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Zwischen den Säulen am Landungsplatze, wo vorher Kala Rama gestanden und den sich entfernenden Freunden seinen Gruß – seinen Segen nachgewinkt hatte, standen nun zwei Männer – zwei Inder: Kala Rama und der fremde Yogi, den sie »den großen Bruder« nannten.
Guru und Chela standen dort schweigend nebeneinander.
Sie blickten einem Boote nach, das hinter dem blühenden Gebüsch nach rechts hervorgeschossen war und nun über die mattleuchtende Seefläche davoneilte, der unsichtbaren Spur der vorübergleitenden Lackshmilampe folgend. Im Vordersteven standen vier Schwarze und ruderten, im Hintersteven lag ein Europäer zurückgelehnt. Die von den kräftigen Ruderschlägen aufgeregten Wellen schlugen leise plätschernd an die Marmorfliesen.
Endlich sprach Kala Rama:
– Er würde jetzt dort nicht davonfahren, sondern in seinem schon gegrabenen Grab oben in den Hügeln am Krishna-Tempel liegen, wenn nicht dein zufälliges Dazwischentreten stattgefunden hätte.
– Zufälliges – ?
– Du weißt, wie ich es meine, Meister.
Der Bruder nickte.
– Es ist wahr, ich wußte nicht, was bevorstand. Erst morgen wollte ich mich dir zeigen; Nachmittag und Abend beabsichtigte ich in jenem alten Tempelchen zuzubringen, wo ich schon ein paarmal früher geruht und gute Gedanken gehabt habe. Mit diesen ist es für mich gleichsam bevölkert – ein Ort gut zu Betrachtungen, gut zur Gedankenruhe. In der Nähe sah ich einen Europäer und einige ihn umschleichende Thags, und rettete ihn. Du weißt ja, daß ich mir ihre wie auch andere Gaunersprachen angeeignet habe, so daß es mir nicht schwierig fiel, sie davon zu jagen.
– Und erkanntest du ihn, den du rettetest?
– Noch nicht. Aber der Eindruck, den er in mir hinterließ, sagte mir, daß unsere Wege sich heute nicht zum ersten Mal kreuzten auf dieser langen irdischen Pilgerfahrt. So setzte ich mich denn hin und tat, was du auch bald wirst tun können: tauchte in jene Selbstschauung unter, von der es heißt: »Wenn der Asket wünscht: O möchte ich doch das Erinnern und Erkennen meiner früheren Existenzformen wachrufen, meine verschiedenartigen früheren Lebensläufe mit allen ihren charakteristischen Merkmalen und Beziehungen wieder erwecken – dann pflege ein solcher Asket der Einsamkeit, gebe sich der Beschauung hin, sei viel allein.« – Und ich fand, wo wir zusammen gewandelt hatten. In der Tat gerade an demselben Ort. Denn ich fand, o Kala Rama, daß, als ich Fürst Narada und jener Prinz Ajatasattu hieß, da ging ich an einem lieblichen Nachmittag mit ihm allein – nachdem uns die Elefanten die Steigung heraufgetragen hatten – über eben diesen mit Felsblöcken und Kapern und Myrthengebüschen bedeckten Höhenzug nach dem noch nicht ganz vollendeten Tempelchen, das mein Halbbruder hier errichten ließ, und dem Krishna weihen wollte, offenbar um bei den zahlreichen Krishna-Anbetern meines Reiches seinen Anhang zu mehren. Damals hatte ich keinen solchen Verdacht, sondern sah darin nur eine Äußerung angestammter Religiosität. Lieber wäre es mir ja gewesen, wenn er der reinen Lehre des Buddha dort ein Heiligtum gestiftet hätte, aber ich wollte ihn gerne durch meine Teilnahme erfreuen und ich bedachte auch, wie viele gute und wahre Erkenntnisse im Krishna-Glauben enthalten sind, zumal in der herrlichen und tiefen Bhagavad-Gita.
– »Wer in allen Wesen den höchsten Gott wohnen sieht, der nicht vergeht, wenn sie vergehen – der ist sehend; und indem er überall sein eigenes Wesen erblickt, wird er sich selbst nicht durch sich selbst schaden und geht so den höchsten Weg«, zitierte Kala Rama.
– Freilich nicht den höchsten Weg nach unserem Begriffe, sagte der Guru, wohl aber was der Buddha »den Weg zum Brahman« nennt. Und den habe ich ihm denn auch gezeigt, als wir in der stillen Abendstunde dort oben im Portikus saßen. Mittelst dieser und ähnlicher Gita-Sprüche zeigte ich ihm, wie wir in allen Wesen, die da leben und leiden – und alles, was lebt, leidet – uns selbst wiedererkennen sollen, immer das große Wort der Upanishad » tat tvam asi«tat twam asi: »Das bist du.« wiederholend; und wie im Gemüte des solchermaßen Schauenden nie Übelwollen entstehen könne, sondern immer tieferes Mitleid sich entwickeln müsse. So stammt, wie du siehst, jene Bevölkerung des kleinen Heiligtums mit guten Gedanken von weit älterer Zeit her, als ich es mir bewußt gewesen war.
– Ich vermute, Meister, – fing Kala Rama nach einer kleinen nachdenklichen Pause an – daß es nach diesem Wiedererkennen dir nicht schwer gefallen ist, das Treiben dieses Fremden, oder sagen wir lieber dieses uns vertrauten, wiedergeborenen Ajatasattu, hier zu durchschauen.
Der Bruder nickte.
– Schon der Anschlag der Thags zeigte mir, daß er sich hier auf gefährlichen Wegen verirrt habe, denn um des Geldes wegen konnten sie ihm ja nicht nachstellen. Es bildete sich gleich bei mir der Verdacht, daß Rache oder Eifersucht hinter der Sache stecke und daß Vergangenes sich hier wieder neu bilde. Ich vermutete ein Abenteuer mit der Rani – ich argwöhnte noch anderes und dunkleres, und fand das letztere auch bestätigt, als ich ihn in seinem Bungalow sah und mit ihm sprach.
– Du hast wieder mit ihm gesprochen, Meister?
– Ja. Und bei der Gelegenheit schickte ich dir meinen Gruß.
– Ich hätte mir sagen können, daß du nicht nur deshalb nach dem Bungalow gingst. Und ich wäre dann noch beruhigter gewesen, als ich es nach deiner schriftlichen Anmeldung schon war.
– Weniger das als ein Alarmschuß, um den in seinem Wahn Dahintaumelnden zum Stutzen und vielleicht zur Besinnung zu bringen. Stillstehen, Sich-Besinnen, – das ist ja, o Kala Rama, der Anfang aller Umkehr. – Als ich nun dasaß, besorgt um ihn und um seine Wege, und mein Schauen auf ihn richtete, da sah ich ihn in einem Gartenzimmer mit zwei Freunden zusammen, im Begriff einen Brief zu lesen, und warf sofort auf die halbe leere Seite jene Worte hin.
– »Fingerzeig der Vorsehung« – sagte Kala Rama; die Mahnung hätte in der Tat keinen passenderen Platz finden können.
– Nicht wo sie stand – daß sie dastand, war die Hauptsache. Aber ich hatte allerdings das Regierungssiegel auf dem großen Umschlag bemerkt und dachte mir wohl, daß man irgendwo für ihn Gebrauch hätte. Wo nun auch immer und welchen Gebrauch, jedenfalls wäre das besser für ihn als hier zu bleiben. Jeder Wegweiser war in der Tat ein Zeigefinger der Vorsehung, um in seiner Sprache zu reden, oder wenigstens der seiner Nation.
– Du hattest in der Tat ganz richtig erraten, Meister, und es könnte sich nicht glücklicher getroffen haben. – Und Kala Rama berichtete ausführlich über die afghanistanische Mission, welche die englische Regierung Edmund anvertrauen wollte.
Der Bruder nickte nachdenklich. – Du hast recht. Ein besserer Zufall könnte uns hier nicht die Hand reichen. Und in der Tat ereignet sich wenig Bedeutsames, ohne daß dieser unbekannte Faktor eingreift. Wir dürfen zwar in unseren Unternehmungen nicht auf ein solches Eingreifen warten, aber der Weise wird ihm immer einen Spielraum geben und auch daraufhin etwas wagen. Wie fern liegen nicht die Streitigkeiten zwischen Dost Muhammed und Shah Shuja und das Rivalisieren Rußlands und Englands in Zentralasien und jener Begebenheit, die an einem kleinen indischen Fürstenhof sich zur Zeit Alexanders und Chandraguptas ereignete! Und doch flechten sie sich zu einem Faden zusammen, der sich hier in das Muster einfügt und diesem eine neue Farbe gibt. Schon wirkt die Farbe auf die Phantasie unseres Helden, schon neigt vielleicht im Geheimen sein Sinn mehr nach dem afghanistanischen als nach dem hiesigen Abenteuer. Nur muß es ihm anders scheinen, denn jenes ist das neue, dieses aber das alte, das mit der Macht der Fatalität wirkt. Diese Macht fühlt er, aber er fühlt nicht, daß die Fatalität nur darin liegt, daß er sich entscheidet, nicht wie er sich entscheidet. Er kann das Verbrechen durchführen, kann aber auch sich selber davon lossagen –
– Und in letzterem liegt die Freiheit, sagte Kala Rama, mit einem halb fragenden Blick den des Meisters suchend.
Der Bruder nickte beifällig, mit einem wohlwollenden Lächeln. –
– So können wir sagen und werden auch wesentlich das Richtige treffen, wiewohl dies dem menschlichen Verstand auch in seiner höchsten Entwicklung immer ein Mysterium bleiben muß. Jedenfalls aber kann kein äußeres Eingreifen sein Wesen von der Notwendigkeit der Entscheidung befreien. Sogar die Selbstopferung Amaras konnte das nicht, wie wir das jetzt sehen. Und hätten die Thags freies Spiel gehabt, so wäre freilich die Tat unterblieben; für ihn aber wäre sie nur sistiert; denn von der Vorstellung dieser Tat gleichsam imprägniert, durch diese Selbstsuggestion geleitet, hätte sein Wille sich eben in ein solches Dasein gestürzt, das ihm die beste Möglichkeit gerade für ein solches Tun darbietet. Wenigstens scheint dies mir in Übereinstimmung mit jenen ewigen Karma-Gesetzen zu sein, soweit ich sie von meinem noch immer äußerst begrenzten Standpunkt aus zu schauen vermag.
Der Bruder schwieg, und Kala Rama sah eine Weile ernstsinnend vor sich hin mit zusammengezogenen Brauen, wie einer, der sich bemüht, schwer zu Sammelndes zu sammeln und hinter seinem Gewebe noch schwerer zu Ergründendes zu ergründen.
Schließlich sprach Kala Rama:
– Wie versteh ich jetzt so klar, warum ich so ungern gegen ihn in Kampfstellung trat und ihn mit Machtmitteln bekämpfte; so daß ich fast über meine Pflicht hinaus zögerte. Eine innere Stimme hielt mich zurück, aber in den letzten Tagen gab es schwere Stunden, zumal heute früh. Ich tappte im Dunkeln und wußte in diesem Selbstkampfe nicht mehr das Richtige zu treffen.
– Der Kampf des Ministers mit dem Adepten!
– Da kam aus England diese Nachricht von der afghanistanischen Mission wie ein wahrer Hoffnungsstrahl –. »Wenn er sie nur annehmen wird« – dachte ich. Als ich aber dann vollends deine Signatur auf dem Briefe sah, fing es an, hell in mir zu werden; wußte ich doch, daß ich in dieser Sache nicht mehr allein stünde, daß die Meisterhand am Webstuhl wäre.
– Je nun, mein lieber Kala Rama, sagte der Bruder in dem heiteren, fast aufgeräumten Ton des über der Sache Stehenden: – So wollen wir es doch nicht gerade nennen. Aber freilich, es müßte sonderbar zugehen, wenn wir zwei Adepten diesen gordischen Knoten nicht feiner lösen könnten als auf die Weise jenes Freundes Ajatasattus, des großen Alexander. – Denn auf solche Weise kann man zwar das Schlimmste verhüten, aber nichts Gutes anknüpfen.
Mit freudiger Zuversicht blickte Kala Rama ihm ins Auge.
– Du sprachst von der Tat Amaras – o möchten wir morgen ihre Früchte erleben!
– Mir werden es, denn auch Amanda hab' ich gesehen, wie du weißt. Wohl mußte ich da über die Verblendung des Toren staunen, der, obwohl er dieses Mädchen an seiner Seite hatte, in den trüben und schwülen Liebesrausch mit der Rani versinken konnte. Aber die Wirkung wird um so entscheidender werden, wenn er, aus solchem Sinnestraum erwachend, das Auge aufschlägt und sie entdeckt.
– Ich habe sie schon etwas aufgeklärt, sagte Kala Rama. Sie ist voll von dem, was sie für eine alte Sage hält – oder vielleicht auch das nicht mehr, denn sie ist wie eine Erwachende. – Ein liebliches Wesen und in aller kindlichen Einfalt wie nahe der echten Weisheit!
– Die einst Amara hieß, wie sollte sie anders und in geringerer Form zur Erscheinung kommen? So wenig wie Mahimsasa etwas Geringeres hätte werden können als was du bist und von heute ab in immer freierem Flug werden wirst.
– Und meinst du denn, Meister, daß ich schon jetzt – so wie die Verhältnisse liegen – –
– Wie du dir's gedacht, wie wir es vereinbart haben, so laß es werden, Kala Rama. Dein Haus ist bestellt, dein Neffe in alles eingeweiht und fähig, die Geschäfte zu übernehmen. Also sieh nicht mehr zurück, Lieber, sondern lege getrost diese kleine Sache in meine Hand.
– Du nimmst eine schwere Last von meiner Schulter, Meister! Unendlich freue ich mich auf die Freiheit. Ich habe ja nun nach der Vorstellung des Westens das Jahr des Staubes erreicht, und ich darf sagen: ich bin nicht müßig gewesen. Jetzt bin ich aber auch des Kampfes recht müde – das heißt: ich sehne mich nach einem anderen und reineren Kampf.
– Recht so, Chela – sagte der Bruder. Wie sprach doch die edle und weise Isidasi, als wir zur Weihe dieser Hallen uns letztes Mal hier befanden: »Nicht Frieden, Fürst! Nein – Kampf, neuer Kampf; denn nur der Kämpfer siegt.«
– Ja, sagte Kala Rama in tiefe Erinnerung versunken. – Also sprach Isidasi. Was spricht sie jetzt?
– Sie schweigt.
– Wo wandelt sie?
– Sie ruht.
– Und wir?
Der Bruder legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes und Schülers: – – Noch eine kleine Weile, dann ruhen auch wir.
Kala Rama umfaßte mit einem suchenden Blick das ganze Firmament, wo nach dem Untertauchen des Mondes in der vor dem ersten Grauen des Tages eintretenden pechschwarzen Tiefe des Himmels die ganze Pracht eines tropischen Sternenhimmels strahlte und leuchtete.
Und mit einem tiefen Seufzer sagte er:
– Doch nimmer ruht das All –
Und sein Meister sprach:
– In jedem von uns geht das All zur Rüste, in jedem von uns flammt es wieder zum Kampfe auf. Wohl ihm, in dem es ruht!
– Wohl ihm, in dem es ruht! – wiederholte Kala Rama, und sein Blick suchte über den See hinaus.
Längst war die letzte Bewegung der von den Ruderern erregten Ringwellen unmerklich hingestorben. Still und blank wie ein geschliffenes Spiegelglas, und doch wie von einem Nebel leicht angehaucht, streckte sich die Wasserfläche zu ihren Füßen. In diesem Spiegel ruhte der ganze Sternenhimmel. Aber ein leises Zittern, die Vorahnung des erwachenden Morgenwindes, lief über das Wasser, selbst dem Auge unsichtbar – nur daß alles was dort oben unbeweglich leuchtete, hier unten unstet funkelte. Was hier wie leidenschaftliche Menschenaugen blinzelnd starrte, schien dort blinzellos wie die Götteraugen zu schauen.
Gleichsam an der Grenze dieser beiden, nur durch einen Hauch getrennten Welten – der bewegten und der ruhenden – des Samsara und des Nirvana – standen die beiden Adepten – – und schwiegen.