Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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X

Die Jolle setzte ihren Weg ungefähr bis Gravesend fort. Der Sturm hatte nachgelassen, und der immer noch drohende Himmel ließ doch hier und dort aus zerrissenem Gewölk einen Stern im nächtlichen Blau aufblitzen. Die bis zum Grund aufgewühlten Wogen rollten schwerfällig und fingen sich schäumend in den von steil abfallenden Klippen eingeschlossenen Buchten, die wie Meeresarme von dem breiten Strome abzweigten. Der Wind verzog sich knurrend wie ein feiger, bissiger Hund vor einem Fußtritt.

Da tauchte aus den Wellen ein schwarzer Schiffsrumpf auf und zeichnete sich mit seinem gelockerten spinnennetzartigen Takelwerk zunächst noch undeutlich vom dunkeln Horizont ab.

Es war die verankerte ›Belle-Jenny‹, die hinter einer Krümmung des Flusses bis dahin unsichtbar geblieben war. Alles an Bord schien in tiefem Schlaf zu liegen. Die Luken waren sorgfältig verstopft, kein Licht ließ sich sehen, kein Laut war vernehmbar außer dem Knarren der Blocksrollen, die der Wind bewegte. Allein der Schlaf war zu tief, um echt zu sein. Und in der Tat schlief die ›Belle-Jenny‹ nur mit einem Auge; denn kaum tauchte die Jolle hinter der Böschung auf, als über der Schiffsverschanzung auch schon ein Kopf erschien und eine gedämpfte, aber deutliche Stimme flußwärts rief: »Ahoi! da unten die Jolle – Ahoi! Seid ihr's?«

»Ahoi!« gab Saunders im gleichen Ton zurück. »Unsere Parole: Der Krebs geht rückwärts – aber er kommt ans Ziel!«

»Eine wahrhaft weise Maxime!« meditierte der auf den obersten Stufen einer Leiter erscheinende Mackgill.

Die Jolle legte an der Flanke der ›Belle-Jenny‹ an; und Saunders, dessen eine Hand sich fest um Arundells Arm spannte, ergriff jetzt mit der anderen das heruntergelassene Fallreep und begann die Leiter emporzuklimmen. Benedict hatte versucht, sich ins Wasser zurückfallen zu lassen, aber Saunders' Arme zwängten ihn in einen Schraubstock, und zudem hielten die hinter ihm hinaufkletternden Matrosen ihre Hände dicht unter seine Fersen. Er konnte also keinen Fehltritt tun, ohne daß sie sogleich zugegriffen hätten. Jeder Fluchtversuch war aussichtslos, und Benedict kletterte widerstrebend wie auf einer Galgenleiter zur Höhe. Er fühlte, wie jeder Schritt ihn um Ewigkeiten von Amabel entfernte. Die mit so geheimnisvoller Vorsicht ins Werk gesetzte Überführung auf das Segelschiff, auf dem er erwartet zu sein schien, deutete auf einen lange vorbereiteten Plan. Alle diese schweigenden Hände gehorchten einem Willen, dessen Beweggründe ihm verborgen blieben. Was hatte man mit ihm vor? Wollte man ihn als Geisel in ein fernes Land verschleppen und nur gegen ein hohes Lösegeld seiner Familie wieder zurückgeben? Oder war er jenen Banditen in die Hände geraten, die ihre Opfer im Gebirge verborgen halten und als Zahlungsbefehl ein Ohr ihres Gefangenen an die Angehörigen seines Wohnortes schicken?

»Was sollen wir mit der Frau anfangen?« wandte sich der in das Boot zurückkehrende Saunders, der seinen Gefangenen inzwischen der Obhut Jacks und Mackgills übergeben hatte, an den Mann im Mantel. »Wir können sie nicht wieder ins Wasser werfen, nachdem wir sie nun schon einmal gerettet haben; das würde sich weiß Gott schlecht ausnehmen.«

»Hinauf mit ihr!« war die kurze Antwort des Geheimnisvollen.

Edith hörte dem Gespräch, das über ihr Wohl und Wehe entschied, so teilnahmslos zu, als ob es sie gar nichts anginge. Ein krampfhaftes Zittern, ein Sausen in ihrem Kopf wie von nahendem Wahnsinn, die ersten Irrlichter eines drohenden Fiebers benahmen ihr jede klare Vorstellung, und sie ließ sich willenlos wie ein krankes Kind aufheben und forttragen.

Saunders, der an andere Lasten gewöhnt war, erklomm die schwankende Leiter mit katzenhafter Behendigkeit. Bald hatte er das Deck erreicht und lehnte Miß Edith, die sich kaum auf den Füßen hielt und ihre Glieder schlaff herabhängen ließ, gegen einen Mast. Der Mann im Mantel gab Befehl, sie an einen bestimmten Ort des Zwischendecks zu bringen, wo sie weder etwas sehen noch selbst erblickt werden konnte.

Der Befehl wurde auf der Stelle ausgeführt, und bald war das Deck der ›Belle-Jenny‹ wieder menschenleer, den Mann im Mantel ausgenommen, der mit hallenden Schritten auf und ab ging und aufmerksam die Richtung des Fahrwindes prüfte.

Benedict war von Jack und Mackgill in die hinterste Kabine gebracht und vorsichtig in sein neues Gefängnis eingeschlossen worden. Dieses Gefängnis aber muß, im Gegensatz zu seinem früheren, mindestens als komfortabel bezeichnet werden. Das von zwei kurzen Damastvorhängen verhüllte Bett war in eine Umrahmung von westindischem Holz eingelassen. Ein schwarzes Roßhaarsofa, ein Tisch, der gegen jede Bootsschwankung an der Wand gesichert war, und eine in die Decke eingelassene Lampe vervollständigten die Ausstattung des kleinen Raumes. Das Fenster aber, auf das Benedict sofort zugeeilt war, bestand aus rundem, undurchsichtigem, dickem Glas und war mit haarscharfer Präzision in seinen Rahmen eingefügt; es ließ weder einen Ausblick noch einen Hoffnungsstrahl von außen zu. Mit derselben Vorsicht und Genauigkeit war auch die Schiebetür verschlossen.

Arundell, dem zur Stunde auch die geringste Aussicht auf Flucht verhängt war, ließ sich in eine Ecke des Sofas fallen und verharrte regungslos ohne klaren Gedanken und ohne einen Trost, in trüber Ergebenheit in sein Schicksal. Er war es müde, sich in Vermutungen zu ergehen; er war es müde, unnütze Pläne zu schmieden. Er fühlte sich von einem unbekannten Feind an eine unzerreißbare Kette geschmiedet. Er war wie eine arme Mücke in das Netz einer geheimnisvollen Spinne geraten; und er hätte, indem er um sich schlug, nur seine Flügel zerfetzt oder die Bande verstärkt, die ihn fesselten. Er fühlte sich als die Beute eines bösartigen Anschlages oder des infamsten Verrates; es blieb ihm im Augenblick nichts übrig, als sein Geschick schweigend zu erdulden.

Todmüde von den Ereignissen und Anstrengungen dieses schrecklichen Tages, fühlte er trotz allem Willen zur Wachsamkeit eine bleierne Schwere sich auf seine Lider senken; und während seine Gedanken ruhelos wachten, schlief der Körper ein.

Inzwischen hatte der Wind gedreht; Kapitän Peppercul, der sich eben damit befaßte, eine Gallone Rum von viereinhalb Liter in kleinen Schlückchen auszuschlürfen – zum Schutz gegen eine etwaige Erkältung bei diesem feuchten Nebelwetter – mußte dieses angenehme Geschäft unterbrechen, um dem Befehl des Unbekannten im schwarzen Mantel Folge zu leisten, der mit dem Scharfblick des erfahrenen Mannes den Windstrich unausgesetzt beobachtet hatte. Peppercul kletterte also unter leisem Schwanken an Deck. Er hatte als vorsichtiger Mann den Gefahren der bösen Witterung gewissenhaft vorgebaut; aber man darf nicht glauben, daß diese Ladung Spiritus unseren würdigen Peppercul hätte zum Sinken bringen können. Zwei, drei kräftige Windstöße ins Gesicht stellten sein Gleichgewicht sofort wieder her.

»Kapitän, das Meer will uns wohl, der Wind hat gedreht, wir werden seewärts steuern. Unser Geschäft in England ist zu Ende«, sagte der Mantelträger zu dem eben auftauchenden Peppercul.

»Hören ist soviel wie gehorchen«, antwortete dieser, indem er die orientalische Formel der Höflichkeit für seine Zwecke variierte. Denn sein Gebieter flößte ihm einen furchterregenden Respekt ein, obgleich Peppercul von Natur weder feige noch unterwürfig war.

Der Befehl zur Ankerlichtung erging alsbald. Der Hebebaum wurde an die Ankerwinde gelegt, und die Matrosen begannen sich mit der ganzen Wucht ihrer Arme und Oberkörper daran zu hängen. In ruckweisen Folgen und im Takt eines melancholisch glucksenden Rufes, der sich mit der Klage des Windes, dem Schluchzen der Welle und dem Schrei der Möwe mischte, und in dem die Angst der dem menschlichen Willen unterliegenden Natur laut wurde, gingen die Matrosen ans Werk. Der Anker riß sich los, und schon legte sich die Kette in mehreren Windungen um die schwere Rolle und bedeckte das Schiffsdeck mit Meerschlamm.

An dem eigentümlichen Ruf und den ihn begleitenden, regelmäßigen Tritten erkannte Benedict, den ein wilder Traum umfangen hielt, daß die Anker gelichtet wurden und die Abfahrt unmittelbar bevorstand. Obgleich nun dieser Umstand an seiner ohnehin schlimmen Lage nichts veränderte, und es ihm ziemlich gleichgültig sein konnte, ob er in einem ruhenden oder schwimmenden Kerker festgehalten wurde, so fühlte sich Benedict in diesem Augenblicke doch von einer unendlichen Traurigkeit ergriffen. Es hätte ihm einen schwachen Trost gewährt, in dem Lande, wo seine Freunde lebten, und Amabel die gleiche Luft mit ihnen atmete, ein Gefangener zu sein. Jetzt aber mußten alle Bemühungen seiner Familie und seiner Freunde fruchtlos bleiben. Denn wie sollten sie seine Spur in dem ewig wechselnden, schäumenden Kielwasser der ›Belle-Jenny‹ verfolgen können? Amabel war ihm auf ewig verloren.

Der merkwürdige Singsang dauerte fort, und bald konnten alle Anker an die Halsen gelegt werden. Die Matrosen erkletterten die Rahen der Toppmasten und lösten die Segel, die zitternd im Winde flatterten gleich den Flügeln großer Meeresvögel, wenn sie zum Fluge ausholen. Aber durch die Schoten zurückgehalten, höhlten und rundeten sie sich, und unter dem Antrieb neigte sich die ›Belle-Jenny‹ anmutig in ihrer Fahrt.

Mackgill stand neben dem von einem zittrigen Licht erleuchteten Kompaßhäuschen und hielt das Steuerrad. Er lenkte die ›Belle-Jenny‹, die gleich einem weichmäuligen Pferde, das jedem Druck von Zügel und Kandare nachgibt, sich hob und bog und Schiffen und Booten auswich, die sich im eben erwachenden Tag aus dem Schlummer rüttelten und in allen Richtungen auf dem breiten Flusse kreuzten.

Der Morgen brach an. Streifen fahlen Lichtes durchfurchten die dicken Wolkenwände; die roten Lampen der Leuchttürme verblaßten zusehends vor den Strahlen des werdenden Tages; die verschwimmenden, kaum sichtbaren Ufer rückten immer weiter auseinander, und die gelben Wasser schlugen stärkere Wellen. Die Nähe des offenen Meeres machte sich geltend, die ›Belle-Jenny‹ hob und senkte die schaumgebadete Brust im Schlingern der Wellen.

Benedict hatte sich erschöpft auf ein Roßhaarkissen gestützt, als ein Knarren der Türe ihn vollends weckte. Die Schiebewand wurde zurückgeschoben, und der Mann im schwarzen Mantel erschien auf der Schwelle der Kajüte. Noch lag der Raum im Dämmerlicht, und Benedict vermochte die Züge des Mannes, der seine Einsamkeit störte, nicht gleich zu unterscheiden; um so weniger, als ein breiter Hut dessen Augen beschattete, und die Falten seines Überwurfes seine Gestalt unkenntlich verhüllten.

Dem Eindringling schien jedoch an seinem Inkognito nichts zu liegen. Er stellte sich geradewegs unter die kleine Lampe, die noch immer brannte; warf die Umhüllung beiseite, nahm den Hut ab und offenbarte zu Arundells namenloser Überraschung die Person Arthur Sidneys.

Arundell konnte einen Ruf des Erstaunens nicht unterdrücken. Sir Arthur aber verharrte im vollkommenen Gleichmut, als wäre zwischen ihm und seinem Freunde nicht das geringste vorgefallen. Das Licht der Lampe spielte auf seiner glänzend weißen Stirne, sein Blick war ruhig, und seine Miene atmete einen ungetrübten Seelenfrieden.

»Du bist es, Arthur?«

»Ja, ich. Heute morgen aus Indien angelangt.«

»Aber was bedeutet dies alles?« rief nun Benedict, der nicht länger an der lebendigen Wirklichkeit Sidneys zweifeln konnte.

»Es bedeutet,« antwortete dieser ruhig, »daß ich meine Einwilligung zu dieser Heirat nicht gegeben hatte und sie darum verhindern mußte, sonst nichts. Ich muß dich für die dabei angewandten Mittel und Wege um Vergebung bitten; es standen mir keine anderen zur Verfügung.«

»Welch' sonderbare Anmaßung!« sagte Benedict, verblüfft über die kühne Knappheit der Rede. »Bist du mein Vater, Onkel oder Vormund, um dir solche Rechte auf meine Person anzumaßen?«

»Nichts von alledem – nur dein Freund«, antwortete Sidney feierlich.

»Ein Freund besonderer Art, der das Glück meines Lebens zerstört und mich in die furchtbarste Verzweiflung stürzt!«

»Deine Verzweiflung wird sich legen, der Schmerz von Verliebten hat keinen langen Atem, der Wind trägt ihn fort wie eine Möwenfeder. Im übrigen bist du nicht dein eigener Herr,« fuhr Sidney fort, indem er seiner Tasche ein Blatt Papier entnahm, das er vor Benedicts Augen entfaltete.

Dieses schon vergilbte Schreiben, das in seinen Falten zerschlissen war, mußte vor langer Zeit verfaßt worden sein. Die Schriftzüge waren verblichen und rötlich verfärbt, als hätte man sich Blutes statt der Tinte bedient. Beim Anblick dieses kabbalistisch anmutenden Schriftstücks, das einem Teufelspakt nicht unähnlich war, bemächtigte sich Arundells eine sichtbare Befangenheit, und er verharrte in Schweigen.

»Ist dieses deine Unterschrift oder nicht?« fragte Sidney und hielt Benedict das Papier dicht unter die Augen.

»Namenszug und Schnörkel sind von meiner Hand,« gab Benedict widerstandslos zu.

»Hast du dein Ehrenwort als Gentleman hier aus freiem Willen verpfändet?«

»Niemand hat mich dazu gezwungen, ich habe meinen Namen in Glauben und Begeisterung hierher gesetzt.«

»Und dieses Papier birgt ein bedeutungsvolles Gelübde. Du hast geschworen bei allem, was auf dieser Erde bindend ist: Bei dem Gott, der die Welt erschaffen, bei dem Dämon, der ihren Untergang will, beim Himmel und der Hölle, bei der Ehre deines Vaters und der Tugend deiner Mutter, bei deinem adeligen Blut, bei deiner Christenseele, bei deinem freien Manneswort, bei dem Gedächtnis der Helden und Heiligen, bei deinem Degen, und, wenn unsere Religion auf einem Irrtum beruhen sollte, bei Feuer und Wasser, bei den Quellen des Lebens, bei den geheimen Kräften der Natur, bei den Sternen, als den unerforschlichen Lenkern der Geschicke, bei Chronos und Jupiter, bei Acheron und Styx, die die Götter selbst verpflichten! Wenn es auf der Welt einen unwiderruflicheren Schwur geben sollte, so kenne ich ihn nicht. Aber ich weiß, daß du, als du diese Zeilen schriebst, das Schrecklichste und Heiligste auf dieser Welt zum Zeugen anrufen wolltest, um dem Schwur, der hier geschrieben steht, die äußerste Kraft zu verleihen.«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Dies alles ist Wahrheit,« sagte Arundell.

»Ich brauchte dich,« fuhr Sidney fort, »und kraft der Rechte, die mir dieses Blatt über dich gibt, bin ich gekommen, dich zu holen, da du nicht aus freien Stücken kamst.«

Benedict senkte vernichtet das Haupt und antwortete nicht.

»Wenn du ruhiger sein wirst,« schloß Sidney, »werde ich dir sagen, was ich von dir erwarte und welches deine Aufgabe ist.«

Mit diesen Worten zog Arthur Sidney sich zurück und schob die Türe hinter sich zu; im selben Augenblick stach die ›Belle-Jenny‹ in See.


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