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Ein bleicher, eben erwachender Novembermorgen rieb sich die Augen hinter grauen Wolkengardinen, als auch schon der behäbige Wirt Geordie auf die Schwelle seines Gasthauses trat. Die Arme hielt er, so gut es gehen wollte, über seiner mehr als majestätischen Leibesfülle gekreuzt, die von der Küche des »Roten Löwen« das beste Zeugnis ablegte.
Er trug die tief befriedigte Miene eines Gastwirtes zur Schau, der, als der einzige am Ort, sich unbeschränkter Herrschaft erfreut und nicht zu fürchten braucht, daß ein Reisender ihm entwische, da der »Rote Löwe« in diesen Zeiten das einzige Wirtshaus der ganzen Umgebung vorstellte.
Folkestone war in den Tagen der Geschichte, die wir hier erzählen wollen, nur ein kleines Dorf, dessen Häuschen aus gelbem Backstein und geteertem Holzwerk nach der Laune des Zufalls über den Abhang zerstreut lagen, der vom schützenden Berg bis aus Meer hinunterreicht.
Geordies Haus gehörte nicht nur zu den schönsten, sondern war tatsächlich das schönste in Folkestone. An seinem ausladenden Erker schaukelte sich im frischen Meerwind, an schön geschwungenem Eisenschnörkel, der rote Löwe in getriebener Arbeit. Da die salzigen Dünste des nahen Ozeans seiner Farbenpracht ordentlich zu Leibe gingen, war häufiger Anstrich vonnöten; und so flammte er auch heute, nach kürzlicher Bemalung, so stolz wie nur irgendein Wappenlöwe im goldenen Feld eines heraldischen Manuals.
Geordie träumte; aber diese Träume waren keineswegs von Poesie berührt. In seinem Kopf überschlug er den Profit des eben abgelaufenen Monats, und da dieser seine gewöhnlichen Einnahmen um einige Guineen übertraf, dachte Geordie, daß sich, falls diese Zunahme weiter bestehen bliebe, in kurzer Frist das Grundstück erwerben ließe, das in seinen Besitz einen so mißlichen Winkel stach und nach dem er das heftigste Verlangen trug.
So weit war er in seinen innerlichen Betrachtungen gelangt, als ein Mensch von wildem Aussehen, der sich schon einige Minuten vor ihm aufgepflanzt, den Geordie aber in seiner Versunkenheit nicht wahrgenommen hatte, diesem auf seinen Bauch einen jener Hiebe versetzte (wahrscheinlich, weil er kein anderes Mittel wußte, um sich bemerkbar zu machen), wie sie knochige und magere Leute gern an wohlbeleibte austeilen, sei es aus Spottlust oder irgendeinem Rachegefühl.
Aufgebracht durch diese grobe Annäherung, die er ganz besonders verabscheute und kaum von seinen besten und reichsten Gästen duldete, fuhr Geordie mit einem für seine Leibesfülle ziemlich behenden Satz zurück; und da er seinen Angreifer als einen mit schäbigem Zeug bekleideten Gesellen erkannte, bildete sich in seinem Hirn alsbald die folgende Überlegung: Da hätten wir nun einen Kerl, der, wenn's gut geht, ein Stück Ochsenfleisch mit einem Becher Dünnbier oder Whisky verzehren wird; desungeachtet besitzt er die Keckheit eines großen Herrn, der sein Huhn mit Klarett und Champagnerwein begießt. Ich setze also höchstens einen Schilling aufs Spiel, wenn ich ihm gehörig die Meinung sage.
»He, du Esel, du Lümmel, du ungeschlachtes Vieh ohne Anstand und Sitte!« schrie also Geordie nach der Überlegung, die wir eben mitgeteilt haben. »Ist das eine Art, mit anständigen Leuten ein Gespräch zu beginnen? Wahrhaftig, ich kann den Personen, die sich deiner Erziehung angenommen haben, kein Kompliment machen.«
»Nun, nun, beruhigt Euch, dicker Mann! Ich konnte doch nicht bis zum Jüngsten Tage so vor Euch stehenbleiben. Dreimal hatte ich schon vernehmlich gehustet, Meister Geordie; aber Ihr rührtet Euch so wenig wie eines Eurer Fässer; ich mußte mich also auf deutlichere Weise bemerkbar machen«, antwortete der Mensch, der den falstaffischen Wanst des würdigen Wirtes auf so üble Weise traktiert hatte, in scherzendem Ton, in dem von Reue oder Furcht keine Spur zu bemerken war.
»Ihr hättet das auch auf feinere Art erreichen können«, grollte Meister Geordie. Aber der sichere Ton und der feste Blick des Unbekannten hatten in seine noch immer ungehaltene Stimme einen Schuß Bescheidenheit gemischt.
»Nun denn, o gastlicher Elefant, gebt Eure Schwelle frei, wenn Ihr mir schon den Zutritt zum Speisesaal des ›Roten Löwen‹ gestatten wollt, dem besten und einzigen von Folkestone!«
Meister Geordie, der sich in menschlichen Herzen auskannte und wußte, daß ein leerer Beutel auch ein klägliches Gesicht zur Schau trägt, schloß nach dem kecken Auftreten und der Kühnheit seines Gehabens, daß der Unbekannte trotz seiner geringen Kleidung über einen gewissen Wohlstand verfügen mußte und sich gewiß eine Flasche Französischen oder zum mindesten einen Braten mit kanarischem Wein auftischen lassen würde. Indem er also seine Würde für diesmal zum Opfer brachte, trat er, so gut es ging, beiseite und ließ seinen Angreifer ins Haus treten.
Das Gastzimmer des »Roten Löwen«, das sein Licht aus vier Klappfenstern bezog, die man seit der Erfindung jenes menschenfreundlichen Instrumentes »Guillotinen«-Fenster nennt, war durch mehrere Holzverschläge eingeteilt, wodurch eine Art Einzelkammern entstand, die nach Form und Anordnung an die Verschläge in Pferdeställen erinnerten. Denn der Engländer liebt es, für sich zu sein, und fühlt sich von fremden Blicken so unangenehm berührt, daß er selbst auf so neutralem Gebiet wie dem öffentlichen Speisesaal eines Wirtshauses sich durch diese künstliche Abtrennung ein gewisses Zuhause verschafft.
Zwischen den zwei Reihen von Verschlägen lief ein breiter, mit feinem gelben Sand bestreuter Gang gerade auf den Schanktisch zu, der aus westindischem Holz gezimmert und mit kupfernen Verzierungen beschlagen war. Dort standen in Reihen Zinngefäße und Deckelkrüge aus glänzendem Metall, das leuchtete wie Silber.
Ein schmaler Spiegel in hölzernem Rahmen glitzerte hinter dem Schanktisch, wo zu Händen der Wirtin eine Unzahl von Hähnen angebracht war, deren Röhren hinunter zum Keller in ebenso viele Fässer mit Bier und sonstigen Getränken aller Art mündeten.
Einige Stiche von Hogarth, schwarz gerahmt, und die Mißlichkeit irgendeines Lasters, das der Trunkenheit ausgenommen, schildernd, vervollständigten den Schmuck dieses Raumes, der den Altar und das Heiligtum des Hauses umfaßte.
Geordie nahm den Weg zum Schanktisch, gefolgt von seinem Gast, der von allen diesen Herrlichkeiten nicht sonderlich geblendet schien. Mit einer Stimme, der die Gewohnheit, sich seinen Gästen angenehm zu machen, eine unterwürfigere Note gab, als es ihm in diesem Falle lieb war, stellte er die folgende Sakramentsfrage:
»Was darf ich Euer Gnaden vorsetzen?«
»Eine Kalesche und vier Pferde«, antwortete der andere mit der ruhigsten und freimütigsten Miene von der Welt.
Auf diese ungereimte Antwort nahm der Herr des »Roten Löwen« eine feierliche und großartig verachtungsvolle Haltung an. Er warf sich in die Brust, hob das Kinn und sagte:
»Herr, ich liebe die schlechten Späße ebensowenig wie deren Erzeuger. Ihr habt mich nun schon auf den Bauch geklopft in einer Weise, wie ich sie nicht näher beschreiben will, für die aber Bezeichnungen wie ›familiär‹ und ›ungehörig‹ nicht zu hoch gegriffen erscheinen. Ungeachtet dieses unhöflichen Vorgehens habe ich Euch dennoch in mein Hotel zum »Roten Löwen« aufgenommen, das, wie ich wohl behaupten darf, über die ganze Welt hin bekannt ist. Ich führe Euch zu diesem Schanktisch, der erfrischende, geistige und heilsame Getränke spendet, je nach Geschmack des Gastes. Ich frage mit Anstand nach Euer Gnaden Belieben, und Ihr begegnet mir mit Narreteien und albernen Possen. ›Eine Kalesche und vier Pferde‹ sind eine Antwort, die sich keineswegs auf meine Frage reimt und die formelle Absicht Eurerseits, mich zu beleidigen, deutlich beweist.«
»Ach, was Ihr da alles zusammenschwatzt, Meister Geordie! Ereifert Euch nur nicht. Bisher waret Ihr nur scharlachrot, jetzt fangt Ihr an ins Violette überzugehen, und bald werde ich Euch blau sehen. Beruhigt Euch! Nie war es meine Absicht, eine so honorable Persönlichkeit, wie Ihr es seid, zu kränken. Ich habe in vollem Ernst gesprochen. Ich brauche in der Tat eine Kutsche, Kalesche, Berline, einen Landauer, Postwagen – einerlei, wenn er nur gut gebaut ist und rasch läuft; für den Wagen brauche ich Pferde, und da ich Eile habe, verlange ich vier, und zwar von den besten, die je in Eurem Stall ihren Hafer gefressen haben. Ich kann dabei nichts Ungehöriges finden.«
Diese Argumente mochten dem Wirt einleuchten. Dennoch erregten Kleidung und Miene seines Gastes ein Mißtrauen in seiner Seele, das dieser ohne Zweifel erriet; denn er tauchte mit der Hand in eine seiner Taschen und entnahm ihr einen anmutig gerundeten Beutel, den er in die Luft warf und der, zurückfallend, ein metallisches Getön von sich gab, das Geordies geübtes Ohr als die vollkommene Harmonie von Guineen, Pfunden und halben Pfunden erkannte, ohne einen einzigen Mißklang von Kupfer oder sonstiger Münze.
Der Wirt, der bis dahin die Mütze auf dem Kopf behalten hatte, riß diese rasch herunter und drehte sie in den Händen, um sich irgendeine Haltung zu geben; denn es fiel ihm schwer auf die Seele, daß er den Inhaber einer so gut gespickten Börse mit solcher Ungeniertheit zur Rede gestellt hatte. Aber wer hätte auch diesen Tatbestand vermuten können, den ein Anzug von so gemeinem Stoff und Schnitt wenig vermuten ließ?
»Gegen wie viele dieser Goldfüchse würdet Ihr eine Eurer Kaleschen eintauschen?« fragte der Unbekannte, den wir der Einfachheit halber Jack oder John nennen wollen; denn da er Engländer war, mußte der eine oder andere dieser Namen auf ihn passen. Und er breitete eine beträchtliche Anzahl von Goldstücken im Halbkreis auf dem Tische aus.
»Ich könnte Euch den Zweisitzer billig abgeben, aber eines seiner Räder ist zerbrochen, und es bedürfte einiger Zeit, um ihn wieder in Ordnung zu bringen; oder auch den Landauer, wenn die hintere Feder nicht geborsten wäre«, sagte der Wirt und rieb sich den Nasenflügel mit dem Finger der einen Hand, während er mit der anderen seinen Ellenbogen stützte: eine Attitüde, mit der zu allen Zeiten die Bildhauer und Maler gern die Problematik des Denkers dargestellt haben.
»Warum,« entgegnete Jack, »offeriert Ihr mir nicht gleich Eure olivengrüne Berline mit den Polstern aus gutem Lincolndrap und den hübschen Seidengardinen, statt diesen ausgerenkten Rumpelkästen?«
»Meine olivengrüne Berline, die mich so schweres Geld gekostet hat!« schrie Geordie, überwältigt von der Ungeheuerlichkeit dieses Vorschlages. »Könnt Ihr so etwas denken!«
»Ich kann's. Der Preis soll kein Hindernis sein. Wenn ich sie Euch höher bezahle, als Ihr sie gekauft habt, werdet Ihr sie mir ohne Zweifel überlassen.«
Mit diesen Worten warf Jack mit der Miene eines ganz großen Herrn nachlässig ein Dutzend Guineen auf den Tisch, so daß der goldene Kreis fast ganz geschlossen wurde.
»Meiner Seel', das ist ein verkappter Gentleman von Rang,« sagte sich innerlich der Wirt, während er Jacks herausfordernde Frage mit einer Handbewegung beschwichtigte.
»Unter dieser Bedingung allerdings,« fuhr er laut fort, »will ich sie Euch überlassen. Und wann befehlen Euer Gnaden die Berline?«
»Auf der Stelle. Sagt dem Postillion, daß er sich bereitmache und sofort anspanne.«
»Zwei Minuten, um den Wagen aus dem Schuppen zu ziehen; zehn Minuten, um die Pferde zu zäumen und an die Deichsel zu spannen; das macht zwölf. Dazu noch drei für Little-John, um in Rock und Stiefel zu schlüpfen und eine neue Mücke an die Peitsche zu knüpfen. Alles in allem also fünfzehn Minuten: und Ihr werdet in schönster Fahrt Eure Straße rollen.«
»Fünfzehn Minuten und nicht eine einzige darüber!« sagte Jack und zog aus seiner Rocktasche eine plumpe silberne Uhr. »Oder ich werde Euch für jede Minute Verspätung einen jener Schläge auf Euren kostbaren Schmerbauch applizieren, die Euch so gründlich die Laune verderben.«
Voller Schrecken über die angedrohte Mißhandlung stürzte Meister Geordie aus dem Zimmer, um die nötigen Befehle zu erteilen; dann kehrte er zurück und machte im Zwang der Gewohnheit einen Versuch, dem Gaste irgendeine Stärkung aufzunötigen, die ihm die Zeit vertreiben sollte bis zur Bereitschaft des Wagens.
»Was meinen Euer Gnaden zu einem Gläschen Sherry oder Portwein oder Punsch oder Arrak?«
»Nichts von alledem, Meister Geordie! Doch müßt Ihr nicht glauben, daß ich den geringsten Zweifel in die Vortrefflichkeit Eures Kellers oder in die Behendigkeit Eurer Bedienung setze.«
»Solltet Ihr zufällig einer Temperenzlergesellschaft angehören?« fragte der Wirt, den solche Nüchternheit in Erstaunen setzte.
»Dazu bin ich nicht Trunkenbold genug,« entgegnete Jack lachend, »und ich bedarf der Predigten unseres Bruders Mathew nicht; aber ich habe ein Gelübde getan, heute den ganzen Tag nichts zu trinken.«
»Irgendein Papist,« murmelte Geordie, dem ein derartiges Gelübde noch unvorsichtiger erschien als dasjenige Jephtas.
»Nun gut, dann erlaubt wenigstens, daß ich dies wohlgefüllte Glas auf Eure Gesundheit leere,« fügte Geordie laut hinzu, der den Gedanken, daß überhaupt nichts getrunken würde, einfach nicht ertrug.
»Das Zuschauen kann meinen Schwur nicht verletzen,« sagte Jack; »ja, es vergrößert sozusagen mein Verdienst, wenn ich der Versuchung widerstehe. Euer Wein hat eine so schöne Farbe!«
»Wie flüssiger Rubin, Herr; und welches Bukett! Die Veilchen im Frühling haben kein besseres,« fuhr der Wirt fort, den eine lyrische Stimmung über sich selbst hinaushob, und hielt dem Gast sein Glas unter die Nase.
Jack sog den Duft mit einem tiefen Atemzug ein und ließ einen zweiten, der wie ein Seufzer klang, folgen.
Schon hatte es den Anschein, als ob der Wein, dessen Wert er wohl zu schätzen wußte, ihn dennoch schwankend machen würde. Schon senkte Geordie den schmalen Hals der Flasche auf das zweite, noch leere Glas; aber Jack war ein stählerner Bursche mit unerschütterlichem Willen. Im Nu hatte er sich selbst wieder in der Gewalt; und während er dem Wirt nun seinerseits die Uhr unter die Nase hielt, die bereits um vierzehn und eine halbe Minute vorgerückt war, reckte er mit lachender Drohung seine Hand, die so groß war wie das Schulterblatt eines Hammels.
»Noch dreißig Sekunden!« jammerte Geordie mit erstickter Stimme und versuchte, die konvexe Kurve seines Bauches in eine konkave zu verwandeln: ein schwieriges, um nicht zu sagen unmögliches Bemühen.
Eben wollte der Zeiger die fünfzehnte Minute vollenden, und der unerbittliche Jack schwenkte seine Hand schon hin und her, um dem Schlag noch größere Wucht zu verleihen. Geordie verteidigte seinen Leib mit einem noch kunstvolleren Gebärdenspiel als dem einer sich schamhaft bedeckenden Venus. Da machte zum Glück der Peitschenknall Little-Johns und das Rollen der olivengrünen Berline, die aus dem Hofe fuhr, dieser gespannt-dramatischen Situation ein Ende. Jack ließ seine Hand sinken; Geordie richtete sich auf.
»Fünfzehn Minuten, wie ich es gesagt habe!« rief er in Begeisterung über seine prompte Pünktlichkeit.
»Euer Bauch hat Glück gehabt,« sagte Jack, stieg in den Wagen und warf sich ohne den allermindesten Respekt auf die grünen Draps-Kissen.
»Wohin, Herr?« fragte der Postillion.
»Erst fahr mich zum Dorf hinaus; hernach sollst du erfahren, welchen Weg wir einschlagen werden«, antwortete Jack, der keine Lust verspürte, Meister Geordie und den vielen Gaffern, die der Abfahrt des Wagens zusahen, das Ziel seiner Reise zu verraten.
Als das Dorf hinter ihnen lag, drehte sich Little-John auf seinem Sitze herum mit der Frage: »Herr, soll ich die Straße nach London nehmen?«
»Nein, mein Junge,« antwortete Jack, »du wirst so freundlich sein, der Küste entlang zu fahren, bis ich dir zu halten befehle.«
Little-John lenkte, ohne seinem Erstaunen Ausdruck zu geben, die Pferde in der anbefohlenen Richtung; denn Jack, wiewohl zuzeiten ein schnurriger Bursche, trug, man muß es gestehen, meistens eine rauhe und wenig vertrauenerweckende Miene zur Schau.
»Zweifellos,« sagte sich Little-John, »geht es hier um die Entführung eines schönen Fräuleins aus einem Schloß oder Landhaus der Umgebung, das unter dem Vorwand, das Meer zu bewundern oder die Landschaft zu malen, unseren Weg kreuzen und mit einem Satz in den Wagen hüpfen wird. Ich hege eine besondere Vorliebe für Entführungen; denn die Liebenden, die ihre Väter oder Vormünder auf den Fersen spüren, zahlen in der Regel ausgezeichnet; nur scheint mir der Bursche da nicht das Aussehen eines Verführers zu haben.«
Man fuhr ein paar Meilen weit der Küste entlang, an die das Meer seine gleichförmige Brandung rollte und mit dumpfem Brausen die von der langsamen Abnutzung blank geriebenen Kiesel anschleuderte und wieder forttrug.
Nicht weit von einer weißen, steil abfallenden Klippe, die das Meer überragte, rief Jack »Halt!«, ohne daß irgendein Grund zum Anhalten ersichtlich gewesen wäre. Denn weit in der Runde konnte man weder Haus noch Hof, noch irgendeine Wohnstätte, nicht einmal einen gangbaren Weg erblicken.
Jack stieg aus dem Wagen und schritt auf die Klippe zu, die er mit der Behendigkeit einer Katze, eines Matrosen oder eines Schmugglers erklomm, indem er sich die kleinsten Unebenheiten zunutze machte und sich an die Büschel von Fenchel und Ginster klammerte, die da und dort wie ein zottiger Bart am Kinn des Felsens wucherten. Bald hatte er den Grat der Klippe erreicht, von den erstaunten Blicken Little-Johns verfolgt, der sich im Leben nicht gedacht hätte, daß dieses schwierige Ziel anders als mit Leitern oder mittels eines Werftbocks zu erreichen wäre.
Als Jack oben angelangt war, hob ein Mensch, der mit dem Bauch auf der Erde lag, so daß er von unten nicht zu sehen war, und mit einem Fernrohr auf das Meer hinausschaute, ein wenig den Kopf und sagte:
»Ach, du bist es, Jack? Ist der Wagen bereit?«
»Jawohl, und mit vier kräftigen Pferden bespannt.«
»Das ist gut. Auch das Schiff ist in Sicht. Ich habe es an dem rotgelben Wimpel erkannt, der zwischen uns verabredet wurde.«
In der Tat war jetzt am Horizont sogar mit bloßem Auge, an der Stelle, wo der Kanal sich ins weite Meer verliert, ein kleines weißes Segel auf dem Lapislazuli der Wellen zu erkennen, ähnlich der verlorenen Feder aus dem Flügel eines Schwanes.
»Die Brise leistet ihm in diesem Augenblick einigen Widerstand. Aber wenn es den Wind erst im Takelwerk hat, wird es gleich einer Möwe dahinschießen«, fuhr der Mann am Boden fort, das Auge immer an das Fernrohr geheftet. »Dazu weht der Wind von Südost; ein Wind, der wie für uns gemacht ist; als hätten wir ihn aus dem Zauberkasten einer Hexe erhandelt.«
Jack streckte sich der Länge nach neben seinem Gefährten auf dem Boden aus, nahm diesem das Fernrohr aus der Hand und begann nun seinerseits das Fahrzeug, das immer klarer aus den Wassern auftauchte und seinen Rumpf nun schon deutlich zeigte, zu verfolgen.
Wenn es aus dem Windstrich geriet, fielen die Flocken der weißen Segel wie weiße Wolken an den Masten nieder.
»Es braßt wahrhaftig mehr Segeltuch in einer Minute als zehn Weber von Spithfield in einem Jahr«, rief Jack.
Sobald die Triebkraft des Windes einsetzte, beugte sich das Schiff ein wenig zur Seite, sein Mastwerk anmutig wie zum Gruß neigend. Dann schwankte es zwei-, dreimal, und durch einen Griff am Steuer aufgerichtet, fand es seine kühne Haltung wieder; und eine zwiefache Spitzenfranse aus silbernem Schaum rieselte eilig seinen schwarzen Flanken entlang.
»Das schöne Schiff!« rief Jack, »wie kühn es sich seinen Weg bahnt!«
Aber es hatte den Anschein, als wäre die Mannschaft des Schiffes über die Geschwindigkeit der Fahrt anderer Meinung; denn das Bramsegel entfaltete sich, und ein drittes Klüwer breitete sein Dreieck aus neben den beiden andern, die, zuvor schon gehißt, sich im Winde blähten.
»Sieh doch, Mackgill,« sagte Jack, indem er seinem Gefährten das Fernrohr reichte, »ist es doch, als ob sie keinen Windhauch ungenützt lassen wollten! Der Teufel soll mich holen, wenn sie mit all diesem Leinenzeug nicht fünfzehn Knoten [Seemeilen] in der Stunde machen.«
Im Zug einer frischen Brise näherte sich das Schiff so schnell, daß nach wenigen Minuten schon alle Einzelheiten, auch ohne Fernrohr, deutlich erkennbar waren.
»Beim Himmel, sie haben den Verstand verloren, oder der Kapitän hat gleich ein ganzes Faß Punsch hinuntergespült«, riefen Jack und Mackgill im gleichen Atem, als nun auch die unteren Beisegel an den Spieren neben den Hauptsegeln gehißt wurden und ihre Spitzen in den Wogenschaum tauchten wie die Seeschwalbe ihre Flügel.
»Wenn das so weitergeht,« sagte Mackgill, »werden sie sich über das Wasser erheben und im Winde fliegen oder kentern mit dem Kiel nach oben. Ach, die tapfere Brigg, sie hält durch; kein Mast biegt sich, und das Tauwerk hält stand«, fuhr er in Begeisterung fort. »Kein Schmuggler, dem das Polizeischiff im Kielwasser folgt; keine Kauffahrtei mit Gold und Kochenillenladung, vom Korsaren gejagt, entrann je seinen Verfolgern in solcher Flucht! Man sollte meinen, es ginge ums Leben, und doch ist kein zweites Segel am Horizont zu erblicken.«
»Der Kapitän Peppercul versteht sein Geschäft. Wenn er dem Fahrzeug also die Sporen gibt, so ist entweder Grund zur Eile vorhanden oder er hat ein fettes Trinkgeld eingesteckt. Nicht umsonst riskiert er, sich mit seinem eigenen Segeltuch zuzudecken und einen kräftigen Schluck aus dem großen Salzwasserpokal des Meeres zu tun. Dazu liebt er das Wasser zu wenig,« fuhr Jack mit komischem Ernst fort, »und es wird seine guten Gründe haben, daß man uns hierher postierte und ich dem verfluchten Geordie die Kutsche abkaufen mußte.«
»Jack, Gott steh' mir bei,« rief Mackgill, »nun hissen sie alle Segel auf Topp!«
»Auf der ›Belle-Jenny‹ ist jetzt nicht mehr so viel Leinenzeug übrig, als man zu einem Taschentuch braucht! Alles haben sie an die Stangen gehängt.«
»Wiewohl ich, Gott sei's gedankt, das Wasser nicht fürchte – wenigstens nicht im äußerlichen Gebrauch –, so reut es mich doch nicht, daß ich heute meinen Fuß auf diesen Felsen und nicht auf Kapitän Pepperculs Deck gesetzt habe.«
Durch den neuen Zuwachs an Segeltuch krümmten sich die Masten wie Bogenholz. Der Scheg des Buges verschwand fast gänzlich unter dem Druck des Windes, und große schaumige Wasserstrudel schossen über Deck wie Hobelspäne aus einem Riesenhobel.
»Gleich wird das Mastwerk auf die Schiffsverschanzung herabstürzen«, sagte Mackgill, dessen Aufmerksamkeit aufs höchste gespannt war.
Aber nichts rührte sich, und das Schiff, das wie von einem Wirbel erfaßt schien, gelangte in nächste Nähe der Klippe. Im Nu war es von aller Leinwand entblößt, die es bedeckt hatte; es stand und zeigte sich nackt in seinem feinen, befreiten Takelwerk.
Eine Jolle löste sich von der Flanke der ›Belle-Jenny‹ und brachte mit ein paar Ruderschlägen einen Mann an Land, der die Beute lebhaftester Ungeduld zu sein schien.
»Eine halbe Stunde Verspätung«, murmelte er, als er ausstieg und auf die Uhr blickte. »Wo bleibt der Wagen?«
Jack, der mit Mackgill von seinem Felsen herabgeklettert war, ließ vorfahren.
Als der Neuangekommene in der Berline Platz genommen hatte, wiederholte Little-John seine frühere Frage: »Herr, welche Richtung soll ich fahren?«
»Nach London, und im Fluge! Drei Guineen für dich, wenn du mich zufriedenstellst.«
Der Wagen stob wie der Blitz davon; die Räder flammten wie an Elias' feurigem Wagen.
Mit Mackgill allein geblieben, tat Jack den scharfsinnigen Ausspruch: »Da ist nun mal einer, der die Geschwindigkeit schätzt. Er wäre sehr unglücklich geworden, wenn ihn Gott der Herr als Schildkröte in die Welt gesetzt hätte.«