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Der Mann mit der schwarzen Maske trat gerade ein, als die Tanzmusik zu spielen anfing. Ein leichter Schauder überfiel Romanowna, als er sich ihr näherte; während des Essens hatte sie sich allerlei Schreckbilder vorgestellt und sich fest vorgenommen, nicht mit dem Mann zu gehen; denn sie, die immer am Hofe gelebt, hatte auch schon manchmal von Verrat und Schurkerei gehört; die geheimnisvollen Worte und Thaten des Fremden beunruhigten sie einigermaßen. »Ich werde keinesfalls mit ihm gehen, ehe ich sicher weiß, wer er ist,« dachte sie; aber als er sich genähert hatte und ihr, ohne etwas zu sagen, seinen Arm anbot, nahm sie denselben stillschweigend; das Gebietende in seiner Haltung, die unwiderstehliche Macht seiner schwarzen Augen waren stärker als ihre Vorsätze.
»Wickeln Sie sich gut ein,« sagte der Fremde in sorglichem Ton und half ihr den Mantel umlegen.
Noch einmal zögerte Romanowna, als sie im Begriff stand, in den Schlitten zu steigen; sie sah sich um, um den Fremden erst noch einmal zu fragen, wer er sei; aber er winkte ihr mit seinen dunkeln Augen, sich zu eilen, und so behielt sie die Frage, die ihr auf den Lippen schwebte, wieder für sich. Bald kamen sie an dem kleinen Häuschen an, wo Milna sie erwartete. Der Fremde nahm Romanowna auf seinen Arm und trug sie aus dem Schlitten, als ob sie ein kleines Kind wäre.
»Die Luft ist so kalt und der Boden mit Schnee bedeckt,« sagte er, wie um sich wegen dieser Vertraulichkeit zu entschuldigen; allein es schien Romanowna, als ob es ihm ein großes Vergnügen gewähre, sie in seinen Armen zu halten. Aber sie dachte nicht lange darüber nach, denn an der Thüre kam ihr Milna entgegen und freute sich so sehr, sie wiederzusehen, daß Romanowna über ihre herzliche Begrüßung den Fremden ganz vergaß. Wie es sich denken läßt, hatten die beiden jungen Mädchen einander viel zu fragen und zu erzählen. Milna teilte ihre Erlebnisse in kurzen Worten mit und hatte an der Prinzessin eine andächtige Zuhörerin.
»Als der Offizier, der mich verhaftete,« erzählte Milna, »mich bis an die Thüre des Gefängnisses begleitet hatte, gab er jemand, den ich für den Gefängniswärter hielt, den Befehl, mich vorläufig gefangen zu halten, bis die Kaiserin andern Auftrag erteile. Der Mann ließ mich einige Stufen hinabgehen und öffnete dann eine schwere Thüre, die er hinter mir ins Schloß fallen ließ. In diesem Gewölbe war es entsetzlich kalt; das Wasser der Newa war durch das Fenster hereingeströmt und gefroren, so daß in dem Raum nur ein schmaler Streifen war, wo ich kein Eis unter den Füßen hatte.
Die ersten Minuten, die ich dort zubrachte, glaubte ich, man werde mich wohl bald an einen besseren Ort bringen, und ich erwartete die Rückkehr des Schließers; aber nach und nach begriff ich, daß man mich hier lassen wolle, und mir kam der Gedanke, man wolle mich vor Hunger umkommen lassen, da man mir gar nichts zu essen brachte.«
Romanowna schauderte und zog unwillkürlich ihren Hermelinmantel fester um sich.
»O, ich litt unsagbar,« fuhr Milna fort. »Ich sah den Tod vor Augen, und dachte mit so viel Wehmut an alle meine Lieben, besonders an Sie, Prinzessin, und an die glücklichen Jahre, die ich in Ihrem Dienst verlebt hatte, und ich weinte, bis endlich meine Augen schwer wurden und ich in eine dumpfe Bewußtlosigkeit versank. Wäre ich eingeschlafen, würde ich sicher erfroren sein, aber soviel Besinnung hatte ich glücklicherweise noch, um zu begreifen, daß ich mich bewegen müsse, wenn ich am Leben bleiben wolle. Ich bemühte mich, soviel wie möglich aus meiner Betäubung herauszukommen und lief in dem kalten Raum auf und nieder; aber bald ermüdete mich die Bewegung, und ich brach kraftlos zusammen. Ich weiß noch gut, daß ich nicht glaubte, das Tageslicht je wieder zu sehen, als mich plötzlich die Stimme des guten frommen Fremden aus meinem Schlummer weckte. Liebevoll nahm er mich in seine Arme, hüllte mich in einen Mantel, den er für mich mitgebracht hatte. Dann bot er mir ein sicheres Versteck an, wo ich rasch die ausgestandenen Schmerzen bei der liebevollen und sorglichen Behandlung, die mir zu teil wurde, vergaß.« Milna konnte gar nicht genug von ihrem Retter sprechen, den sie ehrfurchtsvoll »Vater« nannte und als einen heiligen Mann bezeichnete.
»Aber wer ist es denn?« fragte Romanowna; der Fremde war nicht mit ihr eingetreten, damit die jungen Mädchen, wie er sagte, ungestört plaudern könnten. »Seinen Namen weiß ich nicht,« sagte Milna, »aber er ist so fromm, so gut, so edel wie niemand sonst.«
Als Milna mit ihrer Erzählung zu Ende war, blickte Romanowna um sich; wie sonderbar fand sie die ärmliche Umgebung, die kahlen Wände, den steinernen Fußboden, die rohe Bank, die sonderbaren Töpfe und Pfannen, die den Hausrat ausmachten; alles erschien ihr schrecklich.
»Was ist das?« fragte sie Milna.
»Ein Wohnhaus,« antwortete diese.
»Wohnen hier denn Menschen?« fragte Romanowna verwundert.
»Natürlich,« war die Antwort. »Und diese Wohnung ist noch nicht einmal die armseligste, denn sehen Sie, es ist noch Brennmaterial vorhanden und alles zeigt, daß die Bewohner, die gegangen sind, sich das Fest anzusehen, noch in einem gewissen Wohlstand leben.«
Während die jungen Mädchen so plauderten, wurde die Thüre geöffnet und der Fremde trat herein, in sein geistliches Gewand gehüllt, die Maske noch immer vor dem Gesicht.
»Kommen Sie, Prinzessin,« sagte er in spöttischem Ton, »es wird Zeit, daß Sie wieder zurückkehren an die Stätte des Reichtums und des Glanzes, wohin Ihre Schönheit besser paßt, als an diesen elenden Ort.«
Der beißende Ton dieser Worte verletzte Romanowna, und sie sagte halb ärgerlich: »Jeder ist natürlich am liebsten da, wo er hingehört, aber ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich hierhergebracht und mir dadurch Gelegenheit gegeben haben, Milna noch einmal zu sehen.«
»Ha! um Milna noch einmal zu sehen,« wiederholte der Fremde, »und Sie denken also gar nicht daran, was ihr weiteres Schicksal sein wird! O, grausame, herzlose Romanowna,« sagte er mißbilligend, sein Haupt schüttelnd. »Aber, wie kann es auch anders sein! bei einer Erziehung durch Katharina II. muß jedes Gefühl erstickt werden und ...«
»Halten Sie ein! Fremdling,« gebot Romanowna würdevoll. »Sie haben sich schon mehrmals Bemerkungen über meine Mutter erlaubt, die eben so gehässig wie ungerecht sind, und die ich nicht hören mag. Haben Sie die Güte, anspannen zu lassen.«
»Wenn Sie das wünschen, werde ich den Kutscher rufen,« sagte der Fremde höflich, »aber erlauben Sie erst eine Frage: interessiert es Sie gar nicht, zu erfahren, wer ich bin?«
»Ich nehme kein Interesse an denen, die sich erkühnen, meine liebe Mutter, unsere verehrte Kaiserin, zu verhöhnen,« sagte Romanowna kurz.
»Und wenn ich Ihnen nun beweise, daß die verehrte Kaiserin eine gemeine Mörderin ist, welche die Rechte ihrer Unterthanen mit Füßen tritt und ...«
»Schweigen Sie mit der Verleumdung,« rief Romanowna, ihn heftig unterbrechend, »alles, was Sie sagen, ist nicht wahr, und ich verbiete Ihnen in meiner Gegenwart jedes weitere Wort. Milna,« fügte sie etwas leiser, aber doch in befehlendem Ton hinzu, »hilf mir in den Schlitten.«
Als Romanowna einige Schritte nach der Thüre gemacht hatte, trat der Fremde vor sie hin und fragte, während er ihr das Bild, das er aus der Schloßgalerie mitgenommen hatte, vorhielt: »Kennen Sie das Bild?«
Romanowna that, als höre sie die Frage nicht, so gereizt war sie; aber sie konnte doch nicht umhin, einen Blick auf das vorgehaltene Bild zu werfen, und der eine Blick genügte, sie verwundert ausrufen zu lassen: »Aber, das ist ja das Bild des Zaren Peters III. Wie kommt das in Ihre Hände?« fragte sie, nachdem sie einige Augenblicke das ihr wohlbekannte Porträt angesehen hatte.
»Niemand hat ein größeres Recht daran als ich,« sagte der Fremde leise.
»Wer sind Sie denn?« fragte Romanowna verwundert.
Statt zu antworten, blieb der Fremde stehen und machte langsam das Band auf, das seine Maske festhielt. Romanowna stieß einen Schrei aus und ließ sich vor Erstaunen auf die Bank niederfallen.
»Mein Gott,« sagte sie, wie zu sich selbst, »wie ist das möglich?« Die Ähnlichkeit war zu groß, als daß sie nicht in dem Fremden den Zaren Peter III. erkannt haben sollte.
»Wollen Sie wissen, wie das möglich ist?« fragte der Fremde.
Romanowna blickte ihn fragend an.
»Meine Tochter,« sagte der Mann mit Nachdruck, während er vor Romanowna niederkniete und ihre Hände in die seinen nahm, »sie, die du Mutter nennst, hat mich aus Herrschsucht nicht nur vom Thron gestoßen, sondern sogar ermorden lassen, oder vielmehr einigen ihrer elenden Günstlinge den Befehl gegeben, mich zu ermorden. Sie haben wirklich die That begangen, aber durch ungewöhnliche Umstände bin ich gerettet worden. Einer meiner treuen Diener hat nämlich am Abend des Mordes den Mut gehabt, die Kleider mit mir zu wechseln und mir Gelegenheit gegeben, aus dem Gefängnis, in das mich Katharina hatte bringen lassen, zu entkommen. Der Unglückliche wurde das Opfer seiner Treue, denn er wurde für mich gehalten und getötet, seine Leiche als die meinige begraben. Nachdem so der Zar, wie Katharina glaubte, aus dem Wege geräumt war, gab sie meinen Mördern Ehrenstellen.«
Der Erzähler hielt ein, als sei er noch tief ergriffen von der Erinnerung und fuhr dann, während er Romanowna immer mit seinen dunkeln Augen ansah, fort:
»Aber ich lebte und beschloß, den schändlichen Mord zu rächen. Schon hatte ich den Plan gefaßt, zu Katharina zu gehen und ihr ihre Treulosigkeit vorzuhalten, als mir klar wurde, daß mein Leben nochmals Gefahr lief, wenn ich mich in ihre Gewalt begab, denn nach diesem ersten Anschlag auf meine Person würde sie mich gewiß nicht am Leben lassen wollen. Ich gab darum meinen Entschluß auf und nahm mir vor, mich so weit als möglich von einer Frau zu entfernen, die ich noch mehr beklagte als verachtete. Ich begab mich deshalb nach Polen zu einigen frommen Einsiedlern, die mich baten, bei ihnen zu bleiben.
Ich willfahrte ihrer Bitte und ließ Katharina in dem ungestörten Besitz ihres Thrones. ›Herr, laß Deinen Diener in Frieden dahinfahren‹, so betete ich immer einem unserer Heiligen nach, und ich glaubte sicher, meine Tage dort ruhig beschließen zu können. Aber, ›der Mensch denkt, und Gott lenkt‹, das erfuhr ich auch jetzt wieder; denn ein Hofgeistlicher, der uns besuchte, erkannte mich und verkündigte den Einsiedlern, wer ich sei. Als sie erfuhren, daß ich der Zar wäre, meinten sie, ich müsse mich wieder an die Spitze des Staates stellen, und dürfe mich nicht der erwünschten Ruhe überlassen. ›Du mußt leben, um zu wirken, statt zu beten und in frommem Seufzen niederzuknieen‹, sagten sie.
Anfänglich ging ich nicht auf ihren Vorschlag ein, denn das Hofleben und Regieren widerstrebte mir, ich wäre lieber in Ruhe gestorben; aber nach und nach begriff ich mit ihnen, daß es meine Pflicht sei, nach Rußland zurückzukehren; und außer meiner Pflicht zog mich auch mein Herz an den Ort, an dem meine liebe Romanowna war. Ich ging deshalb nach Rußland, zunächst ohne bestimmten Plan; ich erkundigte mich nach Katharinas Lebenswandel. Zu meiner Freude hörte ich viel zu ihrem Lob; sie errichtete Schulen und Spitäler, hob den Handel, ließ Schiffe bauen und beförderte die Industrie soviel wie möglich; sie hatte gerade ein Manifest erlassen, worin allen fremden geschickten Handwerkern, die sich in Rußland niederlassen wollten, eine Prämie versprochen wurde.
Als ich sah, daß Katharina, trotz ihrer schweren Missethat, eine gute Regentin war, beschloß ich, wieder ruhig in mein Versteck zurückzugehen, als der Zufall mich mit der Kaiserin zusammenführte. Sie war zu Pferd und allein. Ihr könnt Euch ihren Schrecken und meinen Widerwillen vorstellen. Sie blieb erst ganz steif sitzen, sprang dann vom Pferd und fiel mir zu Füßen. Ich werde Euch alle die elenden Beteuerungen, mit denen sie mich von ihrer Unschuld überzeugen wollte, nicht wiederholen, noch erzählen, wie sie meine Vergebung zu erlangen suchte. So rasch, wie ich konnte, machte ich dem Gespräch ein Ende, nachdem ich ihr gesagt, daß ich noch einige Zeit auf der Erde bleiben würde unter dem Namen Emeljan Pugatscheff. ›Sorge,‹ sagte ich zu ihr, ›daß meine liebe Romanowna in der Furcht des Herrn erzogen, und wache darüber, daß sie nicht durch sündhafte Schmeicheleien verdorben wird. Gieb ihr gute Lehrer, daß sie sich Weisheit und Kenntnisse aneigne, um später mein geliebtes Volk regieren zu können.‹
Die Kaiserin gelobte alles unter Thränen, worauf ich mich entfernte und Gott dankte, daß Er mir Kraft gegeben hatte, meiner Feindin maßvoll zu begegnen.«
Der Erzähler schwieg einige Augenblicke und fuhr dann wieder fort: »Ich versuchte, dich zu sehen, allein es war mir unmöglich, da ich mich natürlich nicht in der Hauptstadt zeigen durfte, ohne Gefahr zu laufen, wieder ergriffen zu werden; so ging ich unverrichteter Sache wieder nach Polen zurück. Noch hoffte ich, mein Leben hier ruhig beschließen zu können, dann aber trieb mich meine Sehnsucht nach dir wieder nach Rußland zurück, nachdem ich einige Jahre bei den Mönchen gewesen war. Fest entschlossen, dich jetzt zu sehen, es koste, was es wolle, ging ich nach Dubranka, noch ohne zu wissen, was ich thun solle. Aber ich blieb nicht lange in Ungewißheit; denn von allen Seiten vernahm ich nun, daß Katharina, die zu Beginn ihrer Regierung gut gegen das Volk gewesen war, jetzt anfange, ihre Unterthanen zu bedrücken. Sie ließ immer neue Steuern auflegen und vergeudete das erpreßte Geld in der verschwenderischsten Weise. Dieser Abend ist ein Beweis dafür, wie die ›Mutter des Vaterlandes‹ für ihre Kinder sorgt. Es ist kein Wunder, daß das arme Volk murrt und einen Aufstand erregen will, aber es ist wohl ein Wunder, daß Gott sie so ungeahndet sündigen läßt und sie nicht schon längst für ihre Missethaten bestraft hat. Wenn alle Strafen des Himmels sie auf einmal träfen, sie hätte noch nicht genug gebüßt.«
Romanowna sah den Zaren ängstlich an, als er diese Worte in erregtestem Ton sprach; er fügte sogleich sanfter hinzu: »Das Böse, das sie mir angethan, habe ich ihr längst verziehen, und ich bitte sogar, daß Gott ihr ebenso vergeben möge.«
Der Erzähler schwieg, als denke er noch über die Missethaten seiner Frau nach. Die beiden jungen Mädchen hatten in tiefem Schweigen seiner Erzählung gelauscht und schienen noch ganz Ohr, als er einhielt. Romanowna saß wie festgebannt auf ihrem Platz, immer noch lag der Zar vor ihr auf den Knieen, noch immer ruhte ihre Hand in der seinen und immer noch blickte sie in seine dunkeln Augen, die mit soviel Liebe auf sie gerichtet waren, ohne daß es ihr nur zum Bewußtsein gekommen wäre, daß sie selbst in die Geschichte verwickelt und daß der Mann ihr Vater sei, als sie plötzlich in dem Augenblick des Schweigens dieser Gedanke wie ein Donnerschlag traf.
Mit erneuter Aufmerksamkeit sah sie nun in das edle Antlitz, und beinahe im selben Augenblick lag sie in den Armen des Mannes, den sie noch eben verabscheut hatte und umfaßte ihn so herzlich wie möglich.
»Mein Kind, meine Romanowna,« flüsterte der entzückte Vater, »wie sprechend gleichst du deiner Mutter.«
»Ach!« seufzte Romanowna, »dann kann dir mein Anblick keine angenehmen Erinnerungen wecken!«
»Ich denke ... ich meine ...,« stammelte der Mann, »deiner Mutter, wie sie früher war.«
Romanowna hörte nicht viel auf diese etwas sonderbaren Worte, und fragte schmeichelnd, während sie ihren Vater zu sich auf die Bank niederzog: »Und deine weiteren Schicksale?«
»O ja,« antwortete der Zar, »ich will sie dir mitteilen. Als ich wieder in Dubranka war, wurde, ich weiß nicht durch welchen Zufall, bekannt, wer ich sei, und sogleich bildete sich ein Anhang, der mich wieder zum Kaiser ausrufen wollte. Es kostete mich große Mühe, den Huldigungen zu entgehen; aber ich wollte erst mein Kind wiederhaben, ehe ich weitere Schritte that; ich schlich mich davon und begab mich nach Petersburg, größtenteils zu Fuß, während ich mich so unkenntlich wie möglich machte. In Petersburg fand ich einen alten verfallenen Tempel, der nicht mehr besucht wurde, und eine alte Frau, die willens war, mich zu bedienen, und so lebte ich da mehrere Tage, während ich darüber nachdachte, wie ich dich sehen und sprechen könne; aber alle meine Versuche mißglückten, denn ich konnte dich nicht sehen, ohne mich zu zeigen, und das wäre natürlich gefährlich gewesen, da ich keine Freunde bei mir hatte, auf deren Hilfe ich rechnen konnte. Und dennoch, so unvorsichtig der Schritt auch sein mochte, hatte ich schon halb beschlossen, ihn doch zu wagen, als ich unerwartet ein Mittel fand, durch das ich mein Ziel zu erreichen hoffte. Als ich eines Abends, wie gewöhnlich, in der Kirche inbrünstig betete, Gott möge mir doch einen Weg zeigen, mein Kind wiederzusehen, bekam ich sogleich unmittelbar Antwort auf mein Gebet, denn ich hörte da Milna eine begangene Sünde beklagen und bereuen. Ich hatte Mitleid mit dem jungen Mädchen, sprach mit ihm und hörte bald von ihm, daß es dich alle Tage sehe. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß Milna mir von Nutzen sein könne; da ich aber nicht wußte, wie weit ich ihr vertrauen dürfe, teilte ich ihr mein Geheimnis nicht ganz mit, sondern nur meinen angenommenen Namen. Ich kannte Katharina genügend, um zu wissen, daß sie Milna fortschicken werde, sobald sie merkte, daß diese etwas wisse, und ich hoffte, die Gutherzigkeit meiner Tochter würde meinen Plan gelingen lassen. Glücklicherweise habe ich mich nicht geirrt. Es fiel mir nicht schwer, Milna aus ihrem Gefängnis zu befreien, da man sie nicht bewachte, weil man überzeugt war, daß sie die schwere Kerkerthüre nicht öffnen könne und daß eine Nacht dort genüge, sie aus dem Wege zu räumen.«
»Noch eine halbe Stunde an dem schrecklichen Ort,« sagte Milna, noch in Gedanken schaudernd, »würde mir das Leben gekostet haben.«
»Meine übrigen Erlebnisse,« fuhr der Zar fort, »sind dir bekannt, meine Tochter, wie Katharinas Thorheit mich instand setzte, mich sogleich zu dir zu begeben und den größten Teil des Abends zu beobachten. Es hat mich unendlich viel Mühe gekostet, mich dir gegenüber als Fremder zu betragen und von dir als Fremder betrachtet zu werden, aber, nun du weißt, wer ich bin, wirst du mich lieben können, Romanowna!«
»Ich habe dich sehr lieb,« sagte Romanowna; und so war es wirklich; ihr liebevolles Herz fühlte sich zu dem gekränkten Vater hingezogen.
Während des langen Gesprächs war das Feuer längst niedergebrannt, und es wurde sehr kalt in dem kleinen Häuschen, während die Lampe, die doch nur ein schlechtes Licht gewährt hatte, beinahe erloschen war, so daß man wenig mehr als einen glühenden, qualmenden Docht sah; aber weder Romanowna, die doch an behagliche Wärme und glänzende Beleuchtung gewöhnt war, noch ihr Vater kümmerten sich um Dunkelheit und Kälte, und keines von beiden schien Milnas Bemerkung, daß es schon so spät sei, zu verstehen.
Hand in Hand sitzend hatten Vater und Tochter einander so viel zu erzählen, daß die Unterhaltung gar kein Ende nehmen wollte. Der Zar war so glücklich mit seinem wiedergefundenen Kind, daß er an seinem Anblick sich gar nicht satt sehen konnte, und Romanowna war so sehr von ihrer neuen Lage ergriffen, daß sie an nichts anderes denken mochte.
»Wann wird die Unterhaltung ein Ende nehmen?« fragte sich Milna beständig; aber die Ehrfurcht, die sie vor ihrem Retter empfand, hatte noch zugenommen, jetzt, da sie wußte, wer er war; so wagte sie nicht, sich ihre Ungeduld merken zu lassen, als die Vergangenheit noch einmal bis in alle Einzelheiten verfolgt wurde. Endlich, in dem Augenblick, als die Pferde draußen vor Ungeduld stampften, faßte sie Mut zu sagen: »Mein Vater, Vergebung, ich meine, Eure Majestät ...«
»Nein, Milna, ich danke dir,« sagte der Zar liebevoll, »keine Majestät, hörst du? Ich will nur bekannt sein als Pugatscheff, und du thust mir einen Gefallen, mich ab und zu einmal so anzureden. Ich bin als Staatsoberhaupt auch das Haupt der Kirche, und so kannst du mich getrost ›Vater‹ nennen; aber, was wolltest du sagen, als ich dir ins Wort fiel?«
»Ich wollte sagen,« antwortete Milna, »daß die Prinzessin schon soviel Unbequemlichkeit ausgestanden hat und wohl nach Ruhe verlangen wird.«
»Ja, wir werden endigen,« sagte Pugatscheff – denn so wollen wir ihn auch nennen – »Romanowna,« fuhr er fort, »draußen wartet dein Schlitten. Wohin soll er dich bringen? Willst du zu Katharina zurückkehren oder willst du bei deinem Vater bleiben?«
Diese Fragen waren für Romanowna schwer zu beantworten. Wen sollte sie opfern? Was sollte sie antworten? Sie schwieg still und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Sie hatte bis jetzt ihre Mutter aufrichtig lieb gehabt und wurde von ihr auch wieder herzlich geliebt; selbst an diesem Tag hatte die Kaiserin ihr noch soviel Beweise ihrer Liebe gegeben; aber mußte sie nicht nach dem eben Gehörten ihre Mutter verachten? Romanowna fühlte, daß sie ihren Vater über ihre Mutter stellen müsse, und doch ging es gegen ihr Empfinden, die Kaiserin heimlich zu verlassen. »Beschließe du, mein Vater, über mein weiteres Schicksal,« sagte sie endlich zu Pugatscheff und lauschte in gespannter Erwartung auf seine Worte.
»Mein Vorschlag ist der,« sagte ihr Vater, »daß wir noch in dieser Nacht nach Petersburg zurückkehren. Katharina bleibt sicher einige Zeit in Zarsko-Selo, und du läufst sonach keine Gefahr, sie zu treffen, wenn du in dem Palast bist. Milna und ich werden dich morgen abholen, und du kannst einen Brief an die Kaiserin schreiben, in dem du ihr die Gründe deines Verschwindens mitteilst; darauf packst du die notwendigsten Kleidungsstücke ein und wir verlassen Petersburg sogleich. Hast du den Mut, mein Los zu teilen?«
»Ich glaube, ja,« sagte Romanowna leise.
»Bei Katharina hast du Behagen, Überfluß, Reichtum und Vergnügen, – bei mir möglicherweise nur Entbehrungen, aber meine Liebe wird dir alles zu ersetzen suchen. Willst du mein Schicksal teilen?« fragte Pugatscheff.
Statt aller Antwort reichte Romanowna ihrem Vater die Hand und ließ sich von ihm in den Schlitten helfen, der sie zusammen nach Petersburg zurückbringen sollte. –
Mehrere Stunden, nachdem Romanowna Zarsko-Selo verlassen hatte und die meisten Gäste fortgegangen waren oder sich im Schloß zur Ruhe begeben hatten, berichtete man der Kaiserin, die sich in ihrem Ankleidezimmer befand, voller Schrecken, daß Prinzessin Romanowna nirgends zu finden sei.
Die Kaiserin erblaßte in heftigem Schrecken, aber sich sogleich wieder fassend, sagte sie: »Die Prinzessin wollte morgen gern in Petersburg sein und hat mich um die Erlaubnis gebeten, sich vor Ablauf des Festes entfernen zu dürfen. Sagen Sie Prinzessin Daschkoff, daß ich sie sogleich zu sehen wünsche.«
Die Diener verneigten sich und zogen sich zurück, ohne sich über die sonderbare und einigermaßen geheimnisvolle Abreise zu wundern, denn sie waren daran gewöhnt, ihre Herren und Herrinnen unerklärliche Dinge thun zu sehen.
Obschon Prinzessin Daschkoff sehr schläfrig war und sich lieber zur Ruhe begeben hätte, trat sie doch lächelnden Antlitzes in das Zimmer der Kaiserin und freute sich sehr darüber, daß Ihre Majestät nicht zu ermüdet sei, um noch etwas zu plaudern.
Die Kaiserin gab keine Antwort auf diese Äußerungen, sondern fragte plötzlich: »Was habe ich Ihnen neulich gesagt? Hat mein Scharfsinn mich betrogen?«
»Es beliebe Eurer Majestät, sich deutlicher auszudrücken,« antwortete Prinzessin Daschkoff, »denn wahrhaftig nach diesem geschäftigen, unruhigen Tag ist mein Kopf ...«
»Er war hier im Schloß,« unterbrach die Kaiserin ihre Hofdame mit Nachdruck.
Prinzessin Daschkoff schlug verwundert die Augen auf, war aber weit davon entfernt, zu erraten, von wem die Kaiserin sprach. Sie war wohl, wie die meisten Höflinge, daran gewöhnt, beinahe an einem einzigen Wort die Meinung ihrer Gebieterin zu erraten, aber ihre Gedanken waren durch das Vergnügen des Abends viel zu sehr abgezogen worden, als daß sie sich sogleich das Ereignis zurückrufen konnte, das der Kaiserin so viel Angst verursachte. Sie legte auch außerdem, wie wir bereits wissen, dem Vorfall viel weniger Gewicht bei als die Kaiserin.
Die Kaiserin jedoch schrieb ihr Stillschweigen anderen Gründen zu und fuhr fort: »Ja, ich habe ihn selbst gesehen.«
»Aber, Majestät,« bemerkte die Hofdame, die vergebens versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
»Nein, Feodorowna,« sagte die Kaiserin, »nein, ich habe mich nicht geirrt. Ich kenne seine Augen zu gut, und sein Blick, der augenscheinlich den meinen suchte, flößte mir solchen Schrecken ein, daß es mir nur mit der äußersten Anstrengung gelang, meiner Umgebung meine Erregung zu verbergen.«
Prinzessin Daschkoff, die endlich begriffen, wen die Kaiserin meinte, sagte: »Sie müssen sich dennoch geirrt haben, denn wie kann er es wagen, sich hier zu zeigen, wo ihn jeder sogleich erkennen würde?«
»Er war verkleidet,« sagte die Kaiserin, »und verschwand sogleich, nachdem er sich an der Aufregung geweidet hatte, in die sein Anblick mich versetzte.«
»Und weiter,« fragte Prinzessin Daschkoff, als die Kaiserin schwieg.
»Eben benachrichtigt man mich, daß Romanowna verschwunden ist.«
»Verschwunden?« wiederholte die Hofdame ungläubig.
»Er hat sie sicher mitgenommen,« sagte die Kaiserin.
»Hat Eure Majestät Beweise?« fragte Prinzessin Daschkoff gedehnt.
»Beweise?« wiederholte die Kaiserin. »Nein, aber die Schlußfolgerung ist rasch gemacht. Romanowna hat sich entfernt, wie man mir mitteilt, und das gerade in der Nacht, da ich ihn wiederzusehen glaubte.«
»In welcher Beziehung steht er zu ihr?« fragte die Hofdame schläfrig.
»Vielleicht ist er ihr Vater, wer weiß? Möglicherweise war er heimlich mit der jungen Frau verheiratet,« sagte die Kaiserin in leichtem, gleichgültigem Ton. »Aber Romanowna ist fort,« fügte sie hinzu.
»Vielleicht ist ...,« begann die Hofdame, brach aber wieder ab, da sie ziemlich sicher annahm, daß Romanowna mit dem Zaren geflüchtet war: »Was denkt Eure Majestät zu thun?«
»Was soll ich thun?« fragte die Kaiserin.
Die Hofdame erteilte in schläfrigem Ton ihren Rat, wurde aber bald von der Kaiserin unterbrochen. Katharina, obgleich sie manchmal um Rat fragte, hörte selten auf die Antwort; sie sprach, wie zu sich selbst: »Wenn er sich so verborgen hält, wie bis jetzt, ist es sicher das Beste, von einer Verfolgung abzustehen. Sie wird ihn nicht gegen mich aufwiegeln, im Gegenteil ...«
Prinzessin Daschkoff, die ein langes Selbstgespräch fürchtete und das Wort »Verfolgung« gehört hatte, fragte: »Hat Eure Majestät bereits Befehl zur Untersuchung gegeben?«
»Nein,« sagte die Kaiserin, »ich hatte Geistesgegenwart genug, mich so zu stellen, als wenn mir Romanownas Verschwinden bekannt sei. Ich wollte erst überlegen und dann handeln.«
Zur großen Freude Prinzessin Daschkoffs machte die Kaiserin endlich dem Gespräch ein Ende, nachdem sie ihren Entschluß kund gethan, nach einigen Stunden der Ruhe nach Petersburg zurückzukehren und nicht, wie erst beabsichtigt war, einige Tage in Zarsko-Selo zuzubringen.
Sogleich nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt begab sich die Kaiserin auf ihr Zimmer, wo sie den Brief fand, den Romanowna auf ihren Tisch gelegt hatte. Das Abfassen dieses Briefes hatte das junge Mädchen viel Mühe gekostet, und erst, nachdem mehr als ein Blatt in den Ofen gewandert war, beschloß es, sich ganz kurz zu fassen und nur zu sagen, daß es für seine Pflicht halte, seinem unglücklichen Vater zu folgen.
Stillschweigend legte die Kaiserin die Zeilen vor ihre Freundin hin, die kopfschüttelnd sagte: »Eure Majestät haben sich nicht geirrt.«
»Ich irre mich nie!« sagte die Kaiserin. »Ich muß mich wohl daran gewöhnen, meine liebe Romanowna nicht mehr um mich zu haben, denn wenn ich sie suchen lassen und mit Gewalt zurückholen wollte, würde er sich jedenfalls zu erkennen geben.«
»Aber welche Gründe kann man für das rätselhafte Verschwinden der Prinzessin angeben?« fragte Prinzessin Daschkoff.
»Wir sind nicht gewöhnt, die Gründe unserer Handlungen anzugeben,« sagte die Kaiserin würdevoll. Durch diesen Beschluß Katharinas wurde Romanowna nicht von Verfolgungen beunruhigt und konnte sich mit ihrem Vater weiter und weiter von der Hauptstadt entfernen.
Am Hofe dachten manche mit neugieriger Teilnahme der schönen Prinzessin, die ebenso geheimnisvoll verschwunden wie erschienen war; aber da die Kaiserin sich über sie in Schweigen hüllte, wagte auch keiner der Höflinge ein Wort von ihr zu sprechen, von ihr, die lange Zeit eine Zierde des Hofes gewesen war.