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Es war frühmorgens fünf Uhr, als ich im Schritt in die Stadt einritt. Die Eisen klapperten laut auf dem holprigen Pflaster. Hinter den Scheiben spähten neugierige Gesichter nachtmütziger Spießbürger. Man machte sich Gedanken, wer wohl der unsolide Reitersmann sei, der in so leichter Kleidung zu so früher Stunde einzog.
Ich ließ mich von einem Gassenbengel nach einem Gasthof führen, nahm mir ein Zimmer, legte mich in das Bett und schlief sofort ein.
Als ich erwachte, schlug es drei Uhr nachmittags. Ich war immer noch müde, was nach einer schlaflosen Nacht, einem Liebesabenteuer, einem Duell und einem langen scharfen Ritte nicht zu verwundern war.
Ich befand mich über den Ausgang meines Zweikampfes in großer Unruhe, bis ich nach ein paar Tagen erfuhr, daß die Sache gut abgelaufen und Alkibiades bereits halb hergestellt war. Diese Nachricht machte mich wieder froh. Der Gedanke, einen Menschen getötet zu haben, hatte mich schwer bedrückt, wenn ich mir auch sagte, daß es in berechtigter Notwehr geschehen. Damals besaß ich noch nicht die souveräne Kaltblütigkeit von heute.
In der Stadt traf ich zu meiner Freude etliche von den jungen Herren wieder, die ich auf meiner ersten Fahrt kennengelernt. Ich schloß Freundschaft mit ihnen und ließ mich durch sie in etliche gute Familien einführen. An die Männerkleidung hatte ich mich inzwischen völlig gewöhnt. Durch meine derbe tätige Lebensweise und die tagtäglichen körperlichen Übungen hatten sich meine Kräfte und meine Geschicklichkeit verdoppelt.
Ich folgte den lebenslustigen jungen Leuten überallhin. Ich ritt, jagte und schlemmte mit ihnen. Allmählich gewöhnte ich mich ans Trinken. Wenn ich darin auch nicht die beinahe deutsche Trunkfestigkeit einiger meiner Zechkumpane erreichte, so stellte ich doch brav meinen Mann und vertrug ohne Beschwerden zwei bis drei Bouteillen. Das war ein anerkennenswerter Fortschritt. Auch verfügte ich binnen kurzem über einen Reichtum von Kraftausdrücken und bekam eine große Routine im Abküssen von kleinen Mädchen. Mit einem Worte, ich ward ein vollendeter Kavalier, vollendet in meiner Art. Gewisse rückständige Anschauungen, die ich über Moral und ähnlichen Klimbim noch hatte, legte ich alsbald ab. Dafür wurde ich in puncto Standesehre so übertrieben feinfühlig, daß fast kein Tag verging, an dem ich nicht ein kleines Duell gehabt hätte. Es ward dies geradezu eine Notwendigkeit für mich, eine Art unumgänglicher Sport, ohne den ich mich nicht wohlgefühlt hätte. Bot sich einmal keine Gelegenheit, so begnügte ich mich, einem meiner Kameraden oder mitunter selbst flüchtigen Bekannten als Sekundant zur Verfügung zu stehen. Untätig und müßig zu sein, ist mir schrecklich.
Bald war ich im Gerüche riesiger Tapferkeit. Längst fiel es keinem Menschen mehr ein, über mein bartloses Gesicht oder mein mädchenhaftes Aussehen Witze zu machen. Die paar Knopflöcher, die ich Spöttern in den Rock gestoßen, genügten, mir den Ruf der Unbesiegbarkeit in jeder Beziehung zu verleihen. Es gibt sogar Leute, die zu schwören bereit sind, sie hätten illegitime Sprößlinge von mir über das Taufbecken gehalten.
In diesem scheinbar ziellosen, unnützen und liederlichen Dasein vergaß ich meine ursprüngliche Absicht keineswegs: das planmäßige Studium des Mannes und die Lösung des großen Problems von der wahren Liebe. Das ist nicht so einfach. Eher findet man den Stein der Weisen.
Mit gewissen Dingen der Einbildung geht es einem wie mit dem Horizont. Er existiert augenscheinlich. Man hat ihn ja jederzeit vor sich, wohin man auch blicken mag. Aber hartnäckig weicht er zurück, sobald man auf ihn zustrebt, sei es langsam oder schnell. Er bleibt immer in derselben Entfernung. Das ist die Eigentümlichkeit seines Wesens. Er läßt sich halt nicht am Schopfe packen.
Je mehr ich das Tier im Manne kennenlernte, desto mehr sah ich ein, daß ich mir etwas Unerfüllbares wünschte. Mein Ideal von der Liebe des Mannes lag außerhalb seiner Natur. Ich gewann die Überzeugung, daß mich selbst ein Mann, der mich nach seiner Art wirklich liebte, unbedingt unglücklich machen müsse. Dabei hatte ich die Ansprüche meiner Mädchenromantik bereits erheblich heruntergesetzt. Trotzdem gab ich noch nicht jedwede Hoffnung auf.
Mein Plan sah jetzt so aus.
Es galt, in meiner Verkleidung einen mir zusagenden jungen Mann zu finden. Dem wollte ich mich anschließen. Durch geschickte Fragen und durch falsche Selbstbekenntnisse, die ihn zu aufrichtigen Beichten veranlassen sollten, wollte ich zur vollkommenen Kenntnis seiner Gefühle und Gedanken gelangen. Im Falle nun, daß er meinem Ideale halbwegs entspräche, wollte ich unter einem Vorwande wieder von ihm gehen und ihm drei bis vier Monate fernbleiben, damit er meine Züge vergäße. Sodann wollte ich als weibliches Wesen von neuem in seine Nähe kommen und mir in einem stillen Stadtviertel ein reizendes Häuschen zwischen Bäumen und Blumen einrichten. Eines schönen Tages wollte ich ihm in den Weg laufen. Er sollte sich um meine Gunst bewerben, und wenn ich seiner Liebe sicher wäre, wollte ich mich ihm uneingeschränkt hingeben. Seine Geliebte zu sein, sollte mir genug Ehre sein. Ich wollte keinen andern Titel verlangen.
Das war natürlich eine Utopie. Solange ich die Männer nur von weitem und mit den herkömmlichen Mädchenaugen kannte, erschienen sie mir erhaben. Jetzt bin ich desillusioniert. Ich finde sie abscheulich und begreife nicht, wie eine Frau von Geschmack ein Exemplar von Mann in ihrem Bette zu dulden vermag. Ich wenigstens, ich brächte es nicht fertig.
Wie roh und unedel sind die Gesichtszüge der Männer, wie ungraziös ihre Bewegungen, wie plump ihre Formen! Wie rauh, braun und hart ihre Haut, wie knochig und behaart ihre Hände! Sie haben gräßlich große Füße, unappetitliche Bärte, bürstenartiges Kopfhaar. Ihre Lippen gleichen Schweinsrüsseln. Sie haben Stiernacken und Athletenmuskeln; manche gar Hängebäuche, die sie vor sich herschieben. Dazu blinzelnde wollüstige Äuglein von undefinierbarer Farbe. Mit einem Worte: Affen in Hosen! Zu alledem riechen sie beständig nach Wein, Schnaps, Tabak oder, was das Allergräßlichste ist, nach Mann. Die noch leidlich aussehen, gleichen schlecht entwickelten Frauen.
In der ersten Zeit verstieg sich mein Abscheu vor den Männern soweit, daß sie mir wirklich wie Ungeheuer erschienen. Ihre Anschauungen, ihre Manieren, ihre Nonchalance, ihre zynischen Redensarten, ihre Brutalität, ihre Weibesverachtung, alles das empörte und beleidigte mich maßlos.
Ungeheuer sind sie ja nun nicht. Vielmehr kreuzbrave lustige Gesellen, die gern gut essen und trinken, einander zu kleinen Diensten bereit sind, vergnüglich zu plaudern verstehen und brav den Degen ziehen, wo es ihr Ehrbegriff erheischt. Manche sind auch treffliche Musiker oder tüchtige Maler, und manche erzählen so schöne Geschichten, daß man sie beneiden möchte. Kurzum, sie sind zu tausend Dingen gut zu gebrauchen, bloß zu dem einen nicht, wozu die Schöpfung sie doch zunächst bestimmt hat: zum Manne einer Frau. Der Mann hat mit dem Weibe absolut nichts gemein, weder in körperlicher noch in seelischer Beziehung.
Es fiel mir lange Zeit schwer, meine Mannesverachtung zu verbergen, aber allmählich gewöhnte ich mich an den Umgang mit Männern. Ihre Witze über die holde Weiblichkeit ärgerten mich schließlich so wenig, als sei ich wirklich einer ihresgleichen. Ich fing an, selber solche Spöttereien zu schmieden, und erntete damit viel Beifall. Ich ward beinahe stolz darauf. Meine Zynismen waren sogar sehr bald gepfefferter als die meiner Kumpane. Hierbei unterstützte mich meine vertraute Kenntnis des Weibes. Das Schlimmste, was ein Mann einer Frau nachsagt, wird immer noch von dem übertroffen, was eine Frau ihren Geschlechtsgenossinnen vorzuwerfen weiß. Hinter dem Spott der Männer über die Frauen versteckt sich oft heimliche Liebe zu einer von ihnen.
Ich habe übrigens gefunden, daß die sogenannten Frauenfreunde hinter dem Rücken die größten Weiberlästerer sind.
Was ich von einem Geliebten vor allem verlangte, war Seelenschönheit. Aber eine auf seelische Dinge begründete Liebe ist ein Unding. Ich freilich, ich bildete mir ein, so lieben zu können, wie mich einer lieben sollte.
Welch herrliche Torheit! Welche göttliche Verschwendung! Sich einem geliebten Menschen ganz hingeben! Nicht das Geringste von sich behalten! Auf Selbstbesitz und freien Willen verzichten! Alles das dem Wunsche des Andern unterordnen! Nicht mehr mit den eigenen Augen sehen, mit den eigenen Ohren hören! In zwei Körpern nur einer sein! Die Seelen so vermählen und verschmelzen, daß man nicht mehr weiß: Bin ichs oder bist dus? Immerfort im andern aufgehen! Den Mittelpunkt des Lebens, der gesamten Welt in ein geliebtes Herz verlegen! Stündlich zu den schwersten Opfern, zur höchsten Entsagung bereit sein! Mit dem Geliebten leiden, wenn er leidet!
Das war die Liebe, die ich mir ersehnte. Wenn ich brav zu Hause geblieben wäre, als junges Mädchen, das an seinem Fensterplatze sitzt, stickt und träumt, dann wäre diese Liebe vielleicht unversehens zu mir gekommen. So aber bin ich in die weite Welt hinausgezogen und bin suchen gegangen.
Mit der Liebe ist es wie mit dem Glück. Man darf ihr nicht nachjagen. Mit Vorliebe neigt sich die Liebe zu denen, die am Wege eingeschlummert sind. Die Küsse von Göttinnen und Königinnen fallen meist auf geschlossene Augen. Es ist Selbsttäuschung, wenn man glaubt, die Liebe sei dort, wo man nicht weilt. Man ist stark im Wahn, wenn man sein Roß sattelt oder sich in die Post setzt, um sie in fernen Landen zu suchen.
Ich bildete mir ein, die Welt wäre voll entzückender junger Männer, sie wimmele von Minnesängern und Frauenlobern. Unsinn! Ich war sehr erstaunt, als ich mich zu der Erkenntnis bequemen mußte, daß es zwar etliche Exemplare solcher Männer gibt, daß sie aber seltene Ausnahmen sind. Ohne mich ausgelebt zu haben, bin ich infolgedessen blasiert geworden. Nichts ist der Freude am Dasein verderblicher als solche – immerhin theoretische Enttäuschungen. Mein junger frischer Leib windet sich gequält unter den Geboten des Verstandes wie ein Falke unter der Haube.
Seitdem ich in der Kameradschaft mit Männern lebe, habe ich gesehen, wie viele Frauen unwürdig behandelt und schamlos betrogen, wie viele Liebesgeheimnisse unbedacht preisgegeben und wie viele lautere Herzen ohne Bedenken in den Staub getreten werden. Wie viele Männer haben die reizendsten Geliebten und rennen doch zu den gräßlichsten Dirnen! Wieviele Frauen werden von ihren Männern und Liebhabern ohne den geringsten stichhaltigen Grund verlassen und verraten.
Nach solchen Beobachtungen war es mir unmöglich, mir einen Geliebten zu wählen. Ich hätte das Gefühl gehabt, mit offenen Augen am hellichten Tage einem furchtbaren Abgrund entgegen zu gehen. Und doch bleibt es mein Herzenswunsch, einen Geliebten zu finden. Ohne zu lieben und ohne geliebt zu werden, kann ich nimmermehr glücklich sein. Das weiß ich.
Aber die Männer!
Sie können sich Engelsschwingen ankleben und leuchtende Kronen aufsetzen, ich lasse mich doch nicht täuschen, denn ich weiß, ihr Heiligenschein ist unecht. Ich kenne sie zu gut. Alle ihre schönen Worte helfen ihnen bei mir zu nichts. Ich weiß im voraus, was sie mir vorschwatzen. Ich habe sie ja beim Einstudieren ihrer Rollen, bei der Probe, auf anderen Bühnen, gesehen. Ich kenne alle ihre Mätzchen, ihre Paradeszenen. Und wenn sie noch so blaß vor angeblicher Liebe und Ungewißheit kommen, ich weiß, eine durchschwärmte Nacht, ein paar Flaschen Sekt und eine derbe Dirne sind das übliche Rezept zu dieser interessanten Blässe. Ich war Augenzeuge, wie es einmal ein junger Edelmann angewandt hat, und tatsächlich, er erreichte damit seinen Zweck: er fand Erhörung bei seiner vorher kühlen Angebeteten. Ich weiß, wie schmachtende Verliebte sich über die allzulange Sprödigkeit ihrer Herzensköniginnen zu trösten wissen und stillvergnügt zu warten verstehen, bis ihnen die Gnadenstunde schlägt. Pfui!
Auch abgesehen davon reizt mich der Mann nicht besonders. Er ist mir körperlich nicht schön genug. Wenn es keine himmlische Liebe gibt, dann will ich in der irdischen wenigstens die höchste Wollust. Die wäre für mich nur bei einem wirklich schönen Manne möglich. Alle Männer, die ich kenne, kommen mir abstoßend häßlich vor. Mein Pferd ist tausendmal schöner.
Dandys kann ich nicht ausstehen. Die Offiziere sind mir in ihrem Wesen zu typisch. Und dann haben sie zumeist etwas Despotisches in ihren Zügen. Die Männer der bürgerlichen Berufe finde ich unsoigniert und unmanierlich. Und die Künstler?
Die Dichter denken mir zu viel an ihre Phantastereien. Man kann sie zu nichts Gescheitem gebrauchen. Sie sind meist häßlich und langweilig. Sie vernachlässigen sich in ihrer Haltung und ihrem Anzug. Schneid und Eleganz geht ihnen ab. Es ist erstaunlich, daß Leute, die sich bei Tag und Nacht mit schönen Dingen beschäftigen, kein Auge dafür haben, wenn ihre Schuhe unvornehm aussehen oder ihr Hut aus der Form geraten ist. Die meisten Poeten sehen aus wie Dorfschulmeister. Sie könnten einem beinahe die Freude an schönen Versen verleiden.
Und gar die Maler!
Das sind die allerbeschränktesten Gehirnträger auf Gottes Erdboden. Über ihre sieben Farben hinaus wissen sie von nichts. Ich habe einmal mit einem Maler ein paar Tage gemeinsam verlebt. Als ihn jemand fragte, wie ich ihm gefiele, gab er zur Antwort: »Er hat einen famosen Fleischton, nur in die Schatten müßte ein bißchen mehr Rotbraun!« Dabei hatte er eine Mordsnase und schielte.
Was soll mein Auserwählter sein? Dandy, Soldat, gemeiner Zivilist, Dichter oder Maler? Wen wähle ich mir aus dieser Menagerie? Ich bin ratlos. Im Grunde sind sie alle dumm und häßlich.
Bliebe ein Ausweg: einen Geliebten aus dem Volke zu nehmen, einen Reitknecht oder einen Arbeiter. Unmöglich! Ich bin wirklich ein unglückliches Geschöpf. Eine einsame girrende Taube.
Häufig habe ich mir gewünscht, ein Mann nicht bloß äußerlich, sondern tatsächlich zu sein. Ich habe manche Frau kennengelernt, zu der ich wie geschaffen, wenn ich ein Mann wäre. Ich wäre ein großer Frauenversteher geworden. Ich vermöchte edle Liebe wahrhaft zu erwidern. Es müßte ein göttliches Glück sein!
Wäre ich ein Mann, wie würde ich Rosette lieben! Ich würde sie vergöttern. Unsere Seelen sind füreinander bestimmt. Ihr Charakter gefällt mir wie ihr Leib. Es ist jammerschade, daß meine Liebe zu ihr zum Platonismus verdammt ist.
Jüngst hatte ich ein Abenteuer.
Ich verkehrte in einem Hause, in dem es ein junges Mädchen von höchstens fünfzehn Jahren gab, das entzückendste Geschöpf, das ich je gesehen, eine zarte kleine Goldblondine. Dieses Geschöpfchen bezauberte mich über die Maßen. Besonders aber gefiel mir ihr harmloses Geplauder, an dem ich stundenlang mein Vergnügen hatte. Ninon – so hieß die Kleine – erzählte mir allerlei Schelmereien. Ich schenkte ihr dafür Bonbons und andre Süßigkeiten, die ich immer, nur für sie, in einer hübschen Elfenbeinschachtel mitbrachte. Das hatte sie gar zu gern, denn sie war eine richtige Schokoladenkatze. Wenn ich kam, lief sie mir jedesmal entgegen und beschnupperte meine Taschen nach der geliebten Bonbonniere. Ich ließ diese von einer Hand in die andre gleiten, um sie zu verstecken, was allemal in einen kleinen Kampf ausartete. Nach einer Weile ward ich besiegt und ausgeplündert.
Eines Tages begrüßte mich Ninon sehr feierlich und kam mir nicht wie sonst entgegengeeilt. Stolz und steif blieb sie auf ihrem Stuhle sitzen.
»Ninon,« fragte ich, »du hast dir wohl die Schokolade abgewöhnt und schleckerst jetzt Salzplätzchen? Oder hast du Angst, dir die hübschen Zähnchen zu verderben?«
Dabei pochte ich auf die wohlgefüllte Elfenbeinschachtel in meiner rechten Hosentasche. Ich sah, wie Ninons allerliebste kleine Zungenspitze über die Lippen glitt, als kostete sie die verschmähten Leckereien. Trotzdem rührte sie sich nicht vom Flecke.
Nunmehr zog ich die Bonbonniere aus der Tasche, öffnete sie und begann andächtig die Pralinés zu verzehren, die sie besonders gern aß. Einen Augenblick lang schien die ihr angeborene Naschsucht über ihren Vorsatz zu triumphieren. Sie streckte ein Händchen aus, um zuzugreifen, zog es aber blitzschnell wieder zurück, wobei sie sagte:
»Kleine Kinder essen Bonbons. Ich bin keins mehr!«
Dabei seufzte sie schwermütig.
»So! Ich kann nicht finden, daß du mit einem Male ganz groß geworden wärest. Du bist ja auch kein Steinpilz, der über Nacht aufschießt. Komm, ich will dich gleich einmal messen!«
»Lachen Sie nur, soviel Sie wollen, Herr Theodor!« versetzte Ninon mit einem entzückenden Schmollmündchen. »Ich bin kein kleines Mädel mehr! Ich will jetzt groß werden.«
»Kein übler Entschluß!« meinte ich. »Bleibe nur dabei! Darf man auch fragen, gnädiges Fräulein, wie diese süperbe Idee in Ihr Köpfchen geraten ist? Vor acht Tagen, deucht es mich, schienen sich Euer Gnaden in den Kinderschuhen noch höchst wohl zu fühlen. Da knabbertest du deine Pralinés ohne das geringste Bedenken, dir damit etwas zu vergeben.«
Ninon blickte mich mit eigentümlichen Augen an. Dann sah sie sich vorsichtig um, und nachdem sie sich vergewissert hatte, daß uns niemand von den Anwesenden im Salon beachtete, flüsterte sie mir geheimnisvoll zu:
»Ich habe einen Verehrer!«
»Teufel auch! Dann wundre ich mich allerdings nicht mehr, daß du plötzlich keine Pralinés mehr magst. Trotzdem könntest du dir ruhig ein paar nehmen. Vielleicht ißt Er auch gerne welche.«
Die Kleine zuckte verächtlich mit der Schulter und zog ein Gesicht wie eine beleidigte Fürstin.
»Wie heißt der große Held?« fuhr ich unbehindert fort. »Natürlich Arthur oder Heinrich?«
Damit meinte ich zwei Jungens, mit denen Ninon gewöhnlich spielte und die sie »ihre beiden Männer« nannte.
Sie blickte mich scharf an.
»Arthur nicht und auch nicht Heinrich!« sagte sie schnippisch. »Ein großer Herr ists!«
Dabei hob sie ihre Hand hoch, um mir einen Begriff von der Körperlänge des Glücklichen zu geben.
»So groß! Donnerwetter! Und wer ist dieser große Mann?«
»Herr Theodor, ich will es Ihnen sagen, aber Sie dürfen es niemandem weitererzählen, weder Mama noch Kunigunde« – das war ihre Erzieherin – »noch Ihren Freunden. Die halten mich alle für ein Kind und würden sich nur lustig über mich machen.«
Ich war neugierig geworden und gelobte ihr unverbrüchliches Schweigen. Aber Ninon zögerte von neuem, weil sie glaubte, ich nähme die Sache nicht ernst. Ich mußte ihr mein Ehrenwort geben, verschwiegen zu sein wie ein Grab.
Jetzt glitt sie aus ihrem Lehnstuhl, hing sich über die Lehne des meinen und flüsterte mir ins Ohr:
»Der Baron de La Bredouille!«
Ich erschrak. Der Genannte war ein schmutziger bestialischer Trottel mit Wachtmeistermanieren, ledern wie ein Schulmonarch, dabei ein perverser Wüstling, ein wahrer Faun, dem bloß die Bocksfüße und die Spitzohren fehlten. Die Kleine tat mir leid, und ich nahm mir vor, die Sache zu vereiteln. Es wäre der reine Mord gewesen, wenn das süße Geschöpfchen einem solchen Erzhalunken in die Hände gekommen wäre.
Ninons Mutter war eine Lebedame, in deren Salon geflirtet, gespielt und gewitzelt wurde. Ihr Töchterchen lag ihr nicht am Herzen. Je mehr es heranwuchs, desto mehr war es ihr im Wege. Dieser wandelnde Geburtsschein hinderte sie daran, mit ihren Jahren zu mogeln. So ward die Kleine vernachlässigt und den Angriffen der Hausfreunde schutzlos ausgesetzt. Es wäre der Mutter höchstens darauf angekommen, dabei ein hübsches Schlößchen oder dergleichen für sich herauszuschlagen. Mit einem Worte, das Schicksal, das der lieben kleinen Ninon harrte, war mir nicht zweifelhaft. Sie dauerte mich, und so beschloß ich, sie der drohenden Gefahr zu entreißen.
Es galt zunächst zu verhindern, daß der Baron ihre Spur verfolgte. Das einfachste und beste Mittel schien mir: einen Streit vom Zaune zu brechen und sich mit ihm zu schlagen. Das war nun nicht so leicht zu machen, denn der Herr de La Bredouille war unglaublich feig und waffenscheu. Ich reizte ihn aber derartig, daß er sich wohl oder übel bequemen mußte, auf dem Duellplatz zu erscheinen.
Obgleich er eine gar nicht üble Klinge schlug, stand er dermaßen im Banne der Angst, daß er vor Aufregung halb blind war. Gleich beim ersten Gang fand ich Gelegenheit, ihm einen netten kleinen Stich beizubringen, der ihn für vierzehn Tage ans Bett fesselte. Das genügte mir. Umbringen wollte ich ihn nicht.
Nun mußte ich die Kleine überreden, sich von mir entführen zu lassen. Das war nicht besonders schwierig.
Ich machte Ninon weis, ihr Verehrer sei mit einer Komödiantin der gerade in der Stadt gastierenden Truppe durchgegangen. Sie war entrüstet, wie man sich denken kann. Ich tröstete sie jedoch, indem ich den Baron gehörig schlecht machte. Er sei häßlich, ein Säufer und viel zu alt für sie. Schließlich stellte ich die Frage, ob sie sich nicht mit mir entschädigen wolle. Das möchte sie schon, war ihre Antwort, weil ich viel netter wäre und hübschere Röcke trüge.
Diese mit ernsthaftester Miene vorgebrachte Naivetät belustigte mich zu Tränen. Die Überredung gelang mir, unterstützt von ein paar Blumen, etlichen Küssen und einer funkelnden Halskette. Ich ließ ihr nun ein fesches Pagenkostüm machen, denn in ihren Mädchenkleidern konnte ich sie unmöglich mitnehmen. Dann kaufte ich für sie einen frommen Gaul, der kinderleicht zu reiten, aber doch genügend leistungsfähig war. Selbstverständlich mußte mein Page so beritten sein, daß er mir und meinem arabischen Vollblut überallhin folgen konnte. Ich galoppiere mit Vorliebe.
Ich bestellte Ninon um die Dämmerstunde vor die Haustür. Sie war prompt da. Auf Umwegen gingen wir zusammen nach meiner Wohnung, ohne daß uns jemand bemerkte. Dort gab ich ihr die Pagenkleider und sagte ihr, sie solle sich zurechtmachen. Ich wollte ihr dabei behilflich sein. Erst zierte sie sich ein wenig. Ich sollte aus dem Zimmer gehen. Ich erklärte ihr aber, zu derlei Umständen hätten wir durchaus keine Zeit. Überdies sei ich ja ihr Schatz. Ein Liebespaar geniere sich nicht voreinander.
Nunmehr fand sie sich mit reizender Grazie in das Unabänderliche. Sie war halb Kind, halb Jungfrau, von wundervoll zierlichem Körper.
Die Pagenhosen standen ihr vortrefflich. Sie sah darin trotzig-drollig aus. Als sie sich vor dem Spiegel musterte, lachte sie laut auf. Ich fütterte sie mit ein paar in Tokayer getauchten Keksen.
Unsere Pferde standen marschbereit im Hof. Wir saßen auf, und fort ging es. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Das biedere Städtchen lag in tugendsamem Dunkel.
Besonders flott kamen wir nicht vorwärts, denn Ninon war eine klägliche Reiterin. Wenn wir trabten, hielt sie sich krampfhaft an der Mähne ihrer braven Rosinante fest. Gleichwohl waren wir beim Morgengrauen bereits so weit fort, daß wir keine Verfolgung mehr zu fürchten brauchten.
Sehr bald gewöhnte ich mich über die Maßen an meine junge Begleiterin. Es ist mir ein Bedürfnis, immer ein geliebtes Wesen um mich zu haben, und sei es ein Hund, den ich liebkosen kann. Nun habe ich Ninon. Sie schläft in meinem Bette, wobei sie ihr Ärmchen um mich schlingt. Sie hält sich allen Ernstes für meine Geliebte und zweifelt nicht im geringsten an meiner Manneskraft. Ihre große Jugend und Unverdorbenheit belassen sie bei dieser Illusion. Ich küsse sie ordentlich ab. Mehr beansprucht sie nicht.
Übrigens bin ich allmählich wirklich ein halber Mann geworden. Zumal im Vergleich mit Ninon bin ich ein reiner Herkules. Ich bin groß und braun, sie klein und blond. Sie hat weiche sanfte Züge, mein Gesicht sieht ernst und herb aus. Neben ihrem Zwitscherstimmchen klingt meine Sprache beinahe rauh.
Sie ist eine lustige kluge kleine Gefährtin, ein entzückendes Schmeichelkätzchen, ein süßes Ding. Es wäre jammerschade gewesen, wenn sie bei ihrer abscheulichen Mutter verblieben wäre. Ich habe mir vorgenommen, sie so lange wie möglich in ihrer Unwissenheit zu erhalten und mich nicht eher von ihr zu trennen, als bis sie es selbst verlangt und ich sie sicher untergebracht weiß. Ich bewache sie vor den Männern wie ein Drache. Keiner wäre wert, diesen Schatz zu besitzen.
Sie begleitet mich auf allen meinen Fahrten. Dieses abenteuerliche Dasein behagt ihr. Sogar an die körperlichen Strapazen hat sie sich ein wenig gewöhnt. Überall sagt man mir Schmeicheleien wegen meines schönen Pagen.
Tagtäglich entdecke ich an Ninon eine neue gute Eigenschaft, die meine Zuneigung vermehrt. Es lebt ein männliches Charakterelement in mir, helfen und beschützen zu wollen, und dies kommt jetzt mehr zur Entwicklung als wenn ich einen Geliebten hätte. Ich möchte keinen haben, der zugleich mein Schutzherr sein will. Mein Stolz empört sich dagegen. Um so glücklicher bin ich, ein schutzbedürftiges Wesen gefunden zu haben. Ich leiste Ninon in jeder Beziehung sorglich Beistand. Ich helfe ihr beim Aufsitzen, reiche ihr bei Tisch die Schüsseln, kleide sie abends aus und trage sie ins Bett. Kurzum, ich tue alles, was ein galanter und verliebter Mann für seine Angebetete tun kann.
Mehr und mehr verliere ich das Bewußtsein, ein Weib zu sein. Nur hin und wieder erinnere ich mich flüchtig daran. In der Anfangszeit entfuhr mir manchmal unbedacht ein Wort, das sich mit meiner Mannestracht nicht vertrug. Jetzt kommt das nicht mehr vor. Sogar beim Schreiben an Dich, meine Vertraute, wahre ich unnötigerweise am liebsten den Herrenton. Sollte mich je die Lust anwandeln, meine Frauenröcke wieder aus den Koffern und Kisten herauszusuchen, was ich übrigens stark bezweifle, es wäre denn, ich verliebte mich bis über die Ohren in einen Adonis, so wird es mir Mühe machen, mich wieder in die alten Gewohnheiten zu finden. Ich bin schon soweit, daß ich in Männertracht weniger verdächtig aussehe denn in Frauenkleidern. Ich gehöre weder dem einen noch dem andern Geschlecht richtig an. Es fehlt mir das Unselbständige, Furchtsame, Kleinliche, das den Frauen anhaftet; andrerseits gehen mir aber auch die Laster des Mannes ab, seine gräßliche Völlerei und sein Hang zur Brutalität. Ich gehöre einem neuen, noch unbenannten dritten Geschlechte an, das die Schwächen und Vorzüge der beiden alten Geschlechter in verfeinerter Auslese besitzt. In mir vereinigt sich der Leib und das Herz des Weibes mit der Stärke und dem Verstand des Mannes. Ich habe von der einen Art zu viel und von der andern zu wenig, und ich kann mich mit keiner von beiden paaren. Deshalb werde ich nie in voller Liebe lieben, als Mann nicht und als Weib nicht. Es ist etwas Unstillbares in mir. Der Geliebte oder die Freundin wird immer nur einen Teil meines Ichs erfüllen. Wenn ich einen Mann liebte, würde zunächst zweifellos das weibliche Element in mir zur Vorherrschaft gelangen, aber nur eine Zeit lang. Sehr bald würde ich mich nur halbbefriedigt fühlen. Habe ich nur eine Freundin, so hindert mich meine Sinnlichkeit, das seelische Glück ungestört zu genießen. Ich finde kein Gleichgewicht und keine Ruhe.
Am liebsten möchte ich doppelgeschlechtlich sein: heute Mann, morgen Weib. Dann könnte ich mich ausleben und wunschlos sein. Das wahre Glück eines jeden Wesens liegt meiner Empfindung nach in der ungestörten Entwicklung seiner vorhandenen Anlagen und Fähigkeiten.
Um meine vage Sehnsucht um etwas Bestimmtes kristallisieren zu lassen, hatte ich die kleine Ninon entführt. Aber bald erkannte ich, daß alle gegenwärtige Zärtlichkeit, alle Zuneigung und Anhänglichkeit mein Herz im Grunde öde und leer ließen. Die rührendsten Liebkosungen der Kleinen befriedigten mich nicht. Ich entschloß mich also, einen Geliebten zu wählen. Es dauerte freilich lange, ehe ich einen fand, der mir nicht mißfiel.