Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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XXI

Miss Amabel befand sich in Balltoilette und prüfte im Spiegel die Wirkung einer Erika-Ranke, die sie in ihrem schönen Haar befestigt hatte. Nie war sie hübscher gewesen als an jenem Abend. Die Erwartung des geliebten Freundes hatte ein Feuer in ihrem Herzen entfacht, das ihr ganzes Wesen durchstrahlte. Wie süß ist es doch in solchem Augenblick, sich der eigenen Schönheit bewußt zu werden und die Liebe durch den bewundernden Stolz noch zu steigern. In ihrer Robe, die wie aus Blütenblättern angefertigt schien und von einem Tüllüberwurf, zarter und durchsichtiger als ein Libellenflügel, teilweise bedeckt war, und den verstreute Erikablüten da und dort festhielten, glich sie einer Sylphide, der die Laune angekommen, einen Ball zu besuchen.

Die Kammerjungfer hatte sich nach Beendigung ihres Dienstes zurückgezogen, und Amabel blieb sich selbst überlassen. Denn Lady Elinor Braybrooke, deren Reize einer ausgiebigen Restaurierung bedurften, befand sich bedeutend länger unter den fleißigen Händen ihrer Zofen als Amabel.

Nichts ist schwieriger, als nach beendigtem festlichen Schmuck die Langeweile der überzähligen Minuten auszufüllen. Amabel hatte Volmerange auf neun Uhr zu sich gebeten, und es hatte eben erst acht geschlagen. Also eine volle Stunde der Untätigkeit und der Erwartung! Denn die zarte Beschaffenheit ihres Kleides untersagte jede ernsthafte Beschäftigung. Um sich also die Zeit zu vertreiben, nahm Amabel ein Buch zur Hand und las zerstreut einige Seiten. Alsdann begab sie sich ans Klavier und ließ ihre hübschen Fingerspitzen in perlenden Tonfolgen auf dem polierten Elfenbein der Tasten auf- und niedergleiten. Aber auch dieser Zeitvertreib sagte ihr nicht zu.

Eines ihrer Armbänder, das zu weit sein mochte, fiel ihr von der Hand; sie nahm ihre Schmuckschatulle und wählte daraus ein anderes. Als sie diese an ihren Platz zurückstellte, fiel ihr Auge auf die Kassette, in der sie Benedicts Briefe aus ihrer Brautzeit aufbewahrte.

Der Zufall wollte es, daß sich just an diesem Tage jene seltsam unterbrochene Trauung in der St.-Margarethen-Kirche jährte. Der Anblick des Kästchens rief Amabel jenen Tag in die Erinnerung zurück. Seufzend und wehmütig bewegt zog sie einen Brief aus dem verschnürten Bündel und las ihn, an den Kamin gelehnt; denn sie fröstelte mit ihren bloßen Armen und Schultern.

»Teure Amabel« – so begann der Brief, der während einer kurzen Trennung geschrieben war – »wie soll ich diese drei Tage fern von Ihnen ertragen? Ich, der ich durch Ihre süße Nähe nun so verwöhnt bin! Zu dem Abend für Abend aus Ihren schönen Augen Ihre reine Seele, aus Ihrem schelmischen Lächeln Ihr kluger Verstand sprach! Mein einziger Trost in diesem Fernsein ist der Gedanke, nun bald auf immer und so innig mit Ihnen vereint zu werden wie zwei Flüsse, die sich zu einem Strom vermischen . . .«

Nach Beendigung dieser Lektüre versank Amabel in tiefes Sinnen.

»Warum diesen Zeugen einer trügerischen Leidenschaft noch länger aufbewahren?« sagte sie zu sich selber und warf den Brief ins Feuer. Sie griff nach einem zweiten, las ihn und ließ ihn dem ersten in die Glut nachfolgen. Jeder Brief führte sie einen Schritt rückwärts auf dem Pfade einer erloschenen Liebe. Mit dem unbestimmten Duft der Erinnerungen, der ihr daraus entgegenströmte, übergab sie dem Feuer die Überreste einer Zeit, die endgültig für sie abgetan war.

»Neun Uhr,« sagte sie, während sie eben den letzten Brief den Flammen übergab, »und Volmerange ist noch nicht da!«

Der Brief, der sich schon entzündet hatte, wurde durch eine Verschiebung der brennenden Scheite aus dem Kamin heraus und auf den Boden geweht. Schon im Verlöschen, entfachte er sich neu an einem Luftzug und langte mit einer spitzen, blauen Feuerzunge nach neuer Nahrung. Im Nu hatte er den Tüllüberwurf von Amabels Kleid erfaßt und loderte an dem leichten Gewebe blitzschnell empor. Plötzlich sah sich Amabel von Flammenschein und einem glühenden Wirbel umgeben. Sie wollte zum Klingelzug eilen, aber halb wahnsinnig vor Angst suchte sie diesen auf der linken statt auf der rechten Seite, und, durch ihre Hast nur noch heftiger entfacht, ergriff das siegreiche Feuer nun völlig Besitz von ihr.

Die Unglückliche wälzte sich am Boden, um die Flammen zu ersticken; sie versuchte unter Schmerzensschreien sich die Kleider vom Leibe zu reißen – da öffnete sich plötzlich die Tür, und ein Diener meldete: »Sir Benedict Arundell!«

»Retten Sie mich, retten Sie mich!« schrie aus den Flammen heraus die Unselige.

Benedict und der Diener stürzten herzu – aber sie kamen zu spät. In den Delirien eines qualvollen Todeskampfes heftete Amabel die weit aufgerissenen Augen auf ihren ehemaligen Bräutigam und flüsterte inmitten ihrer Qualen: »Benedict, Sie hier! O Gott, du strafst mich grausam.«

Der entsetzte Diener rannte nach einem Arzt, während Benedict mit einem Teppich die Flammen zu ersticken suchte, die noch immer an Amabels Kleidern fraßen. Als endlich ärztliche Hilfe eintraf, war Amabel verschieden. Benedict, der den grauenvollen Anblick nicht länger zu ertragen vermochte, flüchtete. Niemand hatte auf sein Kommen und Gehen geachtet.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Ein paar Tage später brachte man Lady Elinor Braybrooke ein paar halbverkohlte Briefe, die man vom Boden aufgesammelt hatte, und die das Entstehen des furchtbaren Unglücks genügend erklärten. Unter Tränen bemühte sich Lady Elinor Braybrooke, die wenigen lesbaren Schriftzüge zu entziffern. Als sie erkannte, daß es Benedicts Liebesbriefe waren, die das Unglück herbeigeführt hatten, steigerte sich ihr Haß ins Grenzenlose.

Seltsame Fügung, unerklärliches Fatum! Die Liebesbriefe hatten in demselben Augenblick von Amabel Besitz ergriffen, als sie eines anderen harrte.

Eine abergläubische Seele würde in diesem Zusammentreffen den Fingerzeig der Vergeltung erkennen. Aber eine Vergeltung für welches Verbrechen? Das der Unschuld – ohne Zweifel. Denn es könnte sein, daß nach einem Gesetz der Rückwirkung, dessen Sinn uns verschlossen ist, gerade die Unschuld das Sühnegeld für die Missetat anderer zu entrichten hat.

Beide Besuche, sowohl Benedicts als auch Miß Ediths, waren nicht glücklich ausgefallen, und ihr »philosophisches« Experiment hatte geendet, wie derlei Versuche immer zu endigen pflegen.

*

Indem wir uns nun dem Schluß unserer Geschichte nähern, scheint es uns geraten, durch einige allgemeine Erläuterungen den Sinn gewisser Partien, die vielleicht dunkel geblieben sind, zu erhellen.

In den letzten Jahren des Empire hatten sich auf dem Wege von Freundschaften, die in Colleges geschlossen wurden, durch gesellschaftliche oder andere Verbindungen, durch gleichgestimmten Geschmack in Arbeit und Vergnügungen, durch verwandte Kühnheit der Ideen, und nicht zuletzt durch eigenartige Schicksale in England eine Schar von Menschen verschiedenster Länder und Gesellschaftsklassen zusammengefunden, die sich insgesamt durch ungewöhnliche Geisteskräfte und einen stählernen Willen – jeder in seiner Weise – auszeichneten. Eine Art von unoffizieller Freimaurerei verband diese Menschen miteinander. Sie erkannten sich in der Gesellschaft; sie warfen sich aus einem Fenster eines jener eiligen Worte zu, in denen alles enthalten ist, und die, von einem kaum wahrnehmbaren Lächeln oder einem Achselzucken begleitet, eine ganze Weltanschauung zum Ausdruck bringen. Viele dieser Männer waren begütert; andere einflußreich. Kühnheit zeichnete die einen, Gewandtheit die anderen aus. In ihrer Mitte waren tiefe Dichter und große Politiker anzutreffen. Die gewöhnlichen Zerstreuungen durch den Klub, den Wein, die Karten, durch Pferde und Frauen konnten diesen Menschen, die sich an den Leidenschaften der Liebe und des Spieles bis zum Überdruß gesättigt, und von denen einige üppigere und erlesenere Liebeslisten aufzuweisen hatten als Don Juan, naturgemäß nicht mehr genügen. Sie suchten sich also ein anderes Ziel für ihren Tatendrang, und sie fanden es im Kampf des Willens gegen das Schicksal. Sie forderten die Zeitgeschichte vor ihr geheimes Tribunal und lebten der Mission, ihren Urteilsspruch zu sprengen, wenn sie ihn als ungerecht erkannten. Mit einem Wort: sie wollten das Weltenschicksal umgestalten und die Vorsehung korrigieren.

Diese unerschrockenen Spieler, die an Kühnheit die Riesen und Titanen der Sage übertrafen, unterfingen sich, wider Gottes Willen die verlorenen Stücke des grünen Erdenteppichs neu zu gewinnen, und sie verpflichteten sich mit den schwersten Eiden zur gegenseitigen Hilfe bei ihren Unternehmungen.

Der Aufstand Indiens, die Wiedereinsetzung Napoleons auf einen noch höheren Thron, die Erlösung Spaniens, die Befreiung Griechenlands – bei welcher später Byron, der dieser selben Junta angehörte, seinen Tod fand – solches waren die Ziele dieser Männer. Sämtliche Revolutionen und politischen Umwälzungen dieser Zeit waren ihr Werk. Sie hatten die Mahrattas gegen die Engländer angeführt; sie hatten den Balkan aufgewühlt; sie hatten den Aufstand Griechenlands vorbereitet; sie hatten es endlich auf sich genommen, den Kaiser zu befreien, dem ein orientalisches Reich, wie er es sich in seinen jungen Jahren erträumt hatte, in Indien bereitet war, von wo aus er, den Weg Alexanders in umgekehrter Ordnung zurücklegend, über Europa kommen sollte.

Diese kühnen Männer mit dem stahlharten Willen, die die ganze Erdkarte neu bearbeiteten und den Zufall ihren Gesetzen gefügig machen wollten, sollten dennoch mit allen ihren Plänen nichts erreichen. Am Ende ihrer Fahrten fegte sie jener Hauch hinweg, der vielleicht nichts anderes ist als der Atem Gottes. Alle ihre mühevollen Gedankengebäude fielen in sich zusammen. Wer vermöchte zu sagen: warum? Ihres Eifers nicht achtend, setzte das dunkle Fatum seinen Weg unbekümmert fort – das Schicksal behauptete seinen Willen. Was ihnen als das lauterste Recht erschien, mußte Niederlage um Niederlage erdulden, während die Gewöhnlichkeit triumphierte. Nach wie vor wurde das Genie ans Kreuz geschlagen, und die Mittelmäßigkeit blähte sich im Schmuck einer goldenen Krone. Ein plötzliches Hindernis, ein Verrat, ein ungelegener Todesfall – was immer es sein mochte, vereitelte im entscheidenden Augenblick all ihr Sinnen und Trachten. Sie versuchten gegen den Strom der Ereignisse zu schwimmen und wurden, ungeachtet ihrer bewundernswerten Beharrlichkeit, von einem unsichtbaren Wirbel in die Tiefe gezogen.

Die meisten unter ihnen verloren sich im Wahnsinn des glücklosen Spielers oder im blinden Rausch des Ehrgeizes an die Idee des Unmöglichen. Gleich Wahnsinnigen bedrohten einige den Himmel mit einer Handvoll Staub; sie wären, wie Xerxes, fähig gewesen, das Meer auspeitschen zu lassen. Andere, die Stärkeren unter ihnen, witterten das, was wir in Ermanglung einer besseren Bezeichnung »die Mathematik des Zufalls« nennen wollen. Ihnen dämmerte eine Ahnung davon, daß auch die Ereignisse einem Gesetz der Schwerkraft gehorchen, dessen Entdeckung einem Newton der Zukunft vorbehalten bleibt. Und wenn sie sich dennoch auflehnten, so taten sie es vielleicht eher aus einer experimentierenden Neugier. Wie der Physiker in einem Glase Flüssigkeiten durcheinander rührt und dabei erkennen muß, daß nach wieder eingetretener Ruhe eine jede von ihnen ihren durch das spezifische Gewicht vorbestimmten Platz zurückgewinnt, so schüttelten diese Menschen die Geschicke der Welt nutzlos durcheinander.

Sir Arthur Sidney, Benedict Arundell, der Graf von Volmerange, Dolfos und Dakscha – sie alle waren Glieder dieser mächtigen Vereinigung. Sidney und Dakscha gehörten den höheren Rängen an; sie besaßen das Recht, unter ihren Brüdern diejenigen herauszugreifen, die ihnen zur Verwirklichung ihrer Absichten am tauglichsten erschienen. Benedict und Volmerange, die, ihres Schwures uneingedenk, willkürlich über das eigene Leben verfügt hatten, waren auf den Wegen, die wir in dieser Erzählung beschrieben haben, zu ihrer Pflicht zurückgeführt worden. Aber alle diese aufgewühlten, todgeweihten Leben – aller Aufwand an Geist, Mut und Geld – alles wurde umsonst geopfert: der unsichtbare Spieler blieb immer Sieger.

Das Wenige, das wir hier vorgebracht haben, mag zur Genüge die Ziele und Mittel dieses Geheimbundes, den man mit einigem Recht als eine geistige Feme bezeichnen könnte, genugsam erläutern. Seine unerhörte Energieentfaltung und die immensen Hilfskräfte gehorchten einem einzigen Zweck, nämlich: auf dem Kriegsschauplatz der Geschichte den menschlichen Willen an dem göttlichen zu messen. Diese unreligiösen Männer, deren Gott Kraft und Vernunft hieß, wollten in der Vorsehung nichts als den nackten Zufall sehen. Mit dem Griffel, den sie den Händen Gottes entwanden, versuchten sie an seiner Statt ins Weltenbuch zu schreiben.

*

Wie es der Brauch ist, wenn eine Erzählung sich ihrem Ende zuneigt, wollen wir das Schicksal derjenigen Personen, die den Sturm unserer Handlung überdauert haben, noch kurz entwerfen.

Im Irrenhause von Bedlam sitzt Volmerange, zusammengekrümmt vor innerem Grauen, und sucht der fahlen Gespenstererscheinung Ediths, die ihm sein verwirrter Geist am anderen Ende der Zelle vorspiegelt, zu entfliehen.

*

Was Miß Edith und Sir Benedict Arundell betrifft, so wollen englische Reisende, die sich über Smyrna nach den Jonischen Inseln begaben, auf Rhodos in einem reizenden kleinen Marmorschlößchen, das unter den Tempelrittern errichtet und zum Teil mit antiken Fragmenten aufgebaut sein mochte, ein junges Paar gesehen haben, dessen milde, abgeklärte Heiterkeit ein durch mancherlei Schläge und Launen des Geschickes geläutertes Glück ahnen ließ. Obwohl man sie nur unter dem Namen Mrs. und Mr. Smith kannte, schienen sie doch einem höheren, gesellschaftlichen Rang anzugehören, als es ihr unscheinbarer Name vermuten ließ. Sie suchten den Verkehr mit ihren Landsleuten nicht auf, aber sie gingen ihm auch nicht aus dem Wege. Am liebsten blieben sie für sich; und das beweist, daß sie glücklich waren.

*

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Sidney blieb verschollen. War er tot? Hatte er sich mit seinem Gram über das Scheitern seines tiefsten Wunsches, der ihm fünf Jahre lang einziger Lebensinhalt gewesen war, in eine verlorene Einsamkeit geflüchtet? Niemand weiß etwas davon zu sagen. Aber ein paar Jahre später setzte ein von Indien kommendes, vom Sturm verschlagenes Schiff auf einer der Inseln der Tristan d'Ancuna-Gruppe ein paar Matrosen an Land, die, um ihre salzige Schiffsnahrung zu verbessern, nach Schildkröten und Eiern im Sande suchten. Einer von ihnen stieß mit der Hand an einen mit kleinem Muschelwerk ganz überzogenen flaschenähnlichen Gegenstand. Beglückt über diesen Fund, den er für eine Rumflasche hielt, befreite der Matrose den Gegenstand von seiner Kruste aus Sand und Meergetier, sprengte den Bleiverschluß und fand statt der ersehnten Flüssigkeit ein Pergament, das er seinem Kapitän mit einer spontaneren Ehrlichkeit aushändigte, als er sie für einen spirituösen Inhalt aufgebracht hätte.

Der Kapitän entfaltete das vierfach zusammengelegte Papier und las zu seiner nicht geringen Überraschung das Folgende:

»Im Augenblick, da das kühnste Werk, das je ein Sterblicher unternahm, sich vollenden wird, und im Bewußtsein, daß die Fluten, in denen ich untertauchen werde, mich verschlingen könnten, schreibe ich, Sir Arthur Sidney, mit klarem Geist und ruhiger Hand mein Bekenntnis nieder, damit diese Worte vielleicht einst von Menschen gelesen werden, und so mein Geheimnis nicht mit mir untergehe, wenn ich auf meiner Fahrt unter dem Wasser den Tod finden sollte.

Trotzdem ich Engländer bin, fühle ich in der Tiefe meiner Seele den Verrat, den meine Nation an dem großen Kaiser verübt hat, und als getreuer Sohn meines Mutterlandes will ich es von diesem Makel reinwaschen; will es in den Augen der Nachwelt von der Schmach befreien: denjenigen gemordet zu haben, der sich seinem Gastrecht anvertraute. Ich habe heilig gelobt, dieses schwarze Blatt aus dem Buch der Geschichte herauszureißen. Man soll dereinst sagen: England hat ihn zum Gefangenen gemacht – aber ein Engländer hat ihn wieder befreit und ganz allein das Ehrenwort seiner Nation eingelöst.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Ich will meine Heimat, die ich liebe, davor behüten, als Gottesmörderin dem Abscheu der Welt anheimzufallen, wie einst das Judenvolk durch Judas' Verrat an Jesus Christus die Verdammung der ganzen Welt auf sich geladen hat. Diesem Ziele habe ich mein Leben geweiht; und was könnte erhabener und heiliger sein, als die Ehre der großen Menschheitsfamilie, deren Glieder wir sind, rein zu erhalten!

Morgen schon steuert der von seinem Marterfelsen erlöste Prometheus auf einem Schiff, das seiner harrt, einem neuen Imperium entgegen; und vielleicht werden Ereignisse, bedeutender als alle, die bis zum heutigen Tage die Welt in Erstaunen gesetzt haben, oder Gott selber, es erweisen, ob ich zu Unrecht in das Walten der Vorsehung eingegriffen habe.«

Sinnend verharrte der Kapitän vor diesem Dokument und betrachtete lange die verblaßten Schriftzüge. Er las zu wiederholten Malen das Papier, das, wer weiß wie lange, in seinem gläsernen Gefängnis auf den Meereswogen geschaukelt worden war, um endlich auf dieser kleinen verlassenen Insel zu stranden. Es war vielleicht das einzige Zeugnis eines erhabenen Gedankens – einer bewunderungswürdigen Kühnheit. In seinen Erinnerungen forschend, fiel ihm ein, daß er Sir Arthur Sidney ein paarmal – bald in London, bald in Kalkutta – begegnet war.

Als er später vor Sankt Helena passierte, grüßte der Kapitän das Grab des großen Kaisers von ferne und sagte zu sich selber:

»Gott hat Sir Arthur Sidney nicht recht gegeben. Denn dort drüben ruht der Kaiser unter seinen Trauerweiden – und ich verwahre ein gewisses Pergament in meinem Portefeuille. Sir Arthur Sidney wird in den Wellen seinen Tod gefunden haben. Das tut mir leid; denn ich hätte etwas darum gegeben, diesem Ehrenmann die Hand zu drücken und in der Kajüte der ›Belle-Jenny‹ am selben Tisch mit ihm zu sitzen.«

Die ›Belle-Jenny‹ – denn sie war es – gehörte jetzt einem Kaufherrn in Kalkutta, der sie von einem gewissen Kapitän Peppercul erworben hatte. Vor seiner letzten Abfahrt hatte Sidney diesem die freie Verfügung über das Schiff erteilt, falls er nach fünf Tagen nicht zurückgekehrt sein würde. Ein eigentümlicher Zufall fügte es so, daß gerade ›Belle-Jenny‹ es war, die das letzte Vermächtnis ihres einstigen Herrn in Empfang nehmen durfte.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

*

Nun bleibt uns nur noch von Dakscha zu berichten übrig, was wir über sein Schicksal in Erfahrung bringen konnten.

Als er Prijamwadas Leiche neben dem toten Elefanten gefunden hatte, begrub er sie unter strenger Beobachtung aller Riten. Dann nahm er sein asketisches Leben wieder auf. Er hat eine fürchterlich unbequeme Gebetsstellung erfunden, an der die Trinitäten, Quadrinitäten und Quinquinitäten des indischen Olymps das größte Wohlgefallen haben sollen. Er glaubt nach wie vor an eine Wiedereinsetzung der Monddynastie und wartet noch immer auf Volmerange. Seine ganz verdorrten Finger zerreiben eifriger denn je die heilige Pflanze Kusa; und seine schwärzlich blauen Lippen murmeln unermüdlich in verzückter Andacht die unaussprechliche Silbe, die alles in sich schließt – und noch etwas mehr.

Aus der verlorenen Schlacht hat er die Einsicht gewonnen, daß drei in die Rückenmuskeln eingebohrte Eisenhaken nicht das Richtige sind – sondern fünf. Mit Hilfe dieser verbesserten Bußübung hofft er sich von den Göttern eine zwiefache Gnade zu gewinnen, nämlich: die Engländer zu guter Letzt dennoch aus Indien zu vertreiben und zweitens: mit einem Kuhschwanz in der Hand dereinst von hinnen zu fahren. Welch letztere Hoffnung durchaus nicht verhindert, ein tiefsinniger Philosoph, ein undurchdringlicher Diplomat und ein Politiker ersten Ranges zu sein; heimlich die Provinzen aufzuwiegeln, ganze Labyrinthe unterirdischer Machenschaften aufzuwühlen – und alles dieses, indem man auf einer Gazellenhaut, zwischen vier Weihrauchgefäßen sitzt und der englischen Regierung die allerschönsten Widerwärtigkeiten bereitet.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

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