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Wir nehmen aufs Neue unser Erzählerrecht in Anspruch und versetzen unseren Leser ohne jeglichen Übergang aus dem eben beschriebenen, düsteren Schlupfwinkel in ein elegantes Haus des Londoner Westend. Dieser Sprung bedeutet nicht, wie es den Anschein haben könnte, ein Abschweifen von unserer eigentlichen Geschichte; vielmehr führt er uns näher an sie heran. Wohl ist die Szenerie nun eine gänzlich veränderte, jedoch haben wir diese Kontrastwirkung nicht willkürlich gesucht.
Miß Amabels Kammerzofen hatten eben die letzte Hand an den Festschmuck der jugendlichen Braut gelegt, und Fanny steckte zum Überfluß noch eine weitere Nadel in die schweren, braunen, im Nacken verschlungenen Flechten Amabels, um den langen, in durchsichtigen Falten über das weiße Brautgewand rieselnden Spitzenschleier noch besser zu befestigen. Damit erschien den beiden anderen Zofen, Mary und Susanna, das Werk als beendet. Sie ergriffen zwei Leuchter, die auf dem Tische brannten, und hielten sie in die Höhe, damit ihre junge Herrin sich nach Muße im Spiegel bewundern konnte. Denn obgleich es schon elf Uhr vormittags war, wollte es dem fahlen Tagesschein kaum gelingen, durch Fenster und Gardinen zu dringen. Ein gelber, dicker, erstickender Nebel, wie er London so häufig heimsucht, lag über der Stadt und ließ die Schatten der Nacht nicht aus den Zimmern entweichen.
Das jugendliche Haupt, auf das nun eine plötzliche Helle fiel, strahlte wie in einer Aureole aus dem dunkeln Spiegelglas zurück und offenbarte eine Schönheit, die vor den reinsten Schöpfungen griechischer Kunst nicht zurückstand. Was an dem göttlichen Antlitz am meisten in Erstaunen setzte, war seine milchige, marmorweiße, ja blendend helle Haut, unter der sich die Züge mit der durchsichtigen Milde einer orientalischen Alabasterfigur abhoben.
Wenn sonst der dichte, rosenrote Schleier der Schamhaftigkeit das Angesicht der Braut zu bedecken pflegt, die ihre Schritte zum Altare lenkt, so war auf Amabels Wangen kaum jener duftige Lebenshauch zu bemerken, wie er im Kelch einer weißen Rose erblüht. Das blaue Blut ihrer Abkunft bleichte ihre zarte Hautfarbe. Sie hatte sich erschlossen, wie die Treibhausblume, gegen Sonne und Regen behütet; sie war wie eine köstliche Frucht, deren reinen Saft kein Tropfen plebejischen Blutes trübte.
Die vollkommene materielle Sorglosigkeit im angestammten Luxus eines Lebens, das in vollendeter Schönheit und Bequemlichkeit von den weiten Räumen eines Schlosses mit seinem riesigen Park voll uralter, schattiger Baumkronen und plätschernder Springbrunnen gehegt wird, läßt in Englands alten, unvermischten Familien Schönheiten erblühen, wie man sie anderswo nicht findet. Diesem lebendigen Marmor, aus dem die schönen Körper gebildet sind, kommt an leuchtender Weiße und zarter Transparenz nichts anderes auf Erden gleich. Die menschengebärenden Marmorbrüche von Paros und dem Pentelicus sind im meerumspülten Albion zu finden, das seinen bedeutungsvollen Namen eher von seinen Frauen als von seinen weißen Klippen ableiten müßte. Amabel war der weißeste Vogel, der diesem mitten im Ozean schwimmenden Schwanennest je entstiegen war.
Zwei wie mit dem Stift gezogene Bogen schwarzer Brauen krönten ein Augenpaar, dessen dunkelbraune, heiße Iris in einem bläulichen Kristall zu schwimmen schien, und die sich über der Nase trafen, die eine kaum merkliche Adlerkrümmung noch edler erscheinen ließ als ihre griechische Schwester, ohne etwas von deren Vollkommenheit einzubüßen. Mitten in dieser Blässe blühte wie eine rote Nelke der purpurne Mund und ließ sie noch auffallender und unwirklicher erscheinen.
Mit einem Griff ordnete Amabel die beiden seidenglänzenden Lockenspiralen, die sich ihren zarten Wangen entlangringelten. Die Hand, die das Kleid ordnete, war schmal und fast zu lang, und zeigte an den Spitzen der geschweiften Finger Nägel von aristokratischer Bildung, die wie Jade glänzten. Solche Hände – die Verzweiflung der Parvenü-Prinzessinnen – werden von manchem Jahrhundert gepflegten Daseins gebildet und vererben sich wie Diamanten von Geschlecht zu Geschlecht.
Amabels Stimmung schien die allerbeste zu sein; denn ein Lächeln kräuselte ihre ernsten Lippen. Und als sie sich jetzt an Fanny wandte, sagte sie mit einer Stimme, die wie Musik klang:
»Du hast dich selbst überboten, Fanny; ich sehe wirklich nicht übel aus.«
»Das Fräulein – denn noch darf ich ja Fräulein sagen – ist nicht schwer zu schmücken; sie steht ihren Kleidern so gut!«
»Schmeichelkatze! Aber was ist die Zeit?«
»Es wird gleich elf Uhr schlagen«, antwortete Fanny mit einem Blick auf die mit Perlmutter eingelegte Pendeluhr, die auf einem Sockel stand.
»Schon elf Uhr! Und meine Tante, Lady Elinor Braybrooke, ist noch nicht da!«
»Mir ist, als hielte eben ein Wagen vor dem Portal«, rief Fanny; »das wird Lady Elinor sein.«
Im Augenblick, da Fanny ihren Satz beendete, wurde ein wahrhaftes Donnern des Türklopfers, wie es den Besuch vornehmer Herrschaften anzuzeigen pflegt, in den unteren Räumen des Hauses laut; und wenige Minuten später lüftete auch schon ein Lakai in Puderperücke und seidenen Strümpfen die Portiere und meldete: »Lady Elinor Braybrooke«.
Eine steife, majestätische Erscheinung in jenen Jahren, die nicht leicht zu bestimmen sind, und die man aus Höflichkeit »die gewissen« nennt, betrat in automatischer Haltung und ohne die schwere Seidenrobe im geringsten zu bewegen, den Raum. Es sah aus, als liefe sie auf Messingrädchen, wie eine Puppe, die eine geheime Mechanik um einen Tisch herumtreibt.
Von der Korsage, in der die üppigen Reize einer vierten Jugend eingebettet lagen, wäre wie von einem alt-mailändischen Panzer jeder Lanzenstoß abgeprallt, so starrte sie von Fischbeinen, Stahlfedern und anderen komprimierenden Gegenständen. Auf welche Weise die gute Dame in dieses Futteral hineingelangt war, bleibt ein Toilettengeheimnis, das wir respektieren. Aber sicher hatte sie den Druck von mindestens vierzig Atmosphären über sich ergehen lassen müssen, um zu diesem Resultat zu gelangen.
Ihr breites, vierschrötiges Gesicht blühte kupferfarben, ihre Backen flammten, ihre Nase glomm wie eine Kohle, ja selbst die Stirne schmückte die Farbe gebrannter Mandeln. Zum Überfluß ruhte dieses feurige Antlitz im Rahmen einer roten, krausen Haarmasse, die mit den gekreppten Fasern der Seidenpflanze eine weit größere Ähnlichkeit an den Tag legte als mit Menschenhaar. Ohne die grauen, stahlharten Augen, deren gebieterisch verächtlicher Ausdruck die gemeine Bildung vergessen ließ, hätte dieses Gesicht zu den gewöhnlichsten zählen müssen. Aber dieser Blick machte sie zur großen Dame, zur Frau von Welt, ungeachtet ihrer massigen bourgeoisen Körperlichkeit und der knallroten Gesichtsfarbe.
Lady Elinor Braybrooke war Witwe und chapronierte ihre Nichte, Miß Amabel Vivian, die in jungen Jahren schon Waise und Besitzerin eines ansehnlichen Vermögens geworden war. Bei der bevorstehenden wichtigen Zeremonie sollte Lady Braybrooke Mutterstelle bei ihr vertreten. Miß Amabel heiratete ganz unromantischerweise, ohne jedes Hindernis einen reizenden jungen Mann: Sir Benedict Arundell, der sie liebte und dem sie ebenfalls seit zwei Jahren herzlich zugetan war.
Sir Benedict Arundell war jung, schön und reich, und da die Braut über die gleichen Eigenschaften verfügte, so konnte diese Heirat mit Fug als eine durchaus harmonische gelten.
»Ach, liebe Tante, sehen Sie doch diesen schrecklichen Nebel«, sagte Miß Amabel und richtete ihre schönen Augen auf das Fenster.
»Im alten England ist im Anfang November nichts anderes zu erwarten,« entgegnete Lady Elinor.
»Gewiß, doch hätte ich mir für diesen schönsten Tag meines Lebens einen azurblauen Himmel, fröhlichen Sonnenschein, Blumenduft und Vogelgesang gewünscht.«
»Mein liebes Kind, ein wohnlich ausgeschlagenes Gemach mit Kerzenlicht, einem Flacon ›Millesfleurs‹, einem Erard-Flügel und einem freundlich knisternden Kaminfeuer läßt alles übrige mit Leichtigkeit verschmerzen. Mir ist das Wetter völlig einerlei.«
»Immer positiv, liebe Tante.«
»Immer poetisch, liebe Nichte.«
»Ich wünschte, die Natur trüge unseren Gemütsstimmungen größere Rücksicht! Der trübe Himmel drückt auf mein freudiges Herz.«
»Kind, wenn der liebe Gott auf dein Verlangen hin nun plötzlich die Wolkenschleier zerrisse, so würde das freche Sonnenlicht vielleicht ein trauriges Herz schonungslos verletzen.«
»Sie haben recht, meine Tante, und doch kann ich mich eines trüben Gefühles heute morgen nicht erwehren.«
»Nun, Sir Benedict Arundell wird deine Melancholie schnell verscheuchen,« tröstete Lady Elinor mit jenem etwas anzüglichen, faltenreichen Lächeln, das Personen ihres Alters oft nicht genug in der Gewalt haben.
Ein erneutes Wagenrollen ließ sich unter den Fenstern vernehmen, und bald darauf betrat Sir Benedict Arundell das Gemach.
Er war mit der schlechthin vollendeten Einfachheit des Gentleman gekleidet, die niemals auffällt und das Geheimnis des Engländers bleibt. Es war ihm gelungen, die unumgängliche Komik der hochzeitlichen Kleidung zu vermeiden und dennoch der dem Augenblick angemessenen Feierlichkeit Rechnung zu tragen. Nach englischem Brauch war sein Kinn ledig eines Backen- oder Schnurrbartes oder gar eines Henryquatres – oder wie der stachlige Schmuck sonst noch heißen mag, dessen sich die kontinentalen Kavaliere bedienen. Aber sein glattes Gesicht war von zwei kastanienbraunen, leichtgebrannten Favoris eingerahmt, die ein Künstler oder sonst ein Liebhaber des Malerischen vielleicht als zu geschniegelt abgelehnt, ein Graf d'Orsay aber oder der selige Brummel restlos bewundert hätten. Wie man das in alten englischen Familien öfters findet, glich er einem Antinous. Der Kopf wirkte wie die Kopie eines griechischen Gottes von der Hand Westmacotts oder Chantreys.
Es ließ sich nicht leicht ein harmonischeres Paar ausdenken.
Die Wolke auf Amabels Stirn verflüchtigte sich beim Anblick ihres Bräutigams. Benedicts Augen faßten Bläue genug in sich, um einen ganzen Himmel damit auszufüllen. Eine reine Freude erhellte die reizenden Züge des jungen Mädchens, als sie dem Geliebten die Hand zum Kuß entgegenstreckte.
Lady Elinor Braybrookes graue Augen glitzerten bei solchem Anblick, der ihr die Erinnerung an eine ähnliche Szene heraufbeschwören mochte, in der sie als Heldin figuriert hatte. Aber es bedurfte eines guten Gedächtnisses, um sich so weit in der Vergangenheit zurückzufinden.
»Gerade so standen wir da,« murmelte sie, »der gute Sir George Alan Braybrooke und ich, vor zwanzig Jahren – ungefähr.«
Dies »Ungefähr« aber klang etwas rätselhaft. Doch Lady Elinor vermied es, selbst außerhalb ihrer eigenen Lebensgeschichte genaue Daten anzuführen, die irgendwelche Rückschlüsse auf ihr Alter erlaubt hätten. Im übrigen konnte dieser Vergleich nur in ihren eigenen Augen Anspruch auf Gültigkeit erheben; denn sie hatte nicht einmal in ihren jungen Jahren die sogenannte »beauté du diable« besessen. Der lange, trockene, steife, knochige Alan Braybrooke aber mit seinem viereckigen Kinn, seiner Wellington-Nase und seinem breiten Maul hatte selbst im Frühling seiner Liebe nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem eleganten Benedict Arundell besessen.
»Auf, meine Kinder!« rief jetzt Lady Elinor, »es wird Zeit. Der Kaplan wartet sicher schon im Ornat, und die Gäste versammeln sich.«
Sie bestieg mit Amabel ihren Wagen, während Benedict mit seinem Freunde William Bautry in dem seinigen Platz nahm.
Die Kutscher in Puderperücke, mit Bändern und ungeheuren Blumensträußen geschmückt, die Gesichter von zahlreichen, schon im voraus dargebrachten Trankopfern für die Gesundheit und das Wohlergehen des jungen Paares und seiner Nachkommenschaft kardinalrot angelaufen, ordneten mit einer unnachahmlichen Würde die Zügel in ihren Händen, schnalzten mit der Zunge, berührten ihre Tiere mit dem Peitschenende, und alsbald setzte sich der Zug in Bewegung.
Die Sonne hatte sich vergeblich angestrengt, die vom Westwind auf die Stadt London niedergeschlagenen Wolkenmassen zu zerstreuen. Ihre bleiche, strahlenlose Scheibe ließ sich am Himmel kaum erraten und glich weit eher dem Krankengesicht des Mondes als der strahlenden Lebensfreude des Tagesgestirns. In den Laternen brannten noch spitze, vom Nebel halberstickte Gasflammen.
Schon auf die nächste Entfernung hin nahm jeder Gegenstand eine abenteuerliche Form an. Wagen wurden zu Leviathanen und Behemots; die Fußgänger verwandelten sich in Riesen und Phantome; die dunkeln Mauern der Häuser reckten sich zu babylonischen Türmen auf, und es bedurfte schon der sicheren Ortskenntnis der Kutscher, um sich in der undurchdringlichen Atmosphäre, die jeglichen Laut sogleich verschlang und die Straßen mit Wolkenkissen auswattiert zu haben schien, nicht zu verirren.
Die Trauung sollte in der Sankt-Margarethen-Kirche vollzogen werden. Es ist dies ein Gebäude im normannischen Spitzbogenstil mit einem viereckigen Turm, gewaltigen Strebepfeilern, einem riesigen, viergeteilten Fenster; mit Mauern, schwarz wie Ebenholz, in deren vom Regen ausgewaschenen Rillen zu allen Jahreszeiten Schnee zu haften schien. Das düstere Gebäude lag inmitten eines pflanzenlosen Friedhofes, dessen verstreute Gräber flüchtig an Leichname gemahnten und einen finsteren und schauerlichen Eindruck auf den Beschauer ausübten. Ein Gitter, das der von den hunderttausend Kaminen Londons aufgeworfene Kohlenstaub schwärzer färbte als die Pforten der Hölle, umschloß diese Ruhestatt, die der ringsum tobende Lärm noch trauriger stimmte.
Der hohe Turm streckte sein Glockengeschoß in den dichten Nebel hinein und sah wie enthauptet aus. Rußbedeckt und dunkel wie der Schlund eines Hochofens stand die Vorhalle da und öffnete ihr klaffendes Portal wie den dampfenden Rachen eines ungeheuren Tieres; denn der um den riesigen Torbogen wogende Nebel war wie der Atem des architektonischen Ungetüms.
Auch ohne von Natur aus abergläubisch zu sein, mußte ein junges Paar beim Anblick dieser düsteren Kirche von einem dunklen Angstgefühl für sein künftiges Glück befallen werden. Ein unsagbares Grauen wohnte in den erebischen Gewölken, die das letzte Zittern des Tageslichtes, den letzten Hoffnungsstern in ihre Tiefen schlangen.
Nicht, daß wir von einer strengen, alten protestantischen Londoner Kirche zu Ende Oktober, bei dichtem Nebel, den heiter strahlenden Anblick eines griechischen Tempels verlangten, der den Festzug seiner gelben Säulenreihen am attisch blauen Himmel entrollt. Aber es ist nicht zu leugnen, daß Sankt Margareth an diesem Morgen viel eher einer ihre Toten erwartenden Grabeskirche glich als der Stätte, die ein glücklich liebendes Paar vereinigen soll.
»So ist es denn also wirklich wahr«, sagte Sir William Bautry zu seinem Freunde Benedict Arundell, »daß du dich mit vierundzwanzig Jahren verheiraten willst; in der Blüte einer Jugend, die den unabsehbaren Reigen ihrer Freuden und Zerstreuungen kaum eröffnet hat.«
»Mit vierundzwanzig Jahren, ganz recht, lieber William. Die Heirat ist eine Tollheit, die man nur in der Jugend begehen sollte.«
»Fast möchte ich dir beistimmen; und Amabel ist ganz dazu angetan, deinen so raschen Entschluß zu rechtfertigen; und dennoch . . . Wer hätte gedacht, als wir zusammen in Cambridge studierten, daß du aus unserem fröhlichen Kreis als Erster in Hymens Falle gehen würdest!«
*
Während Sir William Bautry und Sir Benedict Arundell auf ihrer Fahrt zur Kirche sich in dieser Weise unterhielten, trat ein Mann aus der an die Kathedrale angrenzenden Gasse und schlich sich in das dunkle Portal, wo er zwischen zwei kleinen Säulen, gegen die Mauer gedrückt, steif wie die Statue eines Heiligen, stehenblieb.
Der Mann hatte seinen breitrandigen Hut tief in die Stirne gezogen, und ein Zipfel seines über die Schulter geschlagenen Reisemantels verbarg die untere Hälfte seines Gesichts. Was davon übrigblieb, verriet regelmäßige und von der Sonne fremder Zonen gebräunte Züge.
Nachdem er in träumerischer Unbeweglichkeit einige Minuten verharrt war, befreite er eine Hand aus den Falten des Mantels, und sich eine große Taschenuhr vor das Auge führend, sprach er für sich:
»Die Stunde ist da. Sie werden gleich kommen.« Und er versenkte die Uhr aufs neue in die Tiefen seines Mantels.
Auf wen mochte sich diese in einem fremdländischen Akzent gemurmelte Frage beziehen? Jetzt bogen die Hochzeitskutschen um die letzte Straßenecke und hielten vor dem Kirchenportal.
Da schlug der Mann, den der Leser schon als unseren eiligen Reisenden wiedererkannt hat, seinen Mantel zurück und reckte sich in den Schultern, wie einer, dessen Schicksalsstunde gekommen ist.
Der Wagentritt wurde heruntergeklappt. Eben wollte Amabel, auf Benedicts Hand gestützt, aussteigen, als der Unbekannte, nachdem er die Braut mit einer tiefen Verbeugung begrüßt hatte, Arundells Arm berührte. Erstaunt über eine Störung in diesem Augenblick, wandte dieser sich lebhaft um; denn da er der Kirche den Rücken kehrte, hatte er den Mann im Mantel nicht kommen sehen.
»Sidney!« rief er jetzt, als er sich aus dem ersten Erstaunen gefaßt hatte.
»Derselbe!« entgegnete der also Angesprochene mit feierlicher Stimme.
»Und ich, der ich dich der Treulosigkeit zieh! Nun bist du eigens zu meiner Hochzeit aus Indien herbeigeeilt! Darum also blieben meine Briefe ohne Antwort! Du wolltest mir eine Überraschung bereiten!«
»Ich habe dir ein Wort zu sagen, Benedict. Um dieses Wortes willen bin ich hergekommen.«
»Du wirst es mir später sagen; dann stelle ich dir auch meine Frau vor. Aber eigentlich kennt sie dich schon: Lady Arundell – Sir Arthur Sidney.«
»Nein, ich muß dich auf der Stelle sprechen, und wäre es auch nur für eine Minute!«
In Sidneys Blicken lag eine solche Festigkeit, in seiner Stimme ein so gebietender Wille, daß Benedict zögernd Amabels Hand losließ und einen Schritt auf seinen Freund zuging.
»Mylady wird meine Kühnheit gütigst verzeihen«, sagte Sidney mit einem etwas künstlichen Lächeln und Benedicts Arm ergreifend: »Ich habe dir nur einen einzigen Satz zu sagen.« Damit zog er Benedict mit sich fort bis zu der Kirchenecke, von wo aus eine kleine Gasse gegen ein tiefergelegenes Stadtviertel abfällt.
Amabel hatte wieder neben ihrer Tante Elinor Braybrooke Platz genommen, die einen unverständlichen Protest gegen diese sinnlose Unterbrechung zwischen den Zähnen hervorstieß.
»Sage mir bitte, ob darin auch nur eine Spur von Vernunft zu finden ist, direkt von Indien hereinzuplatzen, um eine Trauung auf der Kirchenschwelle aufzuhalten! Der gegebene Zeitpunkt, um Possen zu reißen!«
»Sir Arthur Sidney ist ein Original. Er macht alles anders als andere Leute. Benedict hat mir oft von ihm erzählt.«
»Ein Mann von Stand sollte keine Originale zu Freunden haben«, äußerte Lady Braybrooke sehr von oben herab.
Amabel konnte ein Lächeln über die majestätische Entrüstung ihrer Tante nicht unterdrücken.
»Das hätte mir passieren sollen«, fauchte die hochgeborene Witwe, die der Zorn scharlachrot anfachte. »Nie hätte Sir George Alan Braybrooke von mir die Erlaubnis erhalten, mich an den Stufen des Altars stehenzulassen – und wäre es auch um die Herrschaft der ganzen Welt gegangen. Übrigens scheint sich der Satz, den dieser Sidney – hol' ihn der Teufel! – auf dem Herzen hatte, recht in die Länge zu ziehen!«
Diese laute Überlegung Lady Braybrookes hatte Amabel schon heimlich bei sich selber gemacht. Jetzt beugte sie ihr mit der jungfräulichen Myrte geschmücktes Haupt zum Wagenfenster hinaus, um nach dem Entschwundenen Ausschau zu halten. Aber bis zum hintersten Strebepfeiler, den der Nebel gerade noch erkennen ließ, war kein Mensch zu erblicken.
Die Sache drohte sowohl lächerlich als fatal zu werden. Lady Braybrooke und Amabel verließen den Wagen und begaben sich unter das schützende Portal der Kirche, geleitet von Sir William, der sich anerbot, Benedict und Sidney über die Ungehörigkeit einer derart ausgedehnten Unterhaltung in solchem Augenblicke Vorstellungen zu machen.
Die bereits aufmerksam gewordenen Gäste umstanden Miß Amabel Vivian und schlugen ihr vor, in die Kirche einzutreten. Schon stauten sich Neugierige, die mit Erstaunen das schöne, weißgekleidete Mädchen, die Braut ohne Bräutigam, in der dunkeln Kirchenwölbung betrachteten.
Als sie das Gotteshaus betrat, zog Amabel ihre von einem Spitzentuch nur leicht bedeckten Schultern fröstelnd zusammen. Ihr war, als würde sie von der Kühle eines Grabes oder einer Klosterzelle für immer aufgenommen. Ihr war, als träte sie vom Tag in die Nacht, vom Lärm in die Stille, vom Leben in den Tod. Ihr war, als zerrisse in ihrer Brust mit einem wehen Laut die Saite ihres Schicksals.
Bleich, bestürzt und umsonst bemüht, seinem Gesicht einige Fassung zu geben, kehrte William Bautry zurück.
Er hatte das schmale Gäßchen, das Benedict mit Sidney betreten, seiner ganzen Länge nach abgesucht; er war rings um die Kirche herumgelaufen; er hatte die ganze Umgebung durchstöbert . . .
Benedict und Sidney waren verschwunden.