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Lieber Silvio, ich habe Dich durchaus nicht vergessen. Ich gehöre nicht zu denen, die durch das Leben hasten, ohne je zurückzublicken. Die Vergangenheit mischt sich mir in die Gegenwart und noch in die Zukunft. Unsere Freundschaft ist eine sonnige Insel meines Lebens, wenngleich sie im Blau der Ferne liegt. Oft wende ich den Blick dahin, voll unsäglicher Trübsal.
Ich verheimliche Dir nichts, weder von meinen Gedanken, noch von meinen Taten. Ich zeige Dir die geheimsten Winkel meines Herzens. So seltsam, lächerlich, verstiegen die Regungen meiner Seele sein mögen: ich enthülle sie Dir. Aber, glaube mir, seit einiger Zeit bin ich in einem so sonderbaren Zustande, daß ich ihn Dir kaum zu bekennen wage. Wie ich Dir bereits gesagt, hege ich seit langem die Befürchtung, daß ich auf meiner Jagd nach dem Ideal einmal Unerhörtem, Ungeheuerlichem verfallen könne. Jetzt bin ich nahe daran!
Fanatisch habe ich die leibliche Schönheit gesucht. Ich bin in die Form verliebt und hänge an den sichtbaren Dingen dieser Welt. Das ist meine Natur. An die seelische Schönheit zu glauben und ihr nachzugehen, dazu bin ich zu verdorben und zu enttäuscht. Ich stehe jenseits von Gut und Böse. Ich kann es nicht voneinander trennen. Ich bin auf den naiven Zustand zurückgekommen, in dem Kinder und Barbaren leben. Ich habe kein Gewissen im herkömmlichen Sinne. Ich kenne weder Reue noch Mitleid. Nichts scheint mir lobenswert oder tadelhaft, und das Absonderlichste setzt mich nicht in Erstaunen. Im Ehebruche sehe ich etwas Harmloses. Es dünkt mich nur natürlich, wenn sich ein junges Mädchen preisgibt. Ohne weiteres könnte ich meinen besten Freund verraten. Ich würde nicht das leiseste Bedenken tragen, jemanden umzubringen, der mir irgendwie im Wege steht. Ich kann mir kaltblütig die gräßlichsten Greuel ansehen. Im Leid und in den Drangsalen der Menschheit scheint mir ein erhabenes Motiv zu stecken, so daß es mich nicht abstößt. Eine herbe Wollust tröstet meine eigene Unvollkommenheit, mein eigenes Unbefriedigtsein, mein eigenes Unglück. Ich bin ein bewußter Egoist geworden.
Wenn ich als Knabe von großen Heldentaten hörte, durchlief es mich vom Kopf bis zu den Zehen wie Eis und Feuer. Heute ergreift mich nichts, erschüttert mich nichts, begeistert mich nichts. Ich finde Mitleid und Rührung lächerlich. Die Saiten meines Herzens sind so straff gespannt, daß sie davon nicht in die leiseste Schwingung geraten. Ich sehe den Tränen genau so gelassen zu wie dem Regen durch das geschlossene Fenster. Wenn sie über schöne Wangen perlen, und ein Sonnenstrahl oder Kerzenlicht funkelt darin, dann habe ich sogar Genuß daran. Nur für die Tiere hege ich Mitgefühl. Wenn ich im Vorübergehen sehe, daß man irgendeinen Kerl verprügelt, so läßt mich das kalt. Aber ich dulde nicht, daß man in meiner Gegenwart einem Pferd oder einem Hunde Leid antut.
Gleichwohl bin ich nicht bösartig. Ich habe noch keinem Menschen etwas Schlimmes zugefügt und werde es vermutlich auch nie tun; vielleicht mehr aus Gleichgültigkeit und souveräner Verachtung gegen jeden, der mir mißfällt, denn aus anderm Anlaß. Ich verabscheue die Menschen als Gesamtheit. Meines Hasses aber achte ich kaum zwei oder drei für wert. Jemanden hassen heißt sich ebenso um ihn kümmern, als wenn man ihn liebte. Man zeichnet ihn damit vor der Herde aus und verändert seinetwegen den Zustand der Seele. Es läßt einem keine Ruhe bei Tag noch bei Nacht. Man rast bei dem Gedanken, daß er sich seines Lebens freut. Wozu das alles? Nur der darf hassen, der zu gleicher Zeit eine große Liebe in sich trägt. Wilder Haß muß großer Liebe dienen. Ich liebe nichts! Vermöchte ich also zu hassen?
Ich habe zu meiner Qual ungeheure Kraft zu Haß und Liebe in mir aufgespeichert. Sie findet keine Verwendung, und wenn dies so bleibt, so gehe ich daran zugrunde. Hätte ich jemanden, den ich bis in den Tod hassen müßte, vielleicht käme dann auch unversehens die große Liebe …
Ich sagte eben: ich liebe nichts! Und doch liebe ich, aber es wäre tausendmal besser für mich, zu hassen. Ich bin dem Typ der so lange von mir ersehnten Schönheit begegnet. Ich habe die Schöpfung meines Hirns leibhaft gefunden. Mein Traumbild lebt. Es hat mit mir gesprochen. Ich habe es mit der Hand berührt. Es ist also kein bloßes Phantasiegebilde. Ich wußte das immer. Meine Vorahnungen betrügen mich nie.
Ja, Silvio, es lebt unter dem nämlichen Dache mit mir. Drüben im andern Flügel des Hauses ist sein Zimmer. Der Vorhang an seinem Fenster bewegt sich im Winde. Der Schein seiner Lampe grüßt zu mir herüber. In einer Stunde sitze ich mit ihm an der Abendtafel.
Die schönen morgenländischen Wimpern, der tiefe leuchtende Blick, der matte warme Ambraton, das glänzende schwarze Haar, die feine hochmütige Nasenlinie, die edle Gliederung der schlanken Gestalt in der Art des Parmigianino, die köstlichen Rundungen, die Reinheit des Ovals, die ein Gesicht so rassig und vornehm macht: alles das, was ich an fünf oder sechs Menschen verteilt gefunden und bewundert, hier ist es an einem einzigen beieinander!
Am meisten bewundere ich unter dieser Fülle eines: seine Hände. Du müßtest sie sehen! Vollendete Meisterwerke! Weiß und doch lebensvoll! Wie weich die Haut! Wie elegant die Form der Nägel! Wie feingezeichnet die Nagelaugen! Und wie funkelnd die Politur! Die schönen Hände der Anna von Österreich waren berühmt; aber so wundervoll können sie nicht gewesen sein! Der Gedanke an diese Hände macht mich zum Narren. Meine Lippen glühen und beben. Ich schließe die Augen, um sie nicht mehr zu sehen. Aber etwas faßt leise an meine Lider und Wimpern und öffnet sie mir wieder; diese Hände sind es: eine Vision von Elfenbein und Schnee … Nein, es ist die Klaue des Teufels, die sich in dieser seidenweichen Hand verbirgt! Ein höhnischer Dämon treibt sein Spiel mit mir …
Ich sehnte mich nach Schönheit. Aber ich wußte nicht, was ich damit begehrte. Es ist dasselbe, als wenn man mit bloßen Augen in die Mittagssonne sieht oder mit nackten Händen in ein flammendes Feuer greift. Ich leide unsagbar!
Warum kann man sich nicht mit der Vollkommenheit in Einklang setzen? Nicht eins mit ihr werden? Warum fehlt uns die Kraft dazu? Wenn ich vor etwas Schönem stehe, möchte ich es mit meinem ganzen Ich erfassen. Möchte es besingen, es malen, es schildern, es in Marmor nachbilden. Möchte von ihm wiedergeliebt werden. Möchte was nicht ist und nie sein kann.
Dein letzter Brief hat mich unglücklich gemacht, tiefunglücklich. Verzeihe mir, daß ich Dir dies sage! Das friedsame ungetrübte Glück, das Du mir da schilderst, Deine abendlichen Waldeswanderungen, Deine langen Gespräche, zart und traulich, die mit einem keuschen Kuß auf die Stirn enden, Dein heiteres Einsiedlerleben, einen Tag wie alle Tage, alles das hat mir erst recht zum Bewußtsein gebracht, welch inneren Stürmen ich zur Beute geworden bin. Ihr werdet Euch in acht Wochen heiraten. Nichts tritt Euch in den Weg. Ihr wißt genau, eines gehört dem andern auf ewig! Ihr seid glücklich, und Ihr steht vor noch größerem Glücke.
Deine Braut ist schön, aber was Du an ihr liebst, das ist nicht greifbare sterbliche Schönheit, nicht die schöne Materie, sondern unsichtbare ewige Schönheit, die nie altert. Es ist die Schönheit der Vision. Sie ist voller Anmut und Reinheit. Du wirst geliebt, wie man von einer solchen Seele geliebt werden kann.
Nie hast Du Dich gefragt, ob ihr Haar eine Färbung habe, wie Rubens oder wie Gainsborough sie liebte. Es gefällt Dir, weil es ihr Haar ist. Ich möchte wetten, glücklich Liebender, der Du bist, Du weißt gar nicht einmal, ob der Typ Deiner Herzliebsten griechisch, morgenländisch, englisch oder lombardisch ist …
O Silvio, glücklich sind die seltenen Herzen, die sich mit der Liebe an sich begnügen, dem reinen schlichten natürlichen Leben, die sich nie danach sehnen, heute Eremit in der Thebais und morgen als Fürst der Epikureer mit Kleopatra auf einer Insel des Lago di Garda zu leben …
Wenn ich den Mut hätte, mich hier loszureißen, würde ich ein paar Wochen bei Euch verbringen. Vielleicht würde ich mich wandeln in der Luft, die Ihr atmet; vielleicht kühlte der Schatten Eures Gartens meine heiße Stirn. Aber, ach, Euer Paradies ist mir verschlossen! Kaum ist es mir vergönnt, aus der Ferne, über die Mauer hinweg, einen flüchtigen Blick darein zu werfen, wo zwei Himmelskinder Hand in Hand, Auge in Auge lustwandeln. In Euer Eden könnte man höchstens in Gestalt der Schlange schleichen. Aber, geliebter Adam, um alles Glück der Welt, ich möchte nicht der Dämon sein, der Deine Eva in Versuchung bringen will.
Mein Blut ist vergiftet. Ein ungeheuerlicher Drang wuchert darin. Die blaßgrünen Blätter dieses Schierlings atmen eisigen Schatten aus. Welch ein Schicksal! Meine kühne Sonnensehnsucht, meine himmlische Begeisterung, meine göttliche Schwermut, meine hehren Liebesträume, meine Religion der Schönheit, meine farbenfrohe Phantasie, meine rastlose Empfänglichkeit, meine verheißungsvolle Jugend, meine schlummernden Fähigkeiten, alles das hatte kein ander Ziel – denn mich zum verworfensten aller Männer zu machen!
Ich suchte die Liebe. Wie ein Rasender rief und schrie ich nach ihr. Im Gefühl meiner Ohnmacht wand ich mich voll Wut. Ich setzte mein Blut in Brand und hetzte meinen Körper durch die Sümpfe der Lust. Ich habe ein junges schönes liebendes Weib an mein leeres Herz gepreßt. Ich bin der Leidenschaft nachgejagt, ohne sie zu fassen. Ich habe mich weggeworfen. Alle die Jahre, die ich vergeudet habe, unreif, dahin und dorthin laufend, voll Verlangen, die Natur und die Zeit zu bezwingen, die hätte ich in Einsamkeit und Andacht verbringen sollen, im Streben, mich der Liebe würdig zu machen! Das wäre klug und weise gewesen. Aber ich hatte Schuppen vor den Augen und lief geradenwegs auf einen grausigen Abgrund zu. Schon habe ich den einen Fuß ins Leere gesetzt, und ich glaube, den andren hebe ich alsbald auch auf. Was nützt es mir, daß ich einhalte? Ich stürze doch in die Tiefe.
Ja, so habe ich mir die Liebe vorgestellt. Jetzt weiß ich, was ich mir erträumt. Ja, das sind die köstlichen und grauenhaften Nächte ohne Schlaf, in denen rote Rosen zu glühenden Kohlen und glühende Kohlen zu roten Rosen werden. Das ist die süße Qual und das leidvolle Glück der Liebe! Todessehnsucht unter goldenen Sternen. Hangen und Bangen, schmerzreiche Lüste, Fiebern und Frieren. Und in den summenden Ohren immer der eine vielgeliebte Name. Das ist die Liebe! Die Dichter haben nicht gelogen.
Wenn ich im Begriff bin, den Salon zu betreten, in dem wir gewöhnlich zusammenkommen, pocht mein armes Herz so wild, daß man es durch den Rock hindurch spüren muß. Ich presse beide Hände darauf, damit es nicht zerspringt. Erblicke ich das geliebte Wesen am Ende der Allee im Park, so schwindet augenblicklich die Entfernung zwischen uns beiden, und ich sehe den Weg nicht mehr. Ich kann nicht mehr weiter oder ich müßte Flügel haben.
Meine Gedanken haben nur noch ein Ziel. Nichts vermag mich abzulenken, nichts zu zerstreuen. Wenn ich ein Buch lese, legt sich sein Bild auf die Blätter. Wenn ich über die Haide galoppiere, so ist es mir, als spürte ich den warmen Hauch des geliebten Mundes über meinen Wangen, als ritten wir zu zweit. Sein Wesen hat mich ergriffen; es folgt mir überallhin. Ich empfinde es am deutlichsten, wenn es mir fern ist. Einst war ich zu beklagen, daß ich nicht liebte. Jetzt muß ich klagen, daß ich liebe und daß ich gerade dieses Wesen liebe! Mein Leben kam mir oft verfehlt vor; jetzt ist es zerstört. Eine unsinnige häßliche ehrlose Leidenschaft hat sich meiner bemächtigt. Die Scham darüber treibt mir das Blut in die Stirn. Bin ich wahnsinnig geworden?
Silvio: ich – liebe – einen – Mann!