Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Zwölftes Kapitel

Aus alten Tagen

Edmunds Blick folgte ihr, als sie hinausging, und blieb an der Tür haften, die sich nach ihr schloß.

»Wie kommt es«, dachte er, »daß ich monatelang mit diesem Mädchen unter einem Dache lebe – von der See- und Flußreise gar nicht zu reden – und sie erst jetzt so recht entdecke? Welch' Temperament, welch' lautere Flamme der Begeisterung, des Idealismus – und welcher Eigensinn! Wie hübsch dazu, sogar schön, besonders wenn sie so spricht. Bin ich denn blind gewesen? Nur geblendet, wenigstens in der letzten Zeit. Meine königliche Lotusrose – wie unnahbar auf abgrundtiefem Wasser schwimmend – hat meinen Blick so fest auf sich gezaubert, daß ich der Hyazinthe, die im Grase neben meinem Fuße wuchs, nicht achtete.«

»Aber freilich heute mußte ich sie entdecken, wie ich dem guten Arthur sagte – armer Kerl, ob diese Blume wohl für ihn duftet? – es schien mir nicht, als ob sie sich viel um ihn kümmerte! – Ihr Aufatmen, der freudige, halb erstickte Schrei, als sie mich hier auf der Schwelle stehen sah, nachdem sie, wie ich jetzt weiß, in tausend Ängsten um mich geschwebt! – und wie huschten alle Schatten dieser Ängste über ihr Gesicht, während ich ihr jetzt alles erzählte, und wie reizend kleidete sie das – –!«

Edmund meinte den Grund gefunden zu haben, warum das Bild des jungen Mädchens ihn jetzt so mächtig erfüllte. Hätte er die Fähigkeit besessen, tiefer in sich zu blicken, würde er aber entdeckt haben, daß der eigentliche Grund ganz wo anders steckte. Daß ein junges Mädchen, mit dem er so lange tagtäglich zusammen gewesen war, für ihn sehr eingenommen sei, daß seine Todesgefahr ihr Innerstes in den ängstlichsten Aufruhr versetzen müsse, war für einen Mann mit Edmunds natürlichem Selbstbewußtsein und mit seinen Lebenserfahrungen etwas so Selbstverständliches, daß, wenn jemand behauptet hätte, Edmund könnte nicht durch ein paar Worte und Blicke die Zündstoffe in diesem kleinen deutschen Mädchenherzen zu hellen Flammen entfachen, er nur ein mitleidiges Lächeln für eine so naive Ansicht gehabt hätte. Über das Selbstverständliche regt man sich nicht auf: kaum daß man es beachtet. Aber dies Mädchen hatte sich nicht geschmeichelt gefühlt, als er nach ihrem Urteil über seine Gedichte fragte; sie hatte nicht mit schüchterner Verlegenheit einige Komplimente hervorgestottert, als er solche erwartete, ja fast herausforderte; im Gegenteil, sie hatte ihn an seinem empfindlichsten Punkt verwundet. Diese zarten, aber keineswegs nach dem Cupido-Bogen gezeichneten Lippen hatten nicht nur bebend vor Erregung ihn gewarnt – sie hatten auch, im Spottlächeln gekräuselt, ihm einen beißenden, fast epigrammatischen Sarkasmus ins Gesicht geschleudert. Diese klaren, braunen Augen hatten nicht nur im Schatten seiner Fährlichkeiten ihre Leuchtkraft eingebüßt – sie hatten auch spöttisch sprühend über ihn gelacht – – –!

Das war etwas Neues. Dieser Stachel saß tief drinnen und nagte und reizte ihn auf – sowenig er sich das eingestehen wollte. Und dies war der nächste, wenn auch lange nicht der tiefste Grund, weshalb er sich jetzt unter dem Einfluß dieses Frauenwesens befand, und ihr Bild ihm nicht aus dem Sinn wollte.

Nach seiner Gewohnheit schloß er die Augen, um dies Bild deutlicher zu sehen.

Da stand sie wieder vor ihm, wie in dem Augenblick, als sie nach der Warnung weggehen wollte, und er sie mit seiner Frage zurückhielt. Jugendlich schlank war sie, aber die geschlossene und volle Kraft aller Formen zeugte davon, daß sie von einem tüchtigen Stock käme. Vor allem hatten ihre Schultern – weder schwächlich dreieckig abfallend noch viereckig stehend – jene harmonische Rundung, die man so selten findet – so recht ein Paar Schultern, um den Arm darum zu legen, und gerade in der passenden Höhe, wie Edmund jetzt fand, obwohl er sonst wohl noch höher gewachsene Frauen vorgezogen hatte. Vom vierschrötigen Vater hatte ihr Äußeres herzlich wenig; sie mußte ihrer früh verstorbenen Mutter ähnlich sehen, und aus irgendeinem unsinnigen Grund war es ihm angenehm zu wissen, daß diese von altem deutschen Adel gewesen. Er fand Rasse in diesem Gesicht, das jenen viereckigen Typus aufwies, den man in den Übergangsgebieten zwischen Europa und Asien trifft – nur daß hier die Kontur viel sanfter und feiner war, von einer durch und durch beseelten Linienführung, die im leichten und weichen Schwung des kurzen Kinns ihm um so mehr behagte, als das lange Kinn der typischen englischen Lady ihm immer langweilig vorgekommen war.

Ganz besonders aber wunderte er sich über ihre Augen, die ihm früher nie aufgefallen waren.

»Wie unkonventionell sind diese Augen«, sagte er sich. »Wenn es für uns ein unbestrittenes Dogma gab, war es dann nicht dies, daß zu einem schönen Frauengesicht lange, wie mit dem Pinsel gezeichnete Brauen gehörten, wie bei der Haidée oder der Gulnare dort? Meine Griechinnen hatten das, und die Rani hier – der Pinsel etwas tief getüncht freilich, und in einem Strich geführt: – ein Adler, der über den Abgründen der Augen schwebt. Und hier nur zwei wohl getrennte, braune Gedankenstriche. Und sonderbar! gerade das gefällt mir nun: hinter diesen Gedankenstrichen stecken Gedanken!

»Und nun die Augen selbst! Groß sind sie nicht, aber wie leuchtend! Olivbraun – fast die berühmten »grünen« Augen der Spanierinnen. But, damn their eyes! die Südländerinnen haben nie diese lebendige Durchsichtigkeit – wie im Waldesschatten dahineilendes Wasser! Und vor allem der Ausdruck, wie sie mich so ansah, als sie mir ins Gewissen reden wollte und vom selbstlosen Dienen der Menschheit sprach. – Woran mich das nur erinnert – so lebhaft, so – – Es ist zum Verrücktwerden – es äfft und neckt mich! jeden Augenblick meine ich, die Ähnlichkeit ergreifen und mit Namen nennen zu können, und dann ist sie wieder entflohen – über die Schwelle der Erinnerung weg und verschwunden. Ähnlichkeit? aber ist es auch Ähnlichkeit? ist es nicht vielmehr – «Identität des Verschiedenen«? Woher kommt mir nun der Ausdruck angeflogen? Richtig, der Professor brauchte ihn kürzlich, als wir über die Seelenwanderungslehre sprachen: die Formel der Wiedergeburt: dasselbe in anderer Erscheinung. Gut! und was war denn die erste Erscheinung? woher kenne ich den Ausdruck dieses Blickes? –

»Nein! hol' mich der Teufel, ob ich jetzt länger in der Erinnerungswildnis nach einem Ähnlichkeitsspuk herumjagen will, wie der von Puck genasführte Lysander!«

Mit einer ungeduldigen Bewegung ergriff er den Brief, den er gerade hatte öffnen wollen, als sie hereintrat. Das Kuvert war »London« gestempelt; aber nicht nach der nebelgrauen Metropole der Themse rief der Brief ihn zurück, sondern nach der sonnigen Stadt am Arno, wo er unvergeßliche Jugendtage in der Gesellschaft zweier unsterblicher Dichter verlebt hatte, nach dem lieblichen, stillen, von der Größe verlassenen, in wehmütiger Schönheit ruhenden Pisa. Der Brief war von der Witwe eines dieser Dichter – von Mary Wollstonecraft Shelley. Wie oft hatte er damals ein Billett mit dieser festen und doch so anmutsvollen Handschrift bekommen, das nur ein paar Worte enthielt: – »Wir sehen Sie doch heute?« – »Kommen sie heute Abend?« – wenige Worte – aber welche Verheißungen von neubelebenden, geistigen Eindrücken enthielten sie! Eindrücke, wie sie nur wenigen Sterblichen zuteil werden: denn das Gespräch dieses neunundzwanzigjährigen inspirierten Knaben, in dem der Genius der Poesie sich verkörpert zu haben schien, war mit den Improvisationen der größten Tonsetzer vergleichbar, von deren Zauber selbst ihre fertigen Meisterwerte kaum einen Begriff geben können.

Es schien ihm, indem er diese Schriftzüge erblickte, als ob er das schrille, fröhliche Pfeifen der Schwalben vernähme, die zur Abendzeit in solcher Menge über Pisas Quais kreisend hin und her schwirrten, wie er sie sonst nie gesehen hatte; daß er den kühlenden Hauch des Arno verspüre, dessen gelbe Fluten, mit dem Glanze der letzten Sonnenstrahlen in ihre Wirbel verwoben, unter der Marmorbrücke heranrauschten, worauf er stand; hinter ihm der im goldenen Abendlicht gebadete Lungarno Medizeo, in dessen Häuserkurve Palazzo Lanfranchis ernste, vom Geiste Michelangelos geprägte Fassade hervorleuchtete und ihm noch zu rufen schien. Das Echo seiner eisenbeschlagenen Türe war noch in seinem Ohr, die Kälte der großen düsteren Vorhalle in seinem Rücken und in seinem Sinne Lord Byrons prickelnde Konversation, die in dem »devilmay-care« Stil seines »Don Juan« mit allem zwischen Himmel und Erde und mit diesen selbst Ball spielte, und ihn immer unzufrieden mit sich selbst und mit seinem Dichterfreunde entließ. Doch das lag nun hinter ihm, und er hätte wie ein freigelassener Schuljunge vor Freude aufschreien mögen, als er nach Casa Frasi hinübereilte, wo in der kleinen, hellen Wohnung der Shelleys eine kongenialere Atmosphäre ihn erwartete, in deren Herzenswärme alle die Sympathien und Gefühle, die der »Pilger« drüben im düsteren Palazzo als törichte Illusionen denunzierte, sich zur vollsten Blüte entfalteten. Er meinte den kleinen, geistsprühenden Kopf des göttlichen Poeten vor sich zu sehen und das blonde, liebe Gesicht Marys, deren stiller Reiz in seinem ungestümen Herzen unvermerkt eine zarte Schwärmerei erweckte, die ihn später sogar dazu brachte, ihr seine Hand anzubieten, freilich nur um die Ablehnung zu erhalten: sie würde nie den Namen Shelley gegen einen anderen umtauschen.

O wie brachte jetzt der Anblick dieser Zeilen von der Jugendfreundin ihm jene goldenen Tage so lebhaft zurück, auf einmal so greifbar nahe und doch wieder so unendlich fern, als ob sie einem anderen Leben angehörten; – als wäre er hier in Indien wiedergeboren worden und sähe zurück auf ein Leben in Italien. Und wie reich, wie unbegreiflich reich schien ihm jetzt jenes Leben! Es war Liebe, Poesie, Freundschaft, Enthusiasmus, Begeisterung für die höchsten Ziele der Menschheit, für den Kampf der Licht-Geister gegen die Finsternis des Aberglaubens, für Recht und Freiheit – es war Jugend! ... Und einen Augenblick war es ihm, als müsse er den Kopf auf den Tisch legen und schluchzen, schluchzen in den melodischen Klagelauten, die ihm sein unsterblicher Freund, der Pilger, in jenem pompös-düsteren Palastraum vorgetragen hatte:

No more – no more – Oh! never more on me
The freshness of the heart can fall like dew ...

»Nein«, murmelte er mit einer unmutigen Bewegung, wie um seine Träumerei abzuschütteln, »ein sentimentaler Konspirator, – das fehlte nur noch! Laß uns doch nun endlich sehen, wie es der guten Mary geht.«

Der guten Mary ging es nicht sehr gut. Aber die edle, hartgeprüfte Frau hatte nur wenige Zeilen übrig für ihr eigenes trauriges Leben, für die Armut, in die der Haß ihres Schwiegervaters sie mit eiserner Hand hinunterdrückte. Was dann folgte, versetzte ihn mit einem Ruck wieder mitten in die Zeit zurück, von deren Traumpfad seine Gedanken sich soeben mit Gewalt losgerissen hatten.

»Dein letzter Brief, lieber Tre, enthielt einen Satz, der mir sehr lebhaft unsere ersten Pisaer Tage zurückrief, vielleicht die glücklichsten meines Lebens. »Da wir arm sind«, schreibst du, »so sind die Reichen unser Erbe, und wir haben das gute Recht sie auszuplündern und auf jede Weise auszunutzen.« Nun, ist das nicht ein so gutes Beispiel, wie irgendeines der Paradoxen, womit du uns damals überraschtest, von jener Corsaren-Moral, über die sich Shelley zuerst empörte und dann lachte, während sie AlbéAlbé, Spitzname Lord Byrons im Shelleyschen Kreise. auf das höchste entzückte. »Bei Jupiter, rief er, dieser Corsar ist noch verruchter als ich selber, ihm ist nicht einmal das Geld heilig.« Aber er hatte unrecht, denn vieles war dir noch heilig, wofür er nur ein Achselzucken oder einen Witz hatte. Wenn ich an dich denke, wie du damals zwischen den beiden Dichtern hin und her pendeltest, da kommt es mir vor, als ob Shelley stets dein guter Genius gewesen wäre, und Byron nicht selten dein böser. Es will mich auch bedünken, als merkte man es dir später an, daß dieser gute Genius dich verlassen hatte. Ach, merkt man es doch uns allen an, daß er uns verlassen hat! Wie öde war es in unserem Kreis, sobald die Wellen des Mittelmeeres sich über ihm geschlossen hatten! Aber bedenken wir nur immer, daß es auf uns selber ankommt, ob er uns wirklich verlassen hat. Und du, lieber Freund, bist ja auf immer als sein Eigentum gestempelt. Was ich jetzt sage, würden viele als Blasphemie auffassen, du aber nicht: Es hat Heilige gegeben, die mit den Wundenmalen des Heilands stigmatisiert waren, und ein solches Mal hast du davon getragen in dem Augenblick, als du aus dem Scheiterhaufen das noch unversehrte Herz Shelleys rettetest cor cordis cordium!cor cordium (das Herz der Herzen) ist die Inschrift, die Mary auf Shelleys Grabstein setzen ließ. Als ich dir zum letzten Mal die Hand drückte, fühlte ich noch die Narbe jener alten Brandwunde, und ich sagte mir: dieser wenigstens kann nicht untreu werden – kann nie jenem göttlichen Dichter und Propheten oder seinem Geiste untreu werden...«

Edmund ließ mit einem tiefen Seufzer den Brief in den Schoß sinken, und unwillkürlich suchte sein Blick ein großes Aquarell, das an der hinteren Wand des Zimmers hing: Die Bogenlinie einer flachen sandigen Küste mit unabsehbarem dichtem Pinienwalde, worüber blaue Berge ihre hier und dort weißlich glitzernden Gipfel erheben; im Vordergrunde, mitten auf dem Sande zwischen Wald und Wasser, flammt ein Scheiterhaufen, von einigen Männern umstanden; ein kleiner Zweimaster spiegelt seine weißen Segel in den blauen Fluten. Es war nur ein mäßiges Kunstwerk, offenbar mit großer Treue von Dilettantenhand hergestellt, aber das warme, fast glühende Licht, das von außen hereinströmte, verlieh ihm eine täuschende Wirklichkeitskraft, und der Scheiterhaufen, der, bei nüchternem Tageslicht gesehen, nur einige gelbe und rote Farbenkleckse war, schien jetzt Edmund so feurig zu lodern und zu prasseln, wie damals als Leigh Hunt die Weinlibation in seine Flammen goß und Byron über die Asche seines Dichterbruders homerische Verse rezitierte, während er selbst seine Hand wagte, um jenes heilige, wie durch ein Wunder bewahrte Herz den Gluten zu entreißen.

– Ihm treu, seinem Geiste treu! – – stöhnte er leise, ohne den Blick von dieser Szene wegwenden zu können.

Als er endlich wieder den Brief vornahm, war zu seiner Beruhigung die Fortsetzung, wie es schien, nur eine leichte Plauderei: Stadtklatsch und Neuigkeiten aus dem englischen High Life. »Kaptain Robert und seine Frau gingen nach Paris und ruinierten sich, so daß sie jetzt in Zurückgezogenheit in Nordengland leben müssen. Mrs. R. S. macht Bulwer den Hof, zur endlosen Eifersucht Mrs. Bulwers, und die ganze Stadt spricht von nichts anderem. Bulwer aber spielt den Liebenswürdigen seiner eigenen Frau gegenüber, die allerdings alle Mrs. R. S. in der Welt durch Schönheit weit überstrahlt. Er brütet jetzt über einem mystischen Roman und sagt: er beneide dich, weil du jetzt im alten Lande der Mysterien bist. Am Ende schreibst du auch einen jetzt? Weißt du noch, wie Shelley eines Abends in Casa Frasi, als du uns gerade ein paar Gedichte vorgelesen hattest, dich fragte, warum du immer Byrons Verse nachahmen wolltest. »Weil es leichter ist, sie nachzuahmen, als die deinigen«, gabst du zur Antwort. »Warum überhaupt nachahmen«, sagte er dann, »warum überhaupt Poesie? Du hast viel von der Welt gesehen, ich glaube, du solltest einen Roman schreiben.«

Ein neues Licht wurde ihm bei diesen Worten plötzlich angezündet.

Warum Byron nachahmen? Diese Worte Shelleys, waren sie nicht auch die Amandas? Und war das die einzige Ähnlichkeit? Shelley war es ja, an den sie ihn erinnert hatte, ohne daß er sich darüber klar werden konnte, was es denn eigentlich war, das ihren Worten und ihrem Wesen einen solchen vertrauten Hintergrund gab. Shelley – sein guter Genius – wie er leibte und lebte, wenn er irgendeine ihm heilige Sache verfochten hatte. Ihr Auge – freilich hatte es nicht jene rehartige Größe und wilde Tiefe wie das des Poeten; aber sein Blick leuchtete mit derselben fast übermenschlichen Gradheit und Ehrlichkeit; in ihrer Stimme klang dasselbe echte Glockenerz der Begeisterung: »Wenn es jemand gegeben wird, der Menschheit zu dienen, Segen zu verbreiten und Greueltaten zu verhüten, und bliebe er selbst dabei auch ganz unbekannt, welch' seliges, erhebendes Gefühl müßte das sein!« Von wem hatte er wohl solche Worte vernommen, außer von Shelley allein? »Bei Gott, das Mädchen hat recht!« rief er erregt. »Bin ich deshalb der vertraute Freund zweier der größten Dichter der Welt gewesen, um selbst als ein mäßiger, vielleicht gar ein schlechter Poet zu denken?« Er nahm den kleinen grünen Band, der auf dem Tische lag, schlug ihn aufs Geratewohl auf, las einige Zeilen und warf ihn wie angeekelt wieder von sich.

Ja, Amanda hatte recht. Sie wollte nicht Verse, sie wollte eine Tat. Nun, die kann sie haben, aber welche? – hatte sie auch dort recht? Die Tat, an die er dachte, von der wußte sie zwar nichts, aber könnte ihr Urteil darüber zweifelhaft sein? Für eine ganz andere Tat war sie begeistert eingetreten. Hatte sie auch da recht? Er wollte, er konnte das nicht zugestehen.

Ein aufgescheuchter Schwarm von Schmähungen gegen den Staat, der jede freie individuelle Bewegung unterdrückte, jeden Funken genialen Strebens zerstampfte – und vor allem gegen dies Albion, das seit Pitts Tagen unentwegt an der Spitze der Reaktion ging, das seine größten Söhne verbannte, seine beiden Dichterdioskuren geächtet hatte, das zu dem gemeinen Egoismus aller Staaten auch noch die Heuchelei seiner feigen, unter der Flagge der Zivilisation segelnden Krämerpolitik hinzufügte – eine wahre Dithyrambe durchstürmte in abgegriffenen, poetischen und rhetorischen Phrasen der englischen Sturm- und Drangperiode sein erhitztes Gehirn. Und dieser Politik zu dienen – das wäre seine Aufgabe? Ein junges Mädchen, das all dies nicht kannte, konnte sich das wohl einbilden – – er nicht! Im Gegenteil: Diesem Gifthauch mit Gewitterkraft entgegenzustürmen, ein Feuer lebendigen Geistes anzufachen, das jenen Hauch wegwehte, wo er im Begriff stand, Altes und Schönes, Hochpoetisches anzufressen und in den ekelhaften Sumpf moderner Nichtigkeiten versinken zu lassen – war es nicht gerade dies, was er tun wollte, wenn er hier fest im Sattel säße? Warum sollte nicht dies kleine Land unter seiner Führung der Ausgangspunkt einer Regeneration Indiens werden? Durch Verbindung mit den kriegerischen Sikhs im Norden, mit jenen Kriegern, die Kala Rama mit Cromwells »Ironsides« verglichen hatte, mußte es möglich sein, eine Macht zu bilden, die alle Krämer der indischen Kompagnie mit ihren Söldnerheeren schließlich gänzlich aus diesem prächtigen alten Lande wegjagte ...

Und war er nicht der Mann dazu? Durch das alte Rajablut in seinen Adern mit diesem Indien inniglich verknüpft, und auch mit der Energie des Westens als zweitem köstlichen Erbteil ausgerüstet?...

So berauschte er seine Phantasie mit heroischen Zukunftsvisionen, um den unschönen Zug eines hinterlistigen Verrates mit glänzenden Farben zu übertünchen. Was bedeutet denn schließlich ein solcher sogenannter Verrat in diesem Lande der steten Palastrevolutionen, hier, wo in ganzen Dynastien kein Prinz den Thron bestieg, ohne seinen Vater im Kerker verschmachten zu lassen und seine Brüder hinzumorden? – Und dieser Selbstbetrug gelang ihm so gut, daß es ihm kaum auffiel, wie diese politisch-heroische Wendung seines Vorhabens doch erst nach dem Gespräch mit einem jungen Mädchen eingetreten war, während er bis dahin die ganze Umwälzung nur in dem Lichte eines besonders romantischen Abenteuers betrachtet hatte. Noch weniger freilich fiel es ihm auf, daß er, der mit wohlfeilen Invektiven gegen den Staat anfing, nunmehr mit einem Staate schloß, dessen Mittelpunkt freilich er selber war.

Eine wilde, kriegerische Musik weckte ihn aus seinen Träumen. Das war der abendliche naubut, der oben vom Palasttor ertönte, wo einige Soldaten aus Leibeskräften die kupfernen Heerpauken bearbeiteten und in die königlichen nakârah-Hörner bliesen, um die gute Stadt zu benachrichtigen, daß auch dieser Sonnenuntergang Seine Majestät, den Maharaja Navina Pala Dhyan Singh in seinem Residenzpalast noch vorfinden würde und daß allerhöchst dieselbe nicht etwa fern von seiner getreuen Hauptstadt in irgendeinem seiner Jagdschlösser weile.

Noch dieser Sonnenuntergang, und auch noch der nächste – und dann? – Würde dann auch noch der naubut die Anwesenheit Navina Dhyan Singhs verkünden oder nicht vielmehr die eines neuen Raja?

Edmund sah vor sich die wenig imponierende Gestalt Dhyan Singhs, in ihrer pantoffeligen und schlafrockmäßigen Hülle, das in all seiner Bärtigkeit weichliche Gesicht, nicht unähnlich dem Chandra Singhs, nur mit schlafferen Zügen, in welchen die Wirkungen des Opiums sich tiefer eingenistet hatten – die typische Erscheinung der Dutzend-Rajas, wie sie überall in Indien teils »regierend«, teils abgefunden vegetierten, nicht besser und nicht schlimmer als die anderen, höchstens mit dem negativen Verdienste ausgestaltet, einen Klügeren walten zu lassen. Und es kam ihm fast lächerlich vor, wenn jemand ihm das Recht bestreiten wollte, einen solchen Schattenkönig zur Seite zu schieben und sich an seine Stelle zu setzen – um dem erstaunten Indien zu zeigen, was ein Mann auf dem Thron sei.

Die kriegerischen Töne der Hörner und Pauken verklangen.

Erregt vom Rausche seiner Selbstsuggestion, den sie noch gesteigert hatten, sprang er auf und wandte sich an das Byron-Bild wie an einen leibhaftig Anwesenden: –

– Ja, alter Freund, George Gordon Noël Byron, oft warst du ebenso viel Prophet wie Poet, und wahrlich niemals war der Sehergeist kräftiger über dir als in jener Nacht, auf dem Verdeck des »Herkules«, unter der Küste Kephalonias! denn so wahr es deine Züge sind, die mir so bewegt entgegenleuchten, meine indische Krone will ich haben!

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein plötzlicher Schatten sich über seine erhobene Stimmung zu senken schien und ein kaltes Schauern sein soeben vor Enthusiasmus glühendes Herz zusammenpreßte.

– Wie? – Werde ich sie nicht haben? – Lächelst du spöttisch, – schüttelst gar den Kopf? – Du wärst kein Seher gewesen?

Ihm kam es vor, als sei er nicht mehr allein. War es die Lebendigkeit des gemalten Bildes, das jetzt, von dem hereinströmenden glühenden Abendlicht gestreift, aus dem Rahmen zu treten schien? – Oder – – ? –

Edmund wandte sich um – und taumelte ein paar Schritte zurück.


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