Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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XX

Das Pferd, das Volmerange in vollem Lauf erhaschen konnte, war, wie wir schon sagten, von edelster Art und leichtfüßig wie der Wind. In wenigen Minuten hatte es seinen Reiter aus dem Kampfgewühl oder besser gesagt aus der Schlächterei entführt; denn in der Tat handelte es sich hier nur noch um ein wüstes Gemetzel von Menschen, Pferden und Elefanten. Die Niederlage war vollkommen.

Eine Zeitlang noch vernahm Volmerange das Gebrüll der Elefanten. Von dem mächtigen Flammenschein, den der Waldbrand verbreitete, zeichnete sich auf seinem Wege der Schatten seines Pferdes ab, der wie ein Riesengespenst vor ihm herjagte. Das Pferd selber scheute vor der unförmlichen Erscheinung; es jagte ihr in zitternder Wut nach und duckte den Kopf, um sie mit den Zähnen zu packen. Nach und nach blieben die anderen Flüchtlinge, die zuerst an seiner Seite galoppierten, zurück; von den Elefanten war nichts mehr zu vernehmen, und die Nacht tauchte wieder ganz in ihr undurchdringliches Blau zurück. Volmerange jagte noch immer mit verhängtem Zügel den Ufern des Godaweri entlang. Sein Tier vermied mit sicherem Instinkt Sumpflöcher und umgestürzte Baumstämme und wählte, ohne seinen Lauf im geringsten zu hemmen, das feste Erdreich.

Als Volmerange an die sechs bis sieben Meilen von der Kampfstätte entfernt sein mochte, verlangsamte er seinen Ritt, und, einem Lichtschein folgend, der am Rande des Flusses aufgetaucht war, gelangte er zur Hütte eines Fischers, der seine Netze flickte. Er half dem Ankömmling vom Pferde und warf sich dann grüßend vor ihm auf die Erde.

Eine mit Sabtaparna überzogene Bank stand an die Hütte gelehnt. Der Graf ließ sich erschöpft darauf nieder und fragte in hindostanischer Sprache, ob man ihm zu einfachen Kleidern und einem Boot verhelfen könne; denn er gedenke, flußabwärts zu fahren.

»Ich will Euch gerne dienen, Herr,« antwortete der Fischer, der die Rangstufe seines Gastes an dessen Rüstung erkannt hatte. »Aber vielleicht werden Eure Herrlichkeit die geringen Kleider eines armen Hindu aus der letzten Kaste, eines elenden Sudra, der nicht würdig ist, mit seiner Stirn den Staub aus Eurem Wege zu wischen, verschmähen.«

»Je geringer die Kleidung, um so willkommener,« sagte Volmerange, indem er die Hütte betrat. Mit Hilfe des Mannes vertauschte er die kriegerische Gewandung mit einem schlichten Kittel, in dem niemand den glänzenden Anführer des Aufstandes gesucht hätte. Um das Maß der Vorsicht voll zu machen, rieb ihm der Sudra Gesicht und Hände mit Koloquinta-Saft ein; denn die helle Hautfarbe konnte ihn noch am ehesten verraten.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Nach diesen Vorbereitungen löste der Fischer sein Boot. Das Pferd, das sich dem Wasser genähert hatte, merkte, daß man seiner nicht mehr bedurfte, es witterte schnaubend in der Richtung eines fernen Hügels hin, wo sich sein Weideplatz befinden mochte, und stob davon. Volmerange nun Tag für Tag auf seiner Reise flußabwärts zu begleiten, würde uns zuviel Zeit kosten. Wir begnügen uns damit, den Leser zu versichern, daß unser Freund glücklich die Küste erreichte. Nachdem er den Fischer mit einem der Edelsteine aus seinem Säbelknauf reichlich entlohnt hatte, bestieg er ein auf der Fahrt nach dem Golf von Bengalen befindliches französisches Schiff, das in der Mündung des Flusses haltgemacht hatte, um Trinkwasser aufzunehmen.

Da er allein reiste – das heißt: nur von der Erinnerung an zwei tote Frauen begleitet – Edith, die er eigenhändig ertränkt hatte, und Prijamwada, die an seiner Seite von einer Kugel hingerafft worden war –, brauchte er bei weitem nicht so viel Zeit für seine Heimreise nach Europa wie Edith und Sir Benedict Arundell.

Eine geheime Gewalt zog ihn jedoch wider Willen nach London, das ihn aus begreiflichen Gründen eher abstoßen mußte. Vielleicht gehorchte er jener magnetischen Anziehungskraft, die sowohl Mensch wie Tier nach jedem heftigen Schicksalsschlag an den Ausgangspunkt ihrer Erlebnisse zurücktreibt. So kehrt auch der Stier in der Arena bis zu seinem Verenden immer wieder an die Querencia zurück.

Prijamwadas unseliges Ende hatte den Grafen tief erschüttert, obwohl er sich im Wirbel der Geschehnisse dem Schmerz nicht so völlig hingeben konnte, wie es das tapfere, schöne Mädchen verdient hätte. Er fühlte sich wie von der Hand des Mißgeschicks gezeichnet und war fest entschlossen, von jetzt an einsam zu bleiben, aus Furcht, den Menschen, die er künftig lieben würde, Unglück zu bringen.

Nach London zurückgekehrt, führte er also ein ganz verborgenes Dasein. Er ging nur des Abends aus und suchte einsame Orte auf. Nicht daß er Grund gehabt hätte, seine Anwesenheit zu verheimlichen. Denn vor seiner Abreise nach Indien hatte er Ediths schuldbeladene Briefe an Lord und Lady Harley geschickt mit den einzigen von seiner Hand am Rand vermerkten Worten: »Die Gerechtigkeit hat ihren Lauf genommen.« Die Familie der unglücklichen jungen Frau hatte daraufhin das Gerücht verbreitet, daß Edith auf ihrer Hochzeitsreise in Neapel einem hitzigen Fieber, das sie sich in den Pontinischen Sümpfen geholt hatte, plötzlich erlegen sei. Diese Geschichte klang nach Wahrheit, und da die Gesellschaft sich um die nicht weiter kümmert, die sie nicht sieht, so hatte sie sich mit dieser Erklärung zufrieden gegeben, die durch den offenkundigen Schmerz Lord und Lady Harleys ihre Bestätigung zu erhalten schien.

*

Eines Abends erging sich der Graf de Volmerange in einem menschenleeren Teil des Hyde-Park.

Gleichzeitig promenierte auch eine junge Dame, deren reiche und elegante Kleidung sie als Aristokratin der höchsten Kreise erkennen ließ, von ihrem Diener in gemessener Entfernung gefolgt, leichten Schrittes am Rand eines Teiches an einer einsamen Stelle des Hyde-Parkes, die höchstens von Liebespaaren, Poeten, Melancholikern und manchmal auch von – Dieben besucht wird. Da sprang ein Mann von üblem Aussehen unversehens hinter einem Gebüsch hervor, auf die Dame zu, erfaßte ihren Schal, der mit einer kostbaren Nadel zusammengehalten wurde, und versuchte das wertvolle Tuch von ihren Schultern zu reißen. Aber schon eilte der Diener herbei und streckte mit einem nach allen Regeln der Kunst ausgeführten Boxschlag den Angreifer nieder, der fünf Schritte weiter mit blutender Nase und geschundenen Lippen zu Boden stürzte. Da er aber noch immer einen Zipfel des Tuches mit der Hand umkrampft hielt, schnürte er den Hals der Dame dermaßen zusammen, daß diese kaum ein paar erstickte Klagelaute aus der Kehle stoßen konnte.

In diesem Augenblick führte der Zufall Volmerange bei einer Biegung des Weges unmittelbar vor die kämpfende Gruppe, und sich sofort in das Abenteuer stürzend, versetzte er dem Räuber mit seinem Stocke einen Streich, scharf wie ein Säbelhieb, mitten ins Gesicht, so daß der Geschlagene, trotz triftiger Gründe, sich schweigend zu verhalten, mit lautem Schmerzgeheul das Weite suchte.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Die junge Dame vermochte sich von dem ausgestandenen Schrecken, an allen Gliedern zitternd, noch kaum auf den Füßen zu halten, und Volmerange mußte von einer Verfolgung des Missetäters absehen und ihr seinen Arm leihen. Als sie sich etwas erholt hatte, wollte er sich mit einer ehrerbietigen Verneigung entfernen, aber das junge Mädchen streckte flehend die Hände aus und sagte mit schüchterner, beschwörender Miene: »O mein Herr, seien Sie mein Ritter bis zum Schluß und führen Sie mich zu meinem Wagen zurück. Mein armer Diener Daniel ist übel zugerichtet, und ich fürchte, daß der Strolch, wenn er mich so schutzlos sieht, seinen Überfall wiederholen könnte.«

Auf eine solche Bitte gibt es nur eine Antwort; obgleich Volmerange einen heiligen Eid geschworen hatte, künftighin jedem weiblichen Wesen aus dem Wege zu gehen, so konnte er jetzt nicht umhin, der Bedrängten mit einer für einen Misanthropen – der die Gepflogenheiten selbst eines Timon von Athen zu überbieten gewillt ist – sehr galanten Liebenswürdigkeit den Arm anzubieten, um den man ihn mit einer durch die Aufregung der Angst beinahe zärtlichen Eindringlichkeit gebeten hatte.

Da der Wagen der jungen Dame am entgegengesetzten Ende des Parkes wartete, so war den beiden Menschen, die ein Zufall so plötzlich zusammengeführt hatte, Gelegenheit zu näherer Bekanntschaft geboten. Der Mann, der mit einer vor Erregung zitternden Frau, die sich schwer auf den sie stützenden Arm lehnt, weil ihre Füße noch schwanken, zweihundert Schritte getan hat, weiß, daß sie fortan für ihn keine Fremde mehr sein kann.

So kam es, daß Volmerange, dem die Schönheit der Unbekannten nicht entgangen war, und der an den wenigen Worten, die zwischen ihnen gewechselt worden waren, erkannt hatte, wes Geistes Kind sie war, unwillkürlich seine Schritte verlangsamte, als er an einem der Parktore die prächtig lackierte, mit prunkvollen Wappen gezierte Kutsche erblickte, bei der er sich von seiner Dame trennen sollte.

Als die Schöne in dem mit Seide ausgeschlagenen Wagen Platz genommen hatte, wehrte sie dem Lakaien, der die Gardinen zusammenziehen wollte, und sagte, zu Volmerange gewandt:

»Mein Befreier wird mir die Gunst nicht versagen, seinen Namen zu nennen. Ich selber bin Miß Amabel Vivian.«

»Und ich bin der Graf von Volmerange«, sagte unser Freund mit einer tiefen Verneigung.

Miß Amabel Vivian – denn sie war es – hatte nach der damaligen Mode die Gewohnheit aller jungen Engländerinnen, sich täglich im Hyde-Park zu ergehen, und obgleich das jüngste Erlebnis ganz dazu angetan war, ihr diese fußgängerischen Übungen gründlich zu verleiden, fand sie sich schon am folgenden Tage zur selben Stunde wieder ein. Vielleicht sagte ihr eine innere Ahnung, daß sie im Falle der Gefahr eines sicheren Schutzes nicht ermangeln würde – kurz, sie schlug den Weg des vorhergegangenen Tages wieder ein und erging sich, wie gewohnt, am Serpentine-River. Ohne sich dessen klar zu werden, ließ sie sich von dem Wunsche leiten, Volmeranges tapfere Hilfe zu belohnen; und diese Belohnung sollte in einem unverhofften Wiedersehn bestehen.

Es ist anzunehmen, daß sich Volmerange trotz des sie begleitenden Dieners um Miß Amabels Sicherheit Sorgen machte, denn auch er lenkte tags darauf zur selben Stunde seine Schritte in jene einsame Partie des Parkes.

Keines von beiden staunte über die Begegnung, und sie plauderten vielleicht sogar etwas länger als es der strikte Anstand erlaubte. Um sie vor jedem Überfall gesichert zu wissen, geleitete Volmerange Miß Amabel auch diesmal an ihren Wagen zurück.

Es währte nicht lange, so wurde der Graf in aller Form Lady Elinor Braybrooke vorgestellt, die mit Entzücken seine häufigen und ausgedehnten Besuche feststellte. Denn die aufs Positive gerichtete Dame war der Ansicht, daß Miß Amabel die Treue zu dieser nur eingebildeten Witwenschaft über das Maß aller Vernunft hinaus betrieb.

Was uns jetzt zu sagen obliegt, muß notgedrungen die poetischen Gepflogenheiten des Romanes verletzen, der nur eine einzige und ewige Liebe wahrhaben will. Aber dieses ist kein Roman. Miß Amabel, die den Geliebten durch Tod oder anderes Mißgeschick verloren hatte und der innersten Überzeugung lebte, nie wieder einen Mann lieben zu können, fühlte mit Verwunderung ihr Herz, das sie unter der Asche ihres ersten Verlustes längst verschüttet glaubte, aufs neue schlagen; wenn der Name des Grafen Volmerange vom Diener gemeldet wurde, so zauberte er jedesmal auf die kamelienblassen Wangen Amabels eine zarte Röte.

Wenn sie des Abends nach mehrstündigem angenehmen Geplauder mit Volmerange den Kopf in die mit englischen Spitzen besetzten Kissen vergrub und die kleinen Koketterien des vergangenen Tages jener Prüfung unterzog, die jede hübsche Dame vor dem Einschlafen vornimmt, so fand sie, daß ihre Augen zu willig die brennenden Blicke geduldet, ihre Lippen zu eifrig an den Gesprächen über die Metaphysik der Liebe teilgenommen, ihre Hand zu lange dem Druck der anderen stillgehalten hatte. Und wenn sie endlich eingeschlafen war, so führte ihr ein Traum statt Benedicts das Bildnis Volmeranges vor das innere Auge.

Die beiden Brautpaare aus der St.-Margarethen-Kirche hatten sich durch ein seelisches und leibliches Chassé-croisé vertauscht; und aus einem seltsamen Symmetriebedürfnis des Schicksals fügte es sich, daß Benedicts Liebe von Edith erwidert wurde und Volmerange bei Miß Amabel Vivian Erhörung fand. Der Zufall schien ein besonderes Vergnügen darin zu finden, sich über den menschlichen Willen hinwegzusetzen; die geplanten Verbindungen waren vereitelt und alle Liebesschwüre gebrochen worden. Die Charaktere, die sich aufs innigste zu ergänzen schienen, hatten sich an ihrem Gegenstück entflammt. Den ruhigsten, reiflichst erwogenen Plänen hatte eine unbekannte Macht ein phantastisches, unbegreifliches und ungereimtes Szenarium entgegengestellt. Das Gesetz von der Einheit des Ortes und der Handlung war von jenem größten aller Dichter, der die menschlichen Dramen ersinnt, verletzt worden: jenem Dichter, den wir das Schicksal nennen.

Lady Braybrooke, deren innigster Wunsch es war, ihre Nichte recht bald zu verheiraten, um das, was sie als den »Affront« Benedicts bezeichnete, sozusagen auszulöschen, erging sich in Lobreden über Volmerange, die sie mit giftigen Ausfällen gegen den ersten Bräutigam würzte. Noch war das entscheidende Wort zwischen dem jungen Paar nicht gefallen; aber schon hatten die beiden Herzen sich gefunden. Volmerange ward mit allen Ämtern eines Liebhabers betraut. Lady Elinor Braybrooke hatte seinen Arm gepachtet, und wenn Tante und Nichte das Theater besuchten, so war sein ständiger Platz in der Loge hinter Miß Amabels Stuhl, und es muß gesagt werden, daß es den schönsten Dekorationen und den pathetischsten Szenen kaum gelang, seinen Blick von Amabels schlanker Halslinie und ihren weißen Schultern abzulenken. Und obgleich er nun ein häufiger Besucher des Schauspiels geworden war, wußte niemand weniger über den Spielplan Bescheid als er. Lady Braybrooke konnte sich nicht genug darüber wundern, daß ein so kluger junger Mann wie Volmerange so wenig von der Handlung auf der Bühne, die er doch mit so großem Interesse zu verfolgen schien, verstanden hatte.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Von Zeit zu Zeit wurde Amabel von der geheimen Angst befallen, Benedict könnte unversehens wieder auftauchen und sie der Treulosigkeit beschuldigen. Denn es gibt wohl kaum eine Frau, die ein Vergehen solcher Art verzeihen würde, für das sie selber tausend der einleuchtendsten Gründe vorzubringen hätte.

Aber Monate vergingen, und nach wie vor blieb Benedicts rätselhaftes Verschwinden in tiefstes Dunkel gehüllt. So begann sie sich allmählich vor seiner nachträglichen Auferstehung sicher zu fühlen und überließ sich immer hemmungsloser ihrer Liebe zu Volmerange. Dieser hatte Edith und sogar Prijamwada vollständig vergessen. Das Erlebnis mit der jungen Inderin verschwamm in seiner Erinnerung gleich einem Opiumtraum. Ihre goldene Haut, die untermalten Augen, ihre Ketten und Ringe, die fremdartigen Wohlgerüche, die ihr entströmten, der Elefantenritt, die Zusammenkunft in der Pagode, die Schlacht in dem lianenverhängten Urwald – alles dieses waren Bilder, die nicht der Alltagswirklichkeit anzugehören schienen. Wäre Prijamwada am Leben geblieben, so hätte sie trotz ihrer großen Schönheit Volmerange manche Verlegenheit bereitet. Denn wie würde man zum Beispiel auf einem Ballfest bei Almak über eine Frau geurteilt haben, die einen Ring in der Nase trug und auf der Stirne mit Garotschana-Farbe tätowiert war? Und doch erfüllte Wehmut des Grafen Herz, wenn er an den exotischen Reiz und die grenzenlose Liebe und Opferfreudigkeit des armen Mädchens dachte. Ihre besonderen, wenn auch etwas chokierenden Eigenschaften waren doch wohl eines melancholischen Seufzers wert.

*

Im Verlauf dieser wechselweisen Veränderung hatten sich Miß Edith und Sir Benedict Arundell, die wir am Hafen von Calais verlassen haben, eingeschifft und waren in London eingetroffen. Sie bezogen jedes für sich ein Haus an einem zurückgezogenen Square; denn die Fiktion der Smithschen Ehe ließ sich nicht länger aufrechterhalten. In Wahrheit war ja Edith Harley die Gräfin Volmerange, und Sir Benedict Arundell, wenn auch noch nicht der Gatte, so doch der Bräutigam Miß Amabel Vivians. Und hatten sie beide nicht Sankt Helena mit der ehrlichen Absicht verlassen, in den Schoß ihrer legitimen Verpflichtungen zurückzukehren?

*

Volmerange hatte von Amabel in einem Billett die Aufforderung erhalten, sie mit ihrer Tante zu einem Konzert bei der Prinzessin *** zu begleiten. Er befand sich schon im Abendanzug und war bereit, das Haus zu verlassen, als sein Kammerdiener den Besuch einer verschleierten Dame meldete, die Seine Lordschaft zu sprechen wünsche.

»Eine verschleierte Dame? Welch eigentümlicher Besuch zu vorgerückter Stunde! Ist es doch schon eine Weile her, seitdem ich Habitué hinter den Kulissen von Drury-Lane war. Außerdem ist die Opernsaison vorbei. Wer zum Teufel mag das sein? Eine Mutter mit Grundsätzen, die mir ihre Tochter als Gesellschaftsdame antragen möchte?«

»Mylord, welchen Bescheid darf ich der Dame bringen?« unterbrach der Kammerdiener Volmeranges Gedankengänge.

»Sag' ihr, sie möge Namen und Anliegen auf ihre Karte schreiben.«

»Ich hatte bereits den Vorzug, der Dame diesen Vorschlag zu unterbreiten, aber sie hat mich versichert, daß sie sich nur Seiner Lordschaft persönlich entdecken könne.«

»Ist sie jung oder alt, schön oder häßlich?« forschte der Graf vorsichtig.

»Mylord, soweit man bei einer verschleierten Dame auf Schönheit schließen kann, glaube ich schon, daß sie schön ist, und nach der Leichtigkeit ihres Ganges zu schließen, ist sie auch jung.«

Der Graf warf einen Blick auf die Pendeluhr, überzeugte sich, daß er vor seiner Verabredung mit Miß Amabel noch über eine halbe Stunde frei verfügen konnte, und gab Befehl, die geheimnisvolle Dame hereinzuführen.

Dieser nächtliche Besuch, die Verweigerung des Namens und das sorgsam verschleierte Gesicht hatten einen romantischen Anstrich und blieben daher nicht ohne Eindruck auf Volmeranges lebhafte Phantasie. Dennoch fühlte er sich gegen seinen Willen von einem unbestimmten Bangen und heimlichen Schaudern ergriffen. Zufällig traf er im Spiegel auf sein Bild und bemerkte, daß er blaß geworden war.

Das Zimmer, in dem der Graf sich aufhielt, war ein weiter, mit strenger Vornehmheit ausgestatteter Raum. Eine einzige Lampe, die nur eben ihren begrenzten Lichtkreis erhellte, ließ den Rest des Zimmers im Schatten. Es regnete, und die an die Scheiben prasselnden Tropfen gemahnten an eine gewisse stürmische Nacht . . . Eine peinliche Spannung, die mit der Leichtigkeit des Gesprächs, das er mit dem Diener geführt hatte, in starkem Widerspruch stand, bemächtigte sich des Grafen. Und als sich jetzt die Tür vor der Unbekannten öffnete, ließ ihn das unbedeutende Geräusch nervös zusammenfahren.

Der Eingang des Zimmers lag im Schatten, und Volmerange vermochte die Gestalt der Dame nicht gleich deutlich zu unterscheiden. Mit weltmännischer Höflichkeit trat er ihr ein paar Schritte entgegen und führte sie in den Bereich der Lampe. Der Diener hatte recht gesehen: Es war nicht Häßlichkeit, was der Schleier zudecken sollte, viel eher Scham – oder vielleicht ein Geheimnis. Die Schönheit schimmerte undeutlich darunter hervor wie der Flammenschein durch ein Metallgitter. Man sah sie nicht, aber man fühlte sie.

Die Dame trug ein langes, weißes, in vielen kleinen Falten drapiertes Kleid, wie man es von den weiblichen Statuen des Phidias kennt. Darüber legte sich anmutig mit einem leisen Trauerschatten das schwarze Gewebe einer Spitzenmantille . . .

»Madame,« sagte Volmerange, »wollen Sie nicht Ihren Schleier lüften? Da Sie mir schon Ihr Vertrauen durch Ihren Besuch zu so später Stunde beweisen, dürfte auch diese letzte Vorsicht überflüssig sein. Ihr Geheimnis ruht in besten Händen. Und wenn Sie mir auch Ihren Namen vorenthalten müssen, so gönnen Sie mir wenigstens den Anblick Ihrer Züge!«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Sie wollen es also!« entgegnete die Unbekannte mit sanftem, aber festem Tonfall.

Der bekannte Klang dieser Stimme ließ den Grafen erbeben.

Mit einer weißen, zierlichen Hand, deren Anblick tausend Erinnerungen in Volmeranges Gedächtnis hervorrief, schickte sich die Dame nunmehr an, die schwarzen Falten ihres Schleiers zu heben. Da zeigte sich zuerst ein zierliches, wohlgebildetes Kinn mit einem kleinen Mal, das Volmerange tief erschreckte; dann ein lebhaft roter Mund, der seinen Schrecken noch steigerte; eine griechische Nase erschien, und zuletzt die entzückendsten braunen Augen, bei deren Anblick Volmerange zu Stein erstarrte.

Den gelüfteten Schleier in der schönen marmorweißen Hand haltend, in der Stellung einer antiken Statue, bot sich die Unbekannte den entsetzten Blicken Volmeranges dar, der zitternd wie Espenlaub drei Schritte zurückgewichen war.

»O mein Gott,« röchelte er mit sterbender Stimme. »Wer in des Himmels Namen sind Sie?«

»Ich bin Lady Edith, Gräfin von Volmerange.«

»Nein, das lügst du! Ein Gespenst bist du! Sind deine Kleider nicht feucht? Bist du nicht eben der Themse entstiegen? . . . Geh, geh – laß mich in Ruhe! Ich habe dich ertränkt, du weißt es wohl; und ich hatte ein gutes Recht dazu! O mein Gott, welch gräßliches Erlebnis! Und Dolfos – wird auch er wiederkehren, das wäre spaßig«, so rief der Graf mit irrsinnigem Lachen.

Er hatte den Verstand verloren.


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