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»Nun, Sidney, was hast du mir so Wichtiges mitzuteilen?« fragte Benedict Arundell seinen Freund, als sie die enge Gasse betraten, die sich im Schatten der Kirche und im dichten Nebel, dunkel wie der Höllenschlund, öffnete. »Ich werde mich kurz fassen«, antwortete Sidney, und Benedicts Arm nehmend, führte er ihn bis dicht vor das Haus, das wir in einem früheren Kapitel schon beschrieben haben, ganz als könnte er sich mit seinem Geheimnis nicht weit genug vom Hochzeitszug entfernen. In diesem Augenblick bog eine Fuhre in die Gasse ein. Sie war von vieren jener außergewöhnlich großen Pferde bespannt, wie man sie nur in London sieht, die mit ihren wuchtigen Gliedern und ihrem grauen Balg an junge Elefanten erinnern. Alsbald war die Gasse beinahe von oben bis unten verstellt. Der Lenker dieses Gefährtes war kein anderer als der schon oben vorgestellte, erfinderische Cuddy. Der Wagen bewegte sich derart, daß er ein wanderndes Bollwerk gegen die übrigen Straßen darstellte, und im Notfall hätte weder Benedict den Rückzug antreten, noch auch von draußen irgend jemand ihm zu Hilfe eilen können. In Anbetracht seiner schweren Belastung rückte er nur langsam von der Stelle, und er war noch nicht am dritten Hause vorüber, als Saunders auf Benedicts Seite sich der Mauer entlang drückend, auf sie zukam. In seiner schlenkernden Hand hielt er die Maske, die Noll zu jenem anakreontischen Scherz veranlaßt hatte, da er sie für die hübsche Nancy bestimmt glaubte.
Noll rechtfertigte sich als »Mann der großen Welt« vor seinen eigenen Augen erstens durch eine silberne, mit falschen Türkisen besetzte Krawattennadel, welche kühn in einem schwarzen Seidenfetzen an seinem Halse stak und der grünen Erin Harfe darstellte; ganz besonders aber durch ein Paar Handschuhe von unbeschreiblicher Farbe, die vor märchenhaften Zeitläuften einmal weiß gewesen sein mochten und jetzt aus ihren aufgeplatzten Nähten die rot aufgeschwollenen Knöchel und blauen Nägel seiner Finger offenbarten. Er wiegte sich gefällig in den Hüften, kaute an einem kalten Zigarrenstummel und kratzte sich an seinem Storchenbein mit einem Kleiderklopfer, der ihm als Spazierstock diente.
Bob, seinem Wesen ebenfalls getreu, buchstabierte vor einem zerbeulten Wirtshausschild die emphatischen, trügerischen Namen französischer Weine und fremdländischer Schnäpse. Diese Literatur ging ihm über alle anderen Poesien dieser Welt. Shakespeare und Milton waren armselige Stümper neben dem Künstler, der solche Namen auf diese Ruhmestafel eingetragen hatte, die an lyrischem Schwung die Oden Pindars tausendmal übertrafen. Wie würde Bob den Griechen erst verachtet haben, wenn er die folgende Anfangszeile einer seiner Strophen gekannt hätte:
»Wasser! – in Wahrheit – dich muß ich loben!«
Als Sidney, von Benedict gefolgt, mit Saunders zusammenstieß, machte er ihm ein heimliches Zeichen mit den Augen. Dieser begriff sofort und näherte sich Benedict. Gleichzeitig ließ Noll seinen Klopfer fallen und bückte sich, als wollte er ihn aufheben. Bob, der auf seiner Liste bei Kognak, Arrak und Rum angelangt war, riß sich von seiner berauschenden Lektüre los, Cuddy verließ seine Pferde, die in behaglicher Ruhe stehenblieben, und näherte sich ebenfalls.
Plötzlich klatschte ein weicher Gegenstand auf Benedicts Gesicht, und eine dicke, lauwarme und schwere Maske benahm ihm gleichzeitig Blick, Atem und Stimme. Ein nerviger Arm legte sich um seine Brust; knochige, große Hände umklammerten wie Krebsscheren seine Beine und hoben ihn vom Boden auf.
Dies alles hatte sich mit Blitzesschnelle zugetragen, und Benedict, dessen Arme durch lebendige Zangen am Abreißen der Maske verhindert wurden, fühlte sich von unsichtbaren Kräften nach einem unbekannten Ziele fortgeschleift. Ihm war wie in einem jener furchtbaren Träume, in denen die Smarra den Schläfer auf ihrem ungeheuren Rücken davonträgt. Wie auf einen Zauberschlag öffnete sich die Tür des verlassenen Hauses und ließ die Schar in dessen dunkeln Höhlengang eintreten.
Als man in dem engen Schlauch weit genug vorgerückt war, um vor jedem Tagesschein gesichert zu sein, machte Saunders die vernünftige Bemerkung, daß es vielleicht nicht unbedingt nötig sei, den Gentleman vollends ersticken zu lassen; und er riß mit großer Geschicklichkeit die Pechmaske von Benedicts Gesicht.
Diesen wollte eben die Besinnung verlassen, und seine anfangs wütenden Anstrengungen, sich aus der Umklammerung seiner Bedränger zu befreien, hatten merklich an Kraft verloren. Eine unsagbare Angst schnürte ihm die Brust zusammen; das Blut hämmerte in seinen Schläfen, seine Kehle schwoll vor Atemnot, es sauste ihm in den Ohren, und vor seinen abgeblendeten Augen führten blaue, rote und grüne Lichter einen tollen Wirbeltanz auf.
Zu jeder anderen Zeit hätte ihm die kalte Stickluft des Gewölbes Übelkeit verursacht. Aber nie zuvor hatte er den von keinem menschlichen Atem vergifteten balsamisch reinen Hauch der Berge mit so gierigen Nüstern und so vollen Lungen eingesogen, wie jetzt diese verpestete Atmosphäre. Der Schluck aus der verdorbenen Luft wurde für Benedict zum Trank des Lebens, und sein tiefes Wohlbehagen äußerte sich in einem langgezogenen: »Ah, mein Gott!«
»Es sieht wirklich so aus,« sagte Noll zu sich selber, »als ob der Herr einiges Bedürfnis nach frischer Luft gehabt hätte; und wiewohl Bob behauptet, daß nichts über einen tüchtigen Schluck Schnaps gehe, es wären denn zwei ordentliche Schlucke Arrak, so glaube ich immerhin, daß dieser Gentleman seinen eben genossenen Trank allen übrigen Genüssen vorgezogen hat.«
Als Benedict einigermaßen zum Bewußtsein seiner Lage zurückgekehrt war, versuchte er aufs neue, sich zu befreien. Aber acht kräftige Arme packten ihn und warfen ihn in den Raum, den wir schon früher beschrieben haben, und den die Ruderer, die auf unterirdischen Wegen zu ihrem Boot zurückgekehrt waren, mittlerweile ebenfalls verlassen hatten. Die Tür fiel hinter ihm zu, und höhnisch knarrte der rostige Schlüssel im Schloß.
Noch immer wankend, ließ sich Benedict auf eine Kiste fallen und stützte verzweifelt die Arme auf den Tisch, der mit Flaschen und Gläsern – den Überbleibseln von Nolls und Saunders' Orgie – noch ganz bedeckt war.
Welch seltsame Veränderung, welch plötzliche Umkehrung seines Geschickes! Noch vor wenigen Minuten hatte er in einem eleganten Wagen gesessen, vor sich ein Mädchen, das wie ein schöner, liebreizender Engel eigens um seinetwillen vom Himmel herabgestiegen schien. Er war umringt gewesen von Freunden, behütet von einer so ausgesucht hochgeborenen Schar, daß Mißhelligkeiten niederer Art scheinbar keinen Weg zu ihm finden konnten. Und nun fand er sich durch eine unerhörte Perfidie, durch die niederträchtigste Hinterlist, in dieses gräßliche Verlies eingeschlossen, in dem zweifellos ein Ende mit Schrecken seiner wartete.
Benedict warf einen trüben Blick auf die blutgefärbten, Laster und Verbrechen atmenden Mauern, auf denen mit weißen, eingekratzten Strichen Galgen, Mord- und Diebsgelichter, Bilder von Totschlag und wilder Ausschweifung, obszöne, rätselhafte und grauenhafte Szenen im düsteren Flammenschein des Kohlenfeuers eine schauerliche Sarabande aufzuführen schienen.
Der Anblick seiner eigenen gepflegten Kleidung brachte Benedict die Absonderlichkeit seiner Lage nur noch deutlicher zum Bewußtsein. Sein weißer, duftender Handschuh auf dem groben, fettig glänzenden und von Messerstichen rissigen Holztisch machte auf ihn den widerwärtigsten Eindruck. Nur eine ungeheuerliche und verruchte Kette von Umständen konnte einen Mann wie Benedict an einem solchen Orte festhalten.
Nachdem er sich notdürftig aus der ersten Betäubung erholt hatte, begann er über die Gründe dieser rätselhaften Verhaftung nachzusinnen. Wollte ihn Arthur Sidney wirklich einer Bande von Übeltätern – vielleicht Mördern – ausliefern? Oder handelte es sich hier nur um einen seiner schrulligen Einfälle, um eine Strafe dafür, daß er, Benedict, mit seiner Hochzeitsfeier nicht auf ihn gewartet hatte? War er der Anstifter dieser Entführung oder nur ein ohnmächtiger Zuschauer? Hatte er ihn in diesem ungleichen Kampf im Stich gelassen, um rasche Hilfe herbeizuholen? Benedict geriet von einer Vermutung in die andere, aber keine von allen schien ihm das Richtige zu treffen. Dann bedachte er in wahrhafter Verzweiflung die tödliche Angst Miß Amabels, wenn er, den sie zum Gatten erwählt, ohne jede Erklärung ausbleiben würde? Dieser Gedanke erfüllte ihn mit rasender Wut. Er verfluchte Sidney und lief in seiner Zelle auf und nieder mit der Hartnäckigkeit eines wilden Tieres, das umsonst einen Ausgang sucht.
Wiederholt rüttelte er mit aller Kraft an der Türe; aber sie blieb standhaft in ihren rostigen Angeln, und auch die heftigsten Schläge fruchteten nichts auf den dicken Holzplanken. Das in unerreichbarer Höhe angebrachte Fenster war außerdem mit verzahnten Eisenstangen so eng vergittert, daß keine Sylphe hätte zwischendurch schlüpfen können, ohne sich die Flügel zu verletzen.
In der Hoffnung, von einem Bewohner der umliegenden Häuser, deren Dächer und wunderliche Giebel Benedict durch das halbblinde Oberfenster schwach zu unterscheiden vermochte, gehört zu werden, begann er jetzt aus vollen Lungen Schreie auszustoßen; und um seinen Lauten größere Tragweite zu geben, ahmte er die Rufe der Schiffer nach, die den Sturm übertönen müssen, oder der Bergbewohner, die sich über Sturzbäche hinweg von Fels zu Fels anrufen. Aber als wäre er mit Matratzen ausgelegt, verschlang der Raum jeden lauten Ton. Ohne das geringste Echo zu wecken, schien die Stimme in seine Kehle zurückgedrängt zu werden, wie in der dünnen Luft der Berge, die das Wort nicht weiterschwingen läßt.
In der Verzweiflung steigerte sich sein Schreien zum Gebrüll, bis blutiger Schaum ihm die Mundwinkel färbte. Da schämte er sich seiner sinnlosen Raserei, und er ließ sich erschöpft auf die Bank zurückfallen.
Das niedergebrannte Kohlenfeuer gab keinen Lichtschein mehr; und nur eine kleine violette Flamme hüpfte im Erlöschen über den verglimmenden Aschenhaufen. Die sinkende Nacht machte das Fenster vollends undurchdringlich. Riesige Schattenmassen kauerten in den Zimmerecken und nahmen für das geängstigte Auge gespensterhafte Formen an.
Benedict besaß zweifellos ein tapferes Herz. Nun aber gesellte sich zu der Wut und Verzweiflung, von Amabel getrennt zu sein, eine plötzlich erwachende Sorge um die eigene Sicherheit. Das unerklärliche Abenteuer war wohl dazu angetan, auch den Mutigsten nachdenklich zu stimmen. Ohne eine Waffe, ohne irgendein Mittel zur Verteidigung, einsam gefangen in einem dumpfen Zimmer, das vielleicht schon im nächsten Augenblick den Mörder einlassen würde, überließ sich Benedict einer tiefen Mutlosigkeit. Da aber machte eine andere, noch grauenvollere Angst plötzlich sein Blut gefrieren: Wie wenn es gar keines Mörders bedurfte – wenn man ihn einfach in diesem infernalischen Raum dem langsamen Hungertode preisgeben würde! Der Gedanke, von Gott und den Menschen verlassen, vor Hunger und Durst wie ein toller Hund zu krepieren, stellte sich mit so furchtbarer Eindringlichkeit vor sein inneres Auge, daß ihm der kalte Schweiß aus allen Poren brach.
In diesem Augenblick wäre ihm der eintretende Mörder als die Gestalt des rettenden Engels erschienen; denn sie hätte ihn durch einen raschen, schmerzlosen Tod vor diesem grauenvolleren Ende bewahrt – grauenvoller noch als Ugolinos, denn dieser konnte doch wenigstens seine sieben Söhne auffressen.
Benedict begann mit fieberhaften Schritten das Zimmer nach einem Ausgang abzusuchen. Aber es fand sich nur die eine Tür, an der er schon vergeblich gerüttelt hatte. Oder vielleicht gab es einen zweiten, aber so kunstvoll verborgenen Ausgang, daß nur ein Eingeweihter ihn finden konnte? Was hätte er ihm jedoch viel genützt? Er besaß ja keinen Schlüssel zu dem geheimen und gewiß sehr kunstvollen Verschluß.
In seinem vor Verzweiflung wirren Gemüt begann er Gott und der Welt zu fluchen. Seine drohend erhobene Faust aber stieß statt an das Himmelsgewölbe gegen die rußige Decke; und da er Kybeles stiefmütterliches Antlitz nicht unmittelbar zu treffen vermochte, stampfte sein Fuß auf den Bretterboden. Ein hohler dunkler Laut ließ ihn aufhorchen: es fügte sich so, daß er gerade auf die Falltür, die wir schon kennen, getroffen hatte.
Bei diesem vielversprechenden Laut bemächtigte sich seiner eine ungeheure Freude. Die Hoffnung auf Flucht gab ihm in einem einzigen Augenblick Willenskraft und kaltes Blut zurück. Er warf sich auf den Boden nieder und tastete mit den Händen in allen Richtungen nach einem Ring oder Knopf oder nach einer geheimnisvollen Feder, der die Klappe gehorchte. Bald hatte er den Ring gefunden, und es gelang ihm mit äußerster Anstrengung, die schwere Platte zu heben.
Eine eisige Grabesluft schlug ihm entgegen, und der Schlund, in den er blickte, erschien ihm noch schwärzer als die Nacht. Wohin mochte die Öffnung führen? Befand sich darunter ein verborgener Gang? Oder war es der Schacht, in den die Leichen der Opfer versenkt wurden? Hatte er vielleicht das geheime Verlies einer »Burker-Bande« entdeckt; würde er über Knochenhügel stolpern oder an die mit Leichen bedeckten Tische eines geheimen Totenhauses stoßen? Oder war dies das furchtbare Laboratorium eines besessenen Arztes, den ein perverses Verlangen dazu antrieb, seine Seziermesser in den Nervenbündeln eines Edelmannes spazieren zu führen? Hatten die Häscher ihn zu diesem Zwecke ausgewählt und ihn gegen eine entsprechende Summe von Guineen an diesen zartfühlenden Doktor ausgeliefert? Wie aber war es zu erklären, daß Sidney, sein Jugendfreund und Herzensbruder aus dem College von Harrow, an diesem abscheulichen Komplott teilhaben konnte, ja die schändlichste Rolle darin spielte: nämlich ihn wie der zahme Ochse den Stier in die Arena zu locken und ihn dann seinen Henkern zu überlassen?
Benedicts vorgestreckte Hand griff jetzt die Treppenstufen; da er, wie jeder Tapfere, lieber dem Tode geradewegs entgegengehen, als ihn in dumpfer Tatenlosigkeit erwarten wollte, zwängte er sich durch die Öffnung der Falltüre, die er wegen ihres großen Gewichtes nicht zurückzuklappen vermochte; und indem er den Deckel mit zitternden, fast versagenden Armen über sich emporhielt, begann er langsam die Stufen hinabzusteigen. Als er tief genug zu stehen glaubte, daß ihm der herabfallende Deckel nicht die Gehirnschale zertrümmern konnte, beugte er den Kopf und zog die Hand zurück. Die schwere Türe schlug mit einem unheimlichen Donnerschlag wie der Sargdeckel über einem Toten zu. Ein schauerliches Echo hallte in den finsteren Erdgewölben nach. Trotz seines kühnen Mutes fühlte Benedict bei diesen Lauten das Mark in seinen Knochen gefrieren, und er sprach zu sich selber: »Wenn es möglich wäre, daß der Tote im Leichenhemd die Erdschollen auf seinen Sargdeckel poltern hörte, so könnten es nicht schaurigere Töne sein als diese, die mir eben erklangen. Und vielleicht habe ich mich nun selber begraben, und dieses schwarze Loch wird meine Totenkammer sein.«
Damit setzte er seinen Abstieg mit vorsichtigen Tritten und tastend vorgestreckten Händen fort. »Gott gebe, daß dieser Gang zu irgendeinem Ziele führe, und wäre es mitten in eine Räuberhöhle oder zu einem Hexensabbath«, seufzte der bedauernswerte Benedict, und fast wollte es scheinen, als dächte er mit leisem Bedauern an das eben verlassene rote Zimmer zurück. Denn die beinahe greifbare Finsternis offenbarte nicht den geringsten Lichtschein; alles war nur undurchdringliche, kalte, verzweiflungsvolle Nacht. Dem Unglücklichen war, als habe er nur eine zweite Grabkammer betreten. Der unter den furchtbaren Mauern gefangene Wind heulte mit wahrhaft menschlicher Stimme. So scheint in Sturmesnächten die Natur um unwiederbringliche Verluste zu wehklagen, mit unverständlichen Stimmen, ersticktem Seufzen, Schluchzen, wie aus brechendem Herzen; Ächzen wie das eines Opfers unter dem Knie des Mörders. Also spielte die Sturmesorgel diesem blassen, vorwärtstastenden Zuhörer eine ganze Sinfonie des Schreckens und der Trauer. Nach und nach wurden die Stufen naß und schlüpfrig, und ein feiner, vom Wind hereingewehter Staubregen traf Benedicts Gesicht. Zudem ließ sich durch das Sturmgetöse ein deutliches Wasserplätschern vernehmen; und nun netzte auch schon eine erste anbrandende Welle Benedicts Füße. Er begriff, daß der unterirdische Kanal in die Themse mündete; und da er es im Schwimmen einem Lord Byron oder Enkhead mit Leichtigkeit gleichtun konnte, so glaubte er seine Flucht so gut wie gesichert.
In der Tat schien es für den geübten Schwimmer ein leichtes Spiel, den Ausgang des unterirdischen Wasserganges zu gewinnen und von dort auf irgendeinem Wege ein Ufer zu erreichen.
Von froher Hoffnung geschwellt, sah sich Benedict schon neben Amabel sitzen, ihr seine Abenteuer schildern und die Angst abbitten, die er ihr höchst unfreiwillig zugefügt hatte. Mit jener der Gedankenwelt eigenen Geschwindigkeit jagten sich in seinem Kopfe tausend reizende Bilder während der kurzen Spanne Zeit, in der er die letzten drei Stufen hinabstieg. Er sah sich vor dem Altar stehen, er preßte Amabels zarte Finger, er betrat mit ihr die Schwelle des Brautgemaches. Ein ferneres Bild führte ihn in sein Haus nach Richmond; er stand an Amabels Seite an einer Säule der Marmorterrasse und blickte mit ihr auf ein schönes blondes Kind, das auf grünem Rasenteppich spielte. Aber die holden Träume stoben auseinander vor den jäh hereinbrechenden furchtbaren Schreckgespenstern der Verzweiflung: Benedicts ausgestreckte Hand war auf ein schweres Eisengitter gestoßen.
Nach dieser Seite also gab es keinen Ausweg, und der Rückgang war ebenfalls verrammelt; denn Arundells ganz erschöpfte Kräfte hätten die schwere Fallklappe nicht mehr zu heben vermocht.
»Was habe ich dir, o mein Gott, getan, daß du mich lebendig verderben lässest?« rief Benedict in wildem Schmerz. »Welches Verbrechen muß ich hier verbüßen? O meine Amabel, wie traurig du dir mein Los zu dieser Stunde auch ausmalen magst, an diese Wirklichkeit kann deine Phantasie nicht heranreichen.« Mit dem allerletzten Rest seiner Kräfte, wie sie selbst denjenigen noch beseelen, dessen Haupt schon auf dem Richtblock liegt, rüttelte Benedict an jedem einzelnen der dicken Eisenstäbe. Aber sie hielten unverrückbar stand, der Rost hatte sie nur um so fester vernietet.
Mit vor Kälte klappernden Zähnen und triefend in seinem hochzeitlichen Anzug schleppte sich Benedict bis zu der Treppe zurück, um auf den höheren Stufen wenigstens vor Nässe geschützt zu sein. Dort saß er, wie eine jener zusammengekauerten, dunkeln Gestalten, mit denen Dante Alighieri die Kreise der Hölle bevölkert.
Mit der stumpfen Ergebenheit eines in die Enge getriebenen Raubtieres oder gefangenen Wilden verharrte er regungslos. Wie lange wohl? Eine Ewigkeit oder eine Stunde? Die Wirklichkeit begann ihm zu entgleiten. Das Rad des Irrsinns fing in seinem Hirn zu kreisen an.
In einem ruhigen Augenblick fragte er sich, welche Stunde des Tages oder der Nacht es wohl sein mochte; und er besann sich auf die Repetieruhr in seiner Westentasche. Aber seine vor Kälte unempfindlich gewordenen Finger mochten die Feder ungeschickt oder zu heftig aufgezogen haben, sie sprang mit einem metallischen Laut in dem goldenen Gehäuse.
Die Gefangenen in den sibirischen Bergwerken läßt man wechselweise zwei Stunden arbeiten und zwei Stunden schlafen, um ihnen jedes Zeitgefühl zu rauben. Denn wenn sie auch niemals die Sonne zu Gesicht bekommen, so könnten sie doch die durch Schlaf und Arbeit in zwei Hälften eingeteilten Tagesläufe noch berechnen. Wie diesen Unseligen, so mochte es auch Benedict zumute sein.
In finsterer Nacht, die keine Zeit mehr kannte, wartete er auf den Tod. Welche Qual! Selbst Satan hatte ihn vergessen. Nichts war mehr zu hören als der dumpfe Anprall der vom Wellenschlag an die steile Böschung des Kanals geschlagenen Jolle.