Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Achtes Kapitel

»Der große Bruder«

Als Arthur, den Namen seines Vetters laut rufend, ihm nacheilte, war er im großen Zweifel, welche Richtung Edmund wohl eingeschlagen hätte. The compounds verrieten nichts. Dunkel und blendend auf einmal, regungslos und stumm breitete der solchermaßen auf anglo-indisch benamste Garten sich schweigend vor ihm und zu beiden Seiten. »Confound the compounds«! Aber wahrscheinlich war Edmund nach dem Landungsplatz am Kioskhügel gelaufen. Schon wollte er nach rechts stürzen, als er bemerkte, daß einige ziemlich entfernte hohe Bambuswedel, die sich links gegen das Licht erhoben, gewaltsam geschüttelt wurden. Schnell entschlossen eilte er in dieser Richtung. Es war ja ein geheimer Ausflug, den Edmund unternahm: das Boot war vom Oberpriester Krishnas geschickt – nichts natürlicher, als daß es an einem versteckten Ort anlegte: Götter und Priester lieben das Verborgene! Dieser Teil der »compounds«The compounds: verdorben aus dem Portugiesischen campana. war ihm gänzlich unbekannt. Denn hier lagen die Hütten der Dienerschaft; und mit der Verachtung gegen alles Eingeborene – Jagdbeute ausgenommen –, die den echten Engländer auszeichnet, hatte er sich wohl gehütet, diesem diminutiven Dorf je einen Besuch abzustatten oder nur in seine Nähe zu kommen.

Er kam an den Bambusrohren vorüber – das dünnste war geknickt. Ein schmaler Fußpfad führte weiter durch das dichte Gebüsch. Er folgte ihm atemlos. Bald ging es jäh abwärts. Wasser blinkte durch das dunkle Laub, wo er es noch nicht vermutete. Jetzt war die kleine Einbuchtung des Sees erreicht, wo das Boot lag, im Begriff, vom Land zu stoßen. Ein kräftiger Sprung brachte noch im letzten Moment den jungen Schotten an Bord. Nach Luft schnappend, setzte er sich im Hintersteven Edmund gegenüber, der mit einem mehr ärgerlichen als bewillkommnenden Blick von seiner Ankunft Notiz nahm. Aber eine sehr begeisterte Aufnahme hatte Arthur so wie so nicht erwartet.

Die vier schwarzen bis auf das weiße Lendentuch nackten Kerle, die vorn im Boote standen und es mit fast lautlosen aber kräftigen Schlägen der kurzen Ruder vorwärts trieben, sahen zwar nicht darnach aus, große Sprachkenntnisse zu besitzen; sie waren aber vom Oberpriester geschickt, und die beiden Engländer waren der Ansicht, daß man in ihrer Lage allem gegenüber, was von dem Brahmanen kam, nicht zu vorsichtig sein könnte. Die Besprechung der brennenden Frage war also ausgeschlossen, und keiner von ihnen spürte Lust, von anderen Dingen zu reden.

So saßen sie denn stumm, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, einander gegenüber, während das leichte Boot pfeilschnell quer über den See schoß, offenbar bestrebt, sobald wie möglich den schützenden Schatten des Palastberges um sich gebreitet zu wissen. Aber hiermit noch nicht zufrieden, lief der Kahn ganz bis an den Fuß des Berges hin, bevor er die Nase nordwärts wandte, und eilte dann so nahe entlang des schroffen Ufers, als ob er sich unter den Sandsteinfelsen verbergen wollte, die manchmal über seinem Wasserpfad hingen, wie kolossale Erker über der Straße.

Edmund blickte seinen Vetter spöttisch an, spitzte die Lippen und pfiff eine alte Weise, deren Worte Arthur gar wohl bekannt waren: –

Now we'r in for it, damme what folly, boys,
To be downhearted, yo ho!

Als aber das Schweigen nach und nach den beiden Vettern zu langweilig wurde, eröffneten sie ein Gespräch über Tagesfragen. – Ob sich wohl das Gerücht bestätigen würde, daß die Sepoy-Regimenter in Nusserabad gemeutert und ihre Offiziere erschossen und sich dann mit dem feindlichen Raja von Youdpore verbündet hätten? wobei Edmund die Meinung äußerte, daß, wenn es sich nicht bestätigte, es bald an irgendeinem anderen Ort losgehen würde, und mit lebhafter Schadenfreude den Zusammenbruch der englischen Machtstellung in Indien prophezeite. Als man sich hierüber hinlänglich entzweit hatte, stellte sich die Frage ein, ob es wahrscheinlich sei, daß Prinzessin Viktoria in absehbarer Zeit den Thron besteige, und inwiefern eine solche Eventualität für das britische Reich ein Segen sein würde. Diese Ansicht vertrat Arthur mit ritterlichem Eifer, um so mehr, als er erwartete, daß Edmund, bei seiner Geringschätzung der Weiber überhaupt, sich entschieden gegen die Thronbesteigung einer Frau erklären würde. Aber sein zynischer Vetter kam nur zu dem Resultat, daß die größte Veränderung die sein würde, daß die Briten von dann ab » God save the queen« statt » God save the king« singen würden: »Falsch singen sie das eine wie das andere, besonders ihr Schotten.«

Mit welchem parthischen Pfeil nach der patriotischen Begeisterung Arthurs – der notorisch ein schlechter Sänger war – Edmund das Gefecht abbrach und wieder zu seiner eigenen musikalischen Leistung überging:

»Now we're in for it – –!«

Sie waren in der Tat offenbar »in for it«, denn das Ziel ihrer Fahrt konnte nicht länger sehr entfernt sein. Sie waren um die Ecke des Palastberges in die nördliche Bucht eingelenkt. Auch hier blieben sie im Schatten des höheren Ufers, wo über den Bäumen der Parkterrassen ein wachsender Silberglanz das baldige Erscheinen des Mondes verhieß. Das Ende der Bucht war schon vorne sichtbar; dort tauchten auch Säulen und Mauerreste empor, und ein Netz von Wasseradern glitzerte durch das dunkle Gebüsch.

Edmund stellte das Pfeifen ein.

Das Boot ließ die Ruinenstätte rechts liegen, den bequemen Landungsplatz zwischen den Säulen verschmähend, drang auf einem schmalen Wasserweg in die Dschangeln hinein, schlüpfte nach einigen Minuten in ein Versteck von überhängendem Gebüsch und blieb liegen. Die beiden Engländer sprangen ans Land und stürmten durch das Gebüsch – Edmund voraus – bis sie eine kleine Lichtung erreichten, wo sie von dem Boot hinlänglich entfernt waren, um nicht gehört werden zu können.

Hier wandte Edmund sich fragend an seinen Vetter, der sofort anfing:

– Ich konnte dich nicht hindern, in das Boot zu springen, ich konnte nur nachspringen, und der Rest war Schweigen – solange die vier Brahmanensklaven um uns waren.

– Gut, daß du schwiegst. Aber was hast du mir denn hier zu sagen, wo ich dich, ehrlich gestanden, nicht brauche?

– O, du brauchst mich, Edmund, denn du mußt mich jetzt hören. Ich habe dir's ja schon gesagt; dein Spiel hier ist aus, nachdem du mit jenem Fremden gesprochen hast.

Edmund lachte:

– Du glaubst wohl gar, ich habe ihm mein Geheimnis ausgeplaudert?

– Mit Worten – o nein! Aber in deinem tiefsten Herzen eingeschlossen, blieb ihm dein Geheimnis so verborgen, wie ein Wurm es in einem Blumenglas ist.

– Ihm? Wem? Du kennst ihn?

Arthur sah vor sich nieder und schüttelte seinen Kopf:

– Täte ich das! sagte er, mit einer seltsamen, kleinlauten Stimme. Edmund stampfte vor Ungeduld.

– Zerklaube mir nicht die Worte! Du weißt wenigstens etwas von ihm. Wer ist er denn?

– Wir nennen ihn den »großen Bruder«.

– Wer? Wohl die okkultistische Gesellschaft in Kalkutta, wo du mich so gern einführen wolltest?

Arthur nickte.

– Er ist einer von den Eurigen?

– O nein. Das heißt, er ist einer von den Adepten, einer von den dreien, die sich herabgelassen haben, unsere Meister zu sein und aus ihrem unerschöpflichen Wissenshort uns so viel zu offenbaren, wie es unserem Standpunkt angemessen ist.

Diese Enthüllung schien einen recht tiefen Eindruck auf Edmund zu machen. Er schwieg eine Weile und starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin.

– Und bist du auch deiner Sache gewiß? Du kannst dich nicht irren? Hast du ihn denn oft gesehen?

– Nie bis jetzt, und ich weiß ja kaum, ob ich jetzt ihn selbst im Fleische gesehen habe.

– Nun, mir scheint doch, er war leibhaftig genug da, meinte Edmund.

Arthur schüttelte zweifelhaft seinen Kopf.

– Ich kann das nicht sagen. Sie kommen selten, sehr selten aus ihrer Einsamkeit heraus, diese großen Adepten. Nichts soll ihnen peinlicher sein, als ihren erhabenen Aufenthalt in den eisumgürteten Gefilden des tibetischen Himalaya zu verlassen und in die schwerfällige, mit schlechtem Magnetismus beladene Atmosphäre des niederen Menschentreibens hinunterzutauchen. Denn um in geistige Verbindung mit den Eingeweihten in unserer Welt zu treten, dazu genügen ihre Gedanken, die sie wortlos übertragen, und denen keine Raumesschranke gewachsen ist. Zuweilen aber lassen sie aus ihrem Körper den feinen Ätherleib hervorgehen, den ätherischen, mit Sprache, Wille und Verstand begabten Doppelgänger, wie man den Halm aus einem Schilfrohr zieht; und in dieser Gestalt erscheinen sie uns.

– Das klingt mir etwas sehr mystisch. Hast du ihn denn selbst schon so gesehen?

– O, dazu bin ich viel zu gering. Wäre ich so weit gewesen, daß ein großer Adept mich einer solchen Gunst gewürdigt hätte, wie hätte ich mich dann jemals in ein so sündhaftes Unternehmen wie dieses verstricken können?

– Du sprichst noch immer in Rätseln. Wie hast du ihn denn erkennen können?

– Weil in unserem Sitzungszimmer ein Bild von ihm hing. Nicht eines, das mit Pinsel und Farben hergestellt war, nein, gleichsam auf das Papier hingezaubert – als wenn durch magische Gewalt ein Spiegelbild auf dem Glas befestigt worden wäre. Denn sie wissen viele uns unbekannte Kräfte der Natur zu benützen, und wie ihre Züge können sie auch ihre Gedanken gleichsam niederfällen – selbst in geschlossene Briefe – – –

Ein plötzliches Licht schien durch diese Worte dem jungen Schotten aufzuleuchten.

– Mein Gott! rief er, Edmund! Jene Schrift in Onkel Archibalds Brief –

– Ja, sie war von ihm, antwortete Edmund ruhig, das weiß ich schon. Er hat darauf hingedeutet.

– Nun, dann mußt du doch aber selber schon einsehen, daß deine Pläne hier gescheitert sind.

– So, das glaubst du? lachte Edmund. Du scheinst mich nur wenig zu kennen.

– Ich kenne dich freilich als tollkühn über die Maßen, aber noch nicht als ganz verrückt. Mit einem solchen Gegner es aufnehmen zu wollen, das ist ja der helle Wahnsinn.

– Und wer sagt dir, daß er überhaupt mein Gegner ist? Weil du in deiner Kurzsichtigkeit meine dreiste Tat als »Sünde« betrachtest, ebenso wie auch ein Adept für dich ein Katechismusheld ist, anstatt ein Riesenmensch, der, wie die Brahmanen sagen, jenseit des Guten und des Bösen steht.

– Das sind Sophismen, unterbrach ihn Arthur lebhaft. Du weißt es selber besser; du fühlst es wohl in deinem Herzen, daß du den Gegner gesehen hast.

– Nun wohl, möge es so sein, rief Edmund; um so besser! Ich sage dir, wenn alle Zauberer Indiens und Tibets mir jetzt entgegenständen, um so mehr lockte mich das Ziel. Denn schön ist die gewitterschwangere Tropennacht der Hinduliebe, schöner noch als die ist der Herrschertag, der mit der Rajakrone mir leuchtet; aber wahrlich: schöner als jene beiden ist das geheimnisvolle Zwitterlicht einer drohenden Dämmerungsstunde, das mit den Schatten alter, unaussprechlicher Mysterien mich umdüstert! Und darum glaube ich dir's ja auch, daß dieser Fremde ein Adept des höchsten, verborgenen Wissens ist – glaube es, weil ich es wünsche: Eine solche Macht in Waffen gegen sich zu rufen, das, denke ich, wäre doch einmal etwas.

– Du bist von Sinnen!

– O, mein Gehörsinn ist scharf genug. Hörst du nicht auch Stimmen? Es ist die Rani und ihre Ayah – gewiß eine ebenso bequeme Person wie Julias Amme. Und darum, leb' wohl!

Aber Arthur hielt ihn krampfhaft am Ärmel fest.

– Noch ist es Zeit, Edmund! Du hast eine Warnung bekommen, wie selten ein Mann. Laß diese unselige Rani und ihre Amme ihr törichtes Spiel treiben! Schnell zum Boote zurück und heiße den vier Priestersklaven, dich, so schnell wie sie rudern können, nach Hause zu bringen, dann löst sich der ganze grausige Spuk hier von selber auf. Du gehst nach Afghanistan und –

– Und heirate deine Amanda und bin der langweilige Lump, für den du mich zu halten scheinst ... Nein, nein, mir ist es anders bestimmt!

Er brauchte sich nicht loszureißen. Bei dem Namen Amandas hatte die Hand des Vetters ihn von selber losgelassen, und Edmund verschwand im Dunkel der Dschangeln in der Richtung, wo das Wasser rauschte und gurgelte.


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