Hatten Sie noch nie einen Aderlaß gesehen?«

»Nein,« antwortete Romanowna, »ich begriff durchaus nicht, was Sie vornahmen; aber hat es Milna gut gethan?«

»Wenn ich einige Minuten später gekommen wäre, hätte Ihre Freundin den Fall mit dem Leben bezahlt, denn sie gab beinahe kein Lebenszeichen mehr. Aber,« fuhr der Fremde fort, »treten Sie ein, um etwas zu sich zu nehmen.«

Er öffnete bei diesen Worten die Thüre eines kleinen, aber sehr gemütlichen Zimmers, wo die schöne Dame, sogleich nachdem Romanowna Platz genommen, ihr eine Tasse Fleischbrühe anbot. Noch selten hatte Romanowna etwas genossen, das sie so erquickt hätte, wie diese Tasse warmer kräftiger Brühe; sie fühlte sich ungewöhnlich schwach. Sobald sie sich etwas gestärkt hatte, mußte sie erzählen, wer sie sei und wie es komme, daß sie sich in dieser unsicheren Zeit auf der Reise befinde. Ohne Rückhalt erzählte Romanowna ihre ganze Lebensgeschichte; sie setzte, ohne etwas von ihnen zu wissen, sogleich großes Vertrauen in ihren Wirt und dessen Gattin. Sie fing in französischer Sprache an; da ihr das aber etwas schwer fiel, bat der Fremde sie, russisch zu sprechen, er wolle ihre Erzählung dann seiner Frau übersetzen.

Nachdem Romanowna alles erzählt hatte, von ihrer Flucht aus Petersburg bis zur ihrer Reise nach Dmitrijewsk, und der Fremde es seiner Frau in kurzen Worten verdolmetscht hatte, fragte er: »Und sehen Sie nun keine Gefahr in einer Fortsetzung Ihrer Reise, die unter solch' unglücklichen Umständen begonnen hat?«

»Ich gehe zu meinem Vater,« sagte Romanowna.

Der Fremde warf bei diesen Worten einen so mitleidigen Blick auf sie, daß Romanowna ängstlich fragte:

»Wissen Sie etwas von meinem Vater? Sagen Sie es mir, mein Herr! Er ist doch nicht krank?«

»Man sagt, daß er sich einer guten Gesundheit erfreut,« antwortete der Fremde ausweichend.

»O, ich habe solche Sehnsucht nach ihm,« sagte Romanowna. »Wie weit bin ich denn noch von Dmitrijewsk entfernt? und wo bin ich denn eigentlich?« fragte sie.

»Ja, es ist wahr, ich habe ganz vergessen, uns Ihnen vorzustellen. Sie sehen in mir den Doktor Dimsdale, der aus England gekommen ist, um die Kaiserin und den jungen Großfürsten zu impfen,« sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung. »Meine Frau war so gut, mich auf die weite Reise zu begleiten, und jetzt besuchen wir zusammen die schönsten Gegenden von Rußland. Wir haben für einige Zeit hier unsere Zelte aufgeschlagen, weil meine Frau sich nicht wohl fühlte und die Luft ihr gut bekommt.«

»War die Kaiserin krank?« fragte Romanowna, die den Doktor nicht recht verstanden hatte.

Derselbe gab ihr darauf eine genaue Beschreibung des Impfens, das erst kurz vorher erfunden worden war.

Frau Dimsdale, die inzwischen einmal nach Milna gesehen hatte, kam mit der Nachricht zurück, daß Milna erwacht sei und Romanowna zu sehen wünsche. Diese eilte sogleich zu ihr hin, aber wie erschrak sie, als sie sah, wie das gestern noch so blühende, junge Mädchen so bleich und abgemattet dalag und nur mit ganz schwacher Stimme sprechen konnte.

»Wie geht es dir?« fragte Romanowna.

»Ach, ich bin so müde und schwach,« war die Antwort.

»Ja, Sie haben viel Blutverlust gehabt,« sagte der Doktor, der mittlerweile eingetreten war, »aber Sie werden sich hoffentlich bald wieder erholen. Sie müssen nur ruhig liegen bleiben, denn Ruhe ist das beste Heilmittel, und ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie gerne wir Sie hier behalten; nicht wahr, Lucie?« wandte er sich zu seiner Frau.

Diese nickte zustimmend und glättete Milnas Decken, um es dieser so behaglich wie möglich zu machen.

»Hoffentlich dauert es doch nicht zu lange?« fragte Romanowna, »denn mein Vater sehnt sich so nach uns.«

Wieder traf sie ein mitleidiger Blick des Arztes, den sie sich nicht erklären konnte.

»Wird es lange dauern, Herr Doktor?« wiederholte sie, »bis Milna imstande sein wird, zu reisen?«

»Wer kann das sagen?« war die Gegenfrage. »Ihre Freundin hat sich noch kaum soweit erholt, um uns zu sagen, wo sie die meisten Schmerzen hat.«

»Ich möchte wohl probieren aufzustehen,« sagte Milna, aber offenbar mehr Romanowna zu liebe; denn als der Doktor ihr riet, ruhig im Bett zu bleiben, schloß sie sogleich wieder die Augen und fiel alsbald in erquickenden Schlaf.


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