Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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XVIII

Der kleine weiße Punkt, den Benedict von seinem Felsen sichtete, und der wie eine winzige Silberpalette im ausgebreiteten Mantel des Ozeans schimmerte, war in der Tat die ›Belle-Jenny‹, die sich mit bewunderungswürdiger Pünktlichkeit zur Stelle eingefunden hatte. Schon zwei, drei Tage lang lavierte sie in der Umgebung der Insel, weit genug entfernt, um kein Aufsehen zu erregen, und doch so nahe, daß sie von einem eingeweihten Beobachter mit einem guten Fernrohr von Sankt Helena aus bemerkt werden konnte.

Wohl zwanzigmal des Tages stieg Sir Arthur Sidney auf Deck und spähte nach dem schwarzen Felsen. Aber nach wie vor streckte der knorrige Baumstamm sein dürftiges Skelett zum Himmel auf.

»Er steht noch immer,« sagte Sidney leise zu sich selber, und er ließ enttäuscht das Fernrohr sinken, um es im nächsten Augenblick wieder auf die bewußte Stelle zu richten. Aber die eigensinnige Silhouette zeichnete sich unverändert am Horizonte ab.

»Ach,« seufzte Sidney, »gewiß hat sich noch keine Gelegenheit geboten, jene bewußten Worte zu sprechen, und dieser mit so viel Sorge und Vorsicht ausgearbeitete Plan muß in letzter Stunde scheitern.«

In fiebernder Ungeduld wanderte er mit großen Schritten auf dem Deck auf und ab, dann stieg er zur Oberhütte empor, um sich ein letztes Mal zu vergewissern; und siehe da: der Grat des Felsens erschien nackt und kahl vor dem hellen Himmel. Der Baum stand nicht mehr an seinem Platz.

Dieses an sich unbedeutende Geschehnis, das aber für Sidney eine Welt von Gefühlen und Gedanken in sich schloß, übte einen so erschütternden Eindruck auf ihn aus, daß er, ungeachtet seiner sonstigen Kaltblütigkeit und Seelenstärke, sich an die Schiffsbrüstung lehnen mußte. Tödliche Blässe bedeckte sein schönes Gesicht. Bald aber hatte er sich gefaßt, und er stieg mit festen Schritten zu seiner Kabine hinunter. Dort schrieb er auf dickes Pergament eine Art von Testament nieder und steckte es in eine starke Glasflasche, die er mit einem Bleisiegel verschloß und in dem Boot verbarg, das er an der Küste von Afrika durch einen Schiffszimmermann nach dem kleinen uns schon bekannten Modell hatte anfertigen lassen.

Als die Nacht hereinbrach, wurde das Boot flottgemacht. Saunders und Jack ergriffen je ein Ruder; Sidney nahm den Sitz am Steuer ein, und das Fahrzeug setzte sich in der Richtung der Insel in Bewegung.

Als sie so nahegekommen waren, daß Gefahr bestand, von den Schiffswächtern entdeckt zu werden, begaben sie sich alle drei in einen kleinen Raum unter dem Deck; denn das Boot besaß merkwürdigerweise auch ein Deck.

Nachdem die Luke sorgfältig verschlossen worden war, drückte Sidney auf einen Knopf, worauf das Boot zu sinken begann und so lange fiel, bis das Wasser sich mit einem Wirbel wieder über ihm geschlossen hatte. An Stelle der Ruder bewegten flossenartige Schaufeln das submarine Fahrzeug. Durch Fensterscheiben, die am Bug eingelassen waren, konnte der Bootführer sich über die Richtung vergewissern. Durch einen Schlauch aus Leder, der in eine schwimmende Boje mündete, die einem Treibholz zum Verwechseln glich, wurde der engen Kabine frische Luft zugeführt. Ein Behälter, der mittels einer Pumpe, je nach Bedarf, gefüllt oder geleert werden konnte, stellte sozusagen die Fischblase dar und ermöglichte ein graduelles Steigen oder Sinken des Bootes. Als sie in den Schatten der hohen Inselklippen gelangten, was sich an einem starken Verdunkeln des Wassers feststellen ließ, stiegen unsere Freunde wieder an die Oberfläche. Das nur wenig über die Wellen ragende Boot konnte leicht für einen sich im Wasser tummelnden jungen Walfisch oder Delphin gehalten werden.

So näherten sie sich dem Felsen, an dessen Fuß die Wellen mit dem Stamm des von Benedict gefällten Baumes spielten. Bald warfen sie ihn weit ins Meer hinaus, bald schleuderten sie ihn mit schäumendem Mutwillen gegen den Strand zurück.

Vorsichtig nach allen Seiten spähend stieg Sidney aus der engen Luke heraus und erreichte mit einem Sprung eine kleine Sandbank. Dann kletterte er an dem Felsen empor, indem er sich der Unebenheiten des Gesteins als Stufen bediente. So erreichte er eine kleine Felsplatte, die um einige Klafter über den höchsten Wellenschlag hinausragte. Dort ließ er sich nieder und lauschte gespannt auf das geringste Geräusch.

Eine Zeitlang hörte er nichts als die seufzende Klage des Ozeans und das ängstliche Flügelschlagen der Meervögel, die der nächtliche Besuch eines menschlichen Wesens in dieser unwirtlichen Einsamkeit erschreckte.

Aber plötzlich rollten ein paar Kiesel, die sich von einem höheren Standort gelöst haben mochten, zu ihm hinunter. Sie wurden durch den Anprall auf den Felsen noch einmal hochgeworfen und fielen dann ins Meer.

Gleich darauf zeigte sich eine dunkle Gestalt, die, sich an Gestrüpp und Felsvorsprünge klammernd, vorsichtig an der fast senkrechten Wand sich herunterließ.

Obwohl nun dieses Zusammentreffen schon seit langem vorbereitet war, zog Sidney doch zwei kleine Pistolen aus der Tasche, um im Falle einer jener unbegreiflichen Verrätereien, die bei solchen Unternehmungen keine Seltenheit sind, gerüstet zu sein. Das trockene Knacken des Drückers ließ die dunkle Gestalt in ihrem Abstieg innehalten:

»Der Krebs geht rückwärts; aber er kommt ans Ziel«, sagte eine gedämpfte, aber deutliche Stimme.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Bist du es, Benedict?« gab Sidney im selben Ton zurück.

»Ich bin's«, antwortete Benedict, indem er sich neben Arthur Sidney herunterließ.

»Wie steht es?« forschte Sidney, und in seiner Stimme zitterten tausend Fragen.

»Er hat beim Anblick des Veilchensträußchens die bewußten Worte gesprochen.«

»Gut, so ist es an uns, zu handeln!«

»Das ist noch nicht alles: Am Abend desselben Tages wurde von unbekannter Hand ein chiffriertes Billett, dessen Schlüssel nur ihm, dir und mir bekannt ist, in Ediths Zimmer geworfen. Das Billett hatte folgenden Inhalt: »Cäsar fühlt sich zu krank, um das Wagnis jetzt zu unternehmen; er verschiebt es in die ersten Tage des kommenden Monats, auf die Nacht vom vierten auf den fünften.«

»Noch zwanzig Tage Geduld!« seufzte Arthur Sidney. »Aber weiß er denn nicht, daß diese Luft tödliches Gift ist; daß Prometheus hier keines Adlers bedurft hätte, der ihm die Leber zerfleischt! Bist du der Echtheit dieses Briefes auch gewiß? Du weißt, wir sind von ungezählten Fallen umstellt.«

»Ich habe den Brief bei mir«, sagte Benedict und reichte seinem Freund ein vierfach gefaltetes Papier.

»Leb wohl, Benedict! In zwanzig Tagen also wirst du mich wiederfinden. Ich werde mit der ›Belle-Jenny‹ in der Nähe bleiben. In zwanzig Tagen wird England von dem Makel, der sich Hudson Lowe nennt, befreit sein.«

Benedict kletterte wieder zu dem Felsengrat empor, Sidney an den Strand hinunter, wo das halbversenkte Boot seiner harrte. Um den Felsen, der nun wieder einsam dalag, spielte das Meer noch immer mit den Resten des Baumstammes, die es in seine kleinsten Teile auflöste.

*

Am vorbestimmten Tage tauchte die ›Belle-Jenny‹ richtig am Horizonte auf. Der Himmel hing schwarz und drohend herab. Riesenhafte, düstere Wolken entfalteten sich wie Trauerfahnen.

Der in seinen Tiefen aufgewühlte Ozean bäumte sich unter wildem Schluchzen; im Sturmgetön hallte es wie die verzweifelte Klage eines armen, unsichtbaren Herzens. Es war, als hätten sich die dreitausend Okeaniden zusammengefunden, um Prometheus zu beweinen.

Noch düsterer als sonst erhob sich Sankt Helena, wie ein großer Katafalk, und gleich dem Qualm, der von Trauerfackeln aufsteigt, dampfte der schäumende Gischt der Meeresbrandung um die finstere Felsenküste. Das Gewitter schmiedete mit seinen Blitzen ein schauerliches Diadem um ihre Stirne.

Auch bei der Ermordung Julius Cäsars und der Kreuzigung Jesu Christi hat der Himmel in Zeichen gesprochen. Über dieser verfluchten Insel aber war ein blutiger Komet erschienen. Die in den Abendröten der sinkenden Sonne glühenden Wolken glichen riesigen, von einem ungeheuren Brand erfaßten Adlern, mit schlagenden Flügeln. Nie zuvor war die sonst fühllose Natur so außer sich, so bebend in tödlicher Erregung gewesen.

Das Meer schleuderte seine salzigen Tränen himmelwärts; der Himmel antwortete mit einer Sintflut, und der Sturm vereinigte in seiner mächtigen Stimme die Wehrufe der ganzen Menschheit.

Trotz seiner Unerschrockenheit fühlte sich Sidney vor diesem unerhörten Trauergesang der Elemente von Angst und Mutlosigkeit erfaßt. Was konnte die Natur in solchen Aufruhr versetzen? Wer war die große Seele, die scheidend den Sinn der Welt mit sich fortnahm? Welches war der Gott, der im wildesten Schmerzenskrampf am Kreuz sein »Eli, Eli, Lama Asabthani« ächzte und um den sich von Himmel und Erde so mächtige Klage erhob? Sidney zitterte vor einer Antwort; und als er sein Boot bestieg, war sein Gesicht weißer als Marmor. Kalter Schweiß perlte auf seinen Schläfen; seine Zähne schlugen aufeinander – und doch war es kein Gedanke an körperliche Gefahr, der ihn erschütterte. Das hermetisch verschlossene Boot sank in den Wogenschlund und wurde aufs neue emporgeschnellt. Also sinkend und schwimmend näherte es sich dem Felsen, auf dem die letzte Zusammenkunft der beiden Freunde stattgefunden hatte. Ein offenes Schiff wäre auf dieser Fahrt unfehlbar von den Wellen verschlungen worden.

Die große Schwierigkeit bestand darin, den Riffen auszuweichen und genau an der kleinen Sandbucht zu landen. Sidney machte mit seinen beiden Gefährten die verzweifeltsten Anstrengungen. Trotz des Luftrohres wurde ihnen der Atem kurz, und der Mangel an dem lebenerhaltenden Element krampfte ihre Lungen in der Brust zusammen. Die Lampe verblaßte und flackerte nur noch schwach. Jack und Saunders drehten mit ermattenden Händen die Kurbeln der Ruderschaufeln, und Sidney pumpte aus Leibeskräften, um das Boot an die Oberfläche zu treiben. Die Brandung schlug mit fürchterlichem Getöse gegen den Felsengürtel der Küste und lastete schwer auf der Oberwand des kleinen Bootes, das sie wie einen Ball hin und her warf.

»Wir sind verloren,« sagte Sidney zu sich selber und warf beim letzten Flackern der Lampe einen Blick auf seine beiden Gefährten. Auf ihren männlichen Gesichtern las er seinen eigenen Gedanken.

»Mylord«, sagte Jack, »es ist wahrhaftig kein Vergnügen, wie eine Ratte in der Falle zu ersaufen: aber wenn das Bier fertig gebraut ist, so muß es getrunken werden.« Saunders bestätigte mit einer Kopfbewegung die Richtigkeit dieses tiefsinnigen Ausspruches.

Eine ohnmächtige Wut hatte sich Sidneys bemächtigt. Um eines sinnlosen Sturmes willen sollten sie elendiglich zugrunde gehen in dem Augenblick, wo die Erfüllung dieses mit dem Opfer seines ganzen Lebens erkauften Planes unmittelbar bevorstand? Seine Vernunft empörte sich gegen die brutale Gewalt der blinden Elemente, und aus seiner Seele stieg ein blasphemischer Fluch, der die Riesen im Donnergetöse vor Wut aufbrüllen machte.

Die Lampe erlosch. Jack und Saunders sagten: »Gute Nacht – die Kerze wird ausgeblasen.«

In diesem Augenblick fuhr das Boot mit mächtigem Ruck an der Sandbank auf. Sidney stürzte sogleich an die Luke und ließ mit einer kräftigen Portion Luft auch einen tüchtigen Wasserstrahl eindringen. Das Boot hatte sich mit dem Kiel in den Sand eingebohrt, und da das Meer in der kleinen Bucht ruhiger als draußen war, gelang es Sidney, ans Land zu springen. Er knüpfte das Boot mit einem Seil an einen Granitblock fest, der durch einen Erdrutsch hierher geschleudert sein mochte. Jack und Saunders waren gleich Sidney ans Land gesprungen, und die drei begannen nun zu der bewußten Felsplatte emporzuklettern. Hier bestand keine Gefahr mehr, von der Flut mit fortgerissen zu werden. Das Unwetter konnte ihnen nur noch in ohnmächtiger Wut seinen Schaum ins Gesicht schleudern.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Zwei Stunden warteten sie vom Regen durchweicht, geblendet von den Blitzen, bespien vom salzigen Geifer der empörten Flut. Jack und Saunders mit dem unentwegten Gleichmut eines treuen Hundes, der des Befehles seines Herrn harrt, Sidney in fiebernder Ungeduld. Ihm wurde jede Minute zur Ewigkeit. Er zerbiß sich die Lippen und krallte sich die Nägel in die Brust, um seine Unrast zu meistern.

Die Nacht rückte vor, der Sturm gab langsam nach; das müde Meer ließ seine Tränen versiegen.

»Wo bleiben sie nur?« murmelte Sidney. »Bald ist es Tag.«

Und wirklich erschien Aurora am Horizont in einem hellen Streifen, und aus den getürmten und von der nächtlichen Wut immer noch bebenden Wassern tauchte die blutige, von der gewölbten Kurve des Horizontes überschnittene Sonnenscheibe empor.

In der Ferne schaukelte die ›Belle-Jenny‹. Es tagte – aber der Kaiser war nicht gekommen.


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