Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die wichtigsten Lehrsätze.

Langatmige Abhandlungen sind in einem kurzen Leitfaden nicht angebracht, ich beschränke mich daher auf das Allernotwendigste und gebe dies in Lehrsätzen, die sich dem Gedächtnis leicht einprägen.

Die drei ersten Lehrsätze stammen von keinem Geringeren als Professor Bernheim, die übrigen sind Produkte des Studiums der einschlägigen Literatur und vor allen Dingen auch eigener praktischer Erfahrungen Eine Bestätigung meiner Erfahrungen erhielt ich sowohl durch mehrere mir befreundete Aerzte, wie auch durch meine Mitarbeiter, die Herren E. Bartsch, Jacques Groll, Rudolf Geist, E. Kampmann und die Heilpädagogen Robert Ernst, Berlin, R. Engel, Bonn und Karl Winzer, Berlin, die über ein großes Beobachtungsmaterial verfügen.. Einzelne Lehrsätze finden sich in den weiteren Kapiteln des Buches noch näher ausgeführt.

1. Hypnotisiere niemals ein Subjekt ohne seine Zustimmung oder die Einwilligung derer, welche Autorität über dasselbe besitzen.

2. Führe niemals Schlaf herbei, ausgenommen in Gegenwart eines Dritten: des Vaters, Gatten oder einer anderen Vertrauensperson, die sowohl dem Hypnotiseur als auch dem Hypnotisierten Sicherheit zu bieten vermag. Man wird sich auf diese Weise gegen jede peinliche Zumutung, gegen jede spätere Anklage, gegen jeden Verdacht eines Versuchs, der mit der Behandlung des Kranken nichts zu tun hat, schützen.

3. Gib dem Hypnotisierten ohne seine Zustimmung nicht andere Suggestionen, als für seine Heilung notwendig sind. Der Arzt hat keine anderen Rechte, als die ihm der Kranke einräumt; er muß sich auf die therapeutische Suggestion beschränken und sich ohne förmliche Einwilligung des Kranken jeden anderen Versuch, sei er auch im Interesse der Wissenschaft angestellt, versagen. Auch soll der Hypnotiseur seine Autorität über den Kranken nicht dazu benutzen, um seine Einwilligung zu erlangen, wenn er von dem Versuch, den er anzustellen gedenkt, die mindeste Unannehmlichkeit erwartet.

4. Bei der Beurteilung des Einflusses des hypnotischen Schlafes und der Suggestion muß die Art der Einschläferung berücksichtigt werden.

5. Der schädliche Einfluß des Hypnotisierens äußert sich als unabhängig von dem Verhalten des Subjekts gegenüber der Einschläferung, wobei die Angst vor dem Hypnotisiertwerden mit gleichzeitiger Vorstellung der zu erwartenden Folgen keine geringe Rolle spielt.

6. Eine, wenn auch ohne besondere Schärfe, ohne den Willen des Subjekts hervorgerufene Einschläferung kann ungünstige Folgen nach sich ziehen.

7. Die Suggestion soll immer vorsichtig geübt werden und muß man sich in gewissen Fällen nur mit der Wirkung des hypnotischen Schlafes begnügen.

8. Die Suggestionen müssen nur von einer Idee ausgehen und den Lebensverhältnissen des Subjekts angepaßt werden; d. h. es darf dem Schlafenden nicht für ihn Unausführbares befohlen werden.

siehe Bildunterschrift

Abbildung 2.
Einschläferung durch mesmerische Striche.

9. Teilweise zur Entfernung einzelner Krankheitssymptome ausgeführte Suggestionen müssen mit den allgemeinen, auf Heilung hinzielenden im Zusammenhang stehen.

10. Alle Suggestionen, deren dauernder Einfluß nicht wünschenswert ist, müssen abgeändert bezw. aufgehoben werden, was bei etwa anzustellenden Versuchen besonders wichtig ist.

11. In einigen Fällen tritt nach mehrfach angestellter Einschläferung eine Neigung zur Selbsteinschläferung auf, wogegen das Verbot, einzuschlafen, suggeriert werden muß.

12. Die Hypnose ist kein krankhafter Zustand, keine Abart der Hysterie, sondern ein physiologischer Zustand in gleicher Weise wie der natürliche Schlaf, aus dem sie entstehen kann. Ja, es ist unzweifelhaft nachgewiesen, daß der hypnotische und der gewöhnliche Schlaf von einer und derselben Art sind, weil vom Anfang bis zum Ende die Erscheinungen bei dem einen wie bei dem andern völlig dieselben sind und das Aufhören des willkürlichen Denkens beide Zustände charakterisiert. Demnach also: Schlaf plus Rapport = Hypnose. Hypnose minus Rapport = Schlaf.

siehe Bildunterschrift

Abbildung 3.
Gessmanns Methode: Du kannst meine Hand nicht loslassen!

13. Schlaf und Hypnose unterscheiden sich nur darin, daß der gewöhnliche Schlaf eintritt, indem man sich die Absicht desselben selbst eingibt (Auto-Suggestion), während beim hypnotischen Schlafe die Eingebung meist durch einen andern geschieht (Fremd-Suggestion).

14. Der hohe Wert der Hypnose liegt in ihrer Wirksamkeit als beruhigender und kräftigender Schlaf, als Zustand erhöhter Empfänglichkeit für seelische (psychische) Beeinflussung und Umstimmung, und endlich als Zustand gesteigerten Erinnerungsvermögens, wodurch die Diagnose funktioneller Störungen erleichtert wird.

15. Der hervorgerufene Schlaf hängt nicht vom Hypnotiseur, sondern vom Hypnotisierten ab; es ist sein eigener Glaube, der ihn einschlafen macht.

16. Es kann niemand gegen seinen Willen hypnotisiert werden, der der Aufforderung widersteht. Eine Hypnotisierung ohne den Willen des Subjekts dagegen ist möglich.

17. Schlafdauer und Schlaftiefe liegen in den Händen des Hypnotiseurs.

18. Um den Schlaf zu vertiefen, wecke den Hypnotisierten plötzlich, aber mit Ruhe und ohne ihn zu erschrecken und schläfere ihn sofort wieder ein. Auch mesmerische Striche vertiefen den Schlaf.

19. Trage Sorge, daß der zu Hypnotisierende nicht durch schwere und enganliegende Kleider gedrückt wird. Veranlasse Damen, die Korsetts zu lüften oder gänzlich abzulegen. Niemals hypnotisiere enggeschnürte Damen, da oft Zirkulationsstörungen vorliegen, deren Tragweite du nicht zu ermessen vermagst.

20. Intelligente Menschen, rege, feurige Charaktere mit lebhafter Phantasie, ferner Leute, die gewöhnt sind, sich zu beherrschen, oder aber an Gehorsam gewöhnte (Soldaten, Arbeiter, Kadetten usw.), sind leicht zu hypnotisieren. Merkwürdigerweise fand ich die meisten Schriftsetzer und viele Kellner hypnotisierbar.

21. Leute, die mit den Augen blinzeln, wenn sie uns anblicken, sind meist schwer hypnotisierbar. – Greise mit schlaffem Gehirn, Idioten, Maniakalische, Hypochondrische und Leute, die ihre Eindrücke zergliedern, sind schwer hypnotisierbar.

22. Hysterische und Neurastheniker sind ungeeignete Versuchsobjekte, denn hysterieforme oder autosuggestiv erzeugte Symptome erschweren die reine Beobachtung und sind imstande, sogar einen geübten Experimentator irre zu führen.

23. Gesunde, willenskräftige, nicht nervöse Menschen sind am leichtesten hypnotisierbar.

24. Nur wenige Menschen sind gleich beim ersten Versuch hypnotisierbar, gewöhnlich sind 3 bis 4, oft 20 bis 30 Versuche notwendig.

25. Kinder von 4-15 Jahren sind fast ohne Ausnahme hypnotisierbar; doch sind gerade Kinder sehr zur Verstellung geneigt und versuchen oft mit überraschender Geschicklichkeit den Hypnotiseur zu täuschen. Bis zum 30. Jahre ist die Empfänglichkeit besonders groß, danach nimmt sie ab, ohne indessen gänzlich zu verschwinden.

26. Es gibt viele Personen, die sich einbilden, nicht geschlafen zu haben, weil sie alles hörten. Sie halten sich selbst für Simulanten und man hat Mühe, sie davon zu überzeugen, daß sie beeinflußt waren.

27. Es kommt vor, daß Personen, welche früher mit Erfolg hypnotisiert wurden, später oft keine Empfänglichkeit zeigen.

28. Vorsicht bei der Wahl des Subjekts: Herzleidende, Schwerkranke, Epileptische, Hysterische weise der Laie zurück, ebenso solche, bei denen ein psychologischer Blick Neigung zu autosuggestiver Selbständigkeit findet. Ist aber die hypnotische Behandlung nicht zu umgehen, ein geeigneter Arzt nicht zu haben, so wende man nur die Methoden 21, 22, 23, 24 oder 25 an und beschränke sich auf das Notwendigste.

29. Leute, die als Trance-Medien bei spiritistischen Sitzungen gedient haben, sind leicht hypnotisierbar, aber sehr schwer suggestibel. Sie sind an Selbständigkeit im Schlafe gar zu sehr gewöhnt und können einen ungeübten Hypnotiseur in Verlegenheit setzen.

30. Berauschte sind leicht suggestibel, aber ungeeignete Versuchsobjekte. Vermeide es, Menschen gleich nach reichlicher Mahlzeit zu hypnotisieren. Mit überladenem Magen schläft man schlecht und wird nur zu leicht geneigt sein, die Hypnose für das verantwortlich zu machen, was Unmäßigkeit verschuldet.

31. Vermeide bei der Einschläferung durch Fixation jeden stark glänzenden Gegenstand, lasse das betreffende Hypnoskop vom Subjekt am besten selbst halten, und zwar nicht über der gewöhnlichen Gesichtslinie. Nur in Ausnahmefällen weiche von dieser Regel ab. Es soll dadurch eine zu starke Reizung der Netzhaut sowie künstliches Schielen im Interesse des Subjekts vermieden werden. Eine übermäßige Anstrengung der Augenmuskeln bei anhaltender Fixation ruft Kopfschmerz hervor und produziert mitunter Krampfanfälle.

32. Es ist möglich, daß der Hypnotiseur bei scharfem Anblicken der Versuchsperson, anstatt diese einzuschläfern, selbst einschläft, wenn er nicht gleichzeitig seine Gedanken fest auf den Vorgang konzentriert. (Lloyd Tuckey.)

33. Der Hypnotiseur unternehme keine Kur, mache kein Experiment, wenn er nicht auch die gehörige Zeit auf dasselbe verwenden kann. Ebenso übernehme er keine schwierige Behandlung, wenn ihm für die Ursachen der Krankheit oder der krankhaften Erscheinungen das Verständnis fehlt.

34. Drei Bedingungen setze ich für den Hypnotiseur voraus: der Wille ist notwendig, mit Kraft und Ausdauer die Behandlung zu leiten, ferner die innere Ueberzeugung von der Macht der hypnotischen Suggestion und damit das Vertrauen in das Gelingen der Kur. Wer nicht von dem innigen Wunsche beseelt ist, zu helfen und wohl zu tun, wer nicht auch Geduld, Ruhe, Beständigkeit und Ausdauer, Gleichmut und Uneigennützigkeit besitzt, der mache nie den Versuch eines Experimentes. Zur bloßen Spielerei ist die Hypnose zu ernst!

35. Der Experimentator (Hypnotiseur) unterbreche niemals den Rapport, behalte vielmehr stets die Zügel in der Hand und überlasse den Schlafenden niemals sich selbst oder anderen unkundigen Personen.

36. Schweres Atmen im Anfang des Schlafes stellt sich ein, wenn die Stellung des Schlafenden eine ungünstige ist, oft aber auch infolge widriger Temperaturverhältnisse. Bei einer Temperatur von 15 bis 17° R habe ich schweres Atmen niemals bemerkt.

37. Die Hypnose gehört der körperlichen, die Suggestion der geistigen Sphäre an. Durch das hypnotische Verfahren wird erzeugt: a) Schlaf, b) Suggestionsfähigkeit.

38. Die Suggestion ist der Schlüssel zu allen hypnotischen Erscheinungen. Bei allen Prozeduren, die Hypnose erzeugen, ist die Suggestion das Wirksame.

39. Suggestion setzt keineswegs hypnotischen Schlaf voraus. Es sind die Suggestionen auch im wachen Zustande möglich. Der hypnotische Schlaf selbst wird ja erst durch Suggestion erzeugt.

40. Das Gesetz: »Jeder erwartete physiologische oder psychologische Effekt im Körper hat die Neigung einzutreten« – erklärt die Wirkungen der hypnotischen Suggestion.

41. Es gibt leicht hypnotisierbare, aber schwer suggestible Personen. Der Grad der Suggestibilität ist nicht abhängig von der Tiefe der Hypnose. Am erfolgreichsten ist die Wirkung der Suggestion im somnambulen Stadium; aber auch durch Suggestionen, die in leichteren Schlafstadien erteilt werden, kann man oft überraschende Wirkungen erzielen.

42. Gib deine Suggestionen mit Milde und Ruhe, jeder Eifer, jedes allzu rasche, begeisterte Vorgehen beunruhigt das Subjekt und kann den Heilerfolg stören. Die Redaktion der Suggestion hat sich nach der Individualität und nach dem Bildungsgrade des Subjektes zu richten.

43. Gib in der ersten Sitzung nur ausnahmsweise Heil- oder Erziehungssuggestionen; beschränke dich vielmehr darauf, den Schlaf zu vertiefen und jeden schädlichen Einfluß wegzusuggerieren.

44. Gibst du posthypnotische Suggestionen, so sorge, daß das Subjekt an der Ausführung derselben nicht verhindert werde. Widerstand eines dritten reizt den Hypnotisierten und könnte von nachteiligen Folgen begleitet sein, für welche man mit Recht den Hypnotiseur, mit Unrecht aber den Hypnotismus verantwortlich machen würde.

45. Tritt bei der ersten Sitzung Uebelkeit ein, so gib eine Gegensuggestion und erwecke den Schläfer; tritt Erbrechen (bei Berauschten) ein, so erwacht der Hypnotisierte meist von selbst, geschieht dies nicht, so erwecke ihn sofort. Treten Krämpfe ein, so erwecke den Schläfer nicht, sondern gib entsprechende Suggestionen. Erst nachdem völlige Ruhe eingetreten, darfst du das Subjekt erwecken. Dasselbe gilt von Ohnmachtsanfällen, nur ist hierbei der Körper stets in eine horizontale Lage zu bringen, der Kopf, wenn möglich, niedriger als der übrige Körper.

46. Nach dem Erwecken beschäftige dich noch kurze Zeit mit dem Subjekt. Gib ihm noch Wachsuggestionen. Sage ihm, es sei nun jede Müdigkeit geschwunden usw. Schicke es nicht fort, bis du dich überzeugt hast, daß das Erwachen ein vollständiges ist. Denn ebenso wie jemand, der plötzlich aus dem gewöhnlichen Schlafe erweckt oder gar aufgeschreckt wurde, wie betäubt, verstört und schwindelig umhertaumelt u. dergl., ebenso zeigen sich physiologische Störungen bei denjenigen, welche plötzlich aus dem künstlichen Schlafe erwachen.

47. Der Mißbrauch des Hypnotismus ist nur leicht einem unvorbereiteten Publikum gegenüber. Selbst nach dem Erwachen aus dem tiefsten Stadium der Hypnose ist dauernde Erinnerungslosigkeit ausgeschlossen. Oft schon nach Stunden, gewöhnlich nach mehreren Tagen, bestimmt aber nach einigen Monaten tritt Erinnerung an alle Vorgänge in der Hypnose ein und auch an bereits realisierte posthypnotische Suggestionen. Daran ändert auch nichts die energisch befohlene Erinnerungslosigkeit. Der verbrecherische Hypnotiseur wird sich also in allen Fällen verraten sehen.

48. Die Hypnotisierten befolgen nur sympathische oder gleichgültige Suggestionen, die ihnen von einer sympathischen Persönlichkeit gegeben werden. (Brouardel.) Die Somnambulen sind nicht als reine Automaten dem Willen des Hypnotiseurs unbedingt unterworfen, sie leisten auch Widerstand. (Bernheim, Beaunis, Liébeault.)

49. Es ist wünschenswert, daß jeder von uns, Mann oder Frau, sich Gewißheit darüber verschaffe, ob er in künstlichen Somnambulismus versetzt werden kann. (Liégeois.)

50. Ein Hellsehen in der Hypnose ist bisher von keinem Forscher einwandfrei nachgewiesen worden. Dagegen ist eine Gedankenübertragung experimentell bewiesen. – Im Jahre 1894 sagte ich in der ersten Auflage dieses Buches: »Der »gesunde Menschenverstand« wird gegen die Möglichkeit einer Gedankenübertragung opponieren, allein es ist der gesunde Menschenverstand vom Jahre 1894, der vom Jahre 1994 wird jedenfalls ganz anders urteilen. Man denke nur an den »gesunden Menschenverstand« der deutschen Vertreter der Wissenschaft vom Jahre 1875, welcher die Möglichkeit der Hypnose anzweifelte.« Viel früher, als ich damals glaubte, hat sich meine Annahme verwirklicht. Die Möglichkeit einer Gedankenübertragung ist von verschiedenen Forschern beobachtet und nachgewiesen worden, wir haben nicht notwendig, bis 1994 zu warten! –


 << zurück weiter >>