Ludwig Ganghofer
Das Schweigen im Walde
Ludwig Ganghofer

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Einundzwanzigstes Kapitel

Unter ziehenden Nebeln erwachte der Morgen über dem Geißtal, über den Tillfußer Wäldern und Almgehängen.

Lange vor dem ersten Grau, schon gegen drei Uhr morgens, war im Försterhäuschen ein Licht lebendig geworden. Als Praxmaler, um seinen Herrn zu wecken, mit der Laterne zum Jagdhaus hinaufging, sah er, daß im Schlafzimmer des Fürsten schon die Lampe brannte, deren Flimmerschein in die vom Nebel durchwobene Dämmerung hinausleuchtete.

Droben pochte er. »Duhrlaucht?«

»Ich danke, ja, ich bin schon wach!«

»Schlecht schaut's aus mit'm Wetter!« berichtete Pepperl durch die geschlossene Tür. »Nebel haben wir. Ich mein', Sie sollten heut daheim bleiben, Duhrlaucht.«

»Nein, ich gehe! Mag das Wetter sein, wie es will!«

»No ja, wenn S' meinen! Aber Gamsbock bringen wir heut kein net heim. Heut marschieren S' umsunst.«

Ein frohes Lachen war die Antwort.

Nebel hin oder her, den freut heut 's Leben! dachte Pepperl, während er die Treppe hinunterging. »Und mich freut's auch!« Es blieb ihm genügende Zeit, um ein »Sprüngerl« in die Sennhütte hinunterzumachen. Da konnte er seinem Mädel den Schlaf aus den Augen küssen.

Lachend hob sich Burgi aus ihrem Heubett und schlang die Arme um Pepperls Hals. »So a Bußl beim Aufwachen is ebbes Guts!«

»Halt ja! Gibt nur gschwind noch eins her! Auf'n Abend hast mich wieder!«

Es dauerte lang, dieses »gschwinde Bußl«.

Der graue Morgen begann, und durch die im Fluge sich klüftenden Nebel schimmerte ein armseliges Stück des blauen Himmels, als Ettingen vom Jagdhaus herunterkam. Pepperl sah den Glanz in den Augen seines Herrn und dachte: Teufi, Teufi, der muß sich heut an guten Pirschgang derwarten, weil er gar so gottsfreudig dreinschaut! Aber solche ein Wind und Nebel! Da hätte Pepperl schwören können: »Wir kriegen nix!« Auf diese Enttäuschung mußte er seinen Herrn vorbereiten. »Schlecht schaut's aus, Duhrlaucht! Heut hab ich net die richtige Schneid auf d' Jagd!«

»Ich auch nicht!« erwiderte Ettingen lachend.

»Gott sei Dank, weil S' Ihnen nur net z'viel derwarten. Und gelten S', ich hab recht ghabt: heut wird's a Hakerl mit der Sonn!«

»Mir wird sie scheinen! Kommen Sie nur!«

Sie schritten gegen den Wald hinunter.

Da wurde im Oberstock des Fremdenhauses ein Fenster geöffnet. »Guten Morgen, Heinz! Und Glück auf den Weg!«

Mit seinen »gottsfreudigen« Augen grüßte Ettingen zu dem Freunde hinauf: »Das war lieb von dir!«

Pepperl schüttelte den Kopf und dachte: »Glück hat er ihm auch noch gwunschen! Jetzt können wir einpacken! Daß ein so fermer Jäger wie Graf Sternfeldt sich so schwer gegen den Weidmannsbrauch verfehlen konnte! Glück – was Schlimmeres kann einem Jäger nicht gewunschen werden!

Raschen Ganges wanderten die beiden durch das lange Tal. Sie waren schon eine Stunde unterwegs, und der Morgen wurde nicht heller. Wohl klüftete sich manchmal der ziehende Nebel und gab ein Stück der düsteren Wände frei, doch alle Höhen blieben von dunklem Gewölk umlagert. Aus den wehenden Dünsten ging ein dünnes Geriesel nieder, bei dem sich alles wie mit feinem Tau beschlug; und alle Geräusche waren gedämpft: das Rauschen des Baches, die schreienden Stimmen, die man irgendwo in der Ferne von den Almen hörte, und das Geläut und Brüllen der Rinder, die heut in solcher Unruhe waren wie nach einem Schneefall, der alles Grün bedeckt.

Immer sorgenvoller wurde das Gesicht des Jägers. Seinen Herrn aber schien das unfreundliche Bild der Landschaft nicht zu verstimmen. Der wanderte immer zu, versunken in stille Gedanken, mit diesem träumenden Lächeln, mit diesem Leuchten in den Augen.

Schon ein paarmal hatte Praxmaler verwundert umhergeguckt. »A gspaßiger Nebel! Der riecht ja wir der Dampf, der von der Kohlstatt kommt!«

Und was war das für ein Rauschen, fern in der Höhe? Sie hatten noch eine Wegstunde bis zum See, da konnte man doch den Wasserfall des Seebaches noch nicht hören? Und waren denn die Leute auf der Sebenalm verrückt geworden? Sie schrien, daß man's auf eine halbe Stunde weit hören konnte! Nun kamen ein paar Kühe in wilder Flucht gerannt. Und im Wald ein Laut, der den Jäger ganz verblüfft machte: der Pfiff einer Gemse. Das begriff er nicht. Gemsen hier unten im Talwald? So tief steigen sie nicht einmal herunter im schwersten Winter!

»Herr Fürst! Ich weiß net, heut muß was los sein! Da saust a Rudel Gams durch' Wald. Wie kommen die Gams da runter?«

Ettingen drängte mit Ungeduld: »So lassen Sie doch die Gemsen! Ich will nicht jagen heut!«

»Net jagen?« Das war für Pepperl von allen Wundern dieses Morgens das größte. »Ja, sakra, warum steigen wir denn nacher auffi zum See?«

Er bekam keine Antwort. Und da machte sein Scharfsinn einen Gedankensprung. »Ah, da schau!« Hatte nicht gestern der Förster erzählt, er hätte das Malerfräulein zum Sebensee hinaufreiten sehen? Und hatte der Fürst nicht gleich darauf gesagt: »Pepperl, morgen machen wir eine Pirsche zum Sebensee«? Er dachte an jenen Morgen im Blumengarten des kleinen Seehauses, dachte an die drei Hirsche im Geißtal, die ihr Leben dem Malerfräulein zu danken hatten, dachte an jene Gewitternacht in der Waldstube dort oben – und dem Praxmaler-Pepperl ging ein Licht auf. »Ah, da schau!« Schmunzelnd musterte er seinen Herrn. Jetzt verstand er auch das Wort von der Sonne, die heute scheinen würde. »Dös glaubst! Die hat freilich Sonnenschein in die Äugerln! Da kann der Nebel so dick sein, wie er mag!«

Ein sausender Windstoß riß die grauen Dünste entzwei, und man sah den steilen Tejakopf von einer schwarzen Wolke umlagert.

»Duhrlaucht! Schauen S' da auffi! Was is denn dös für a Gwölk? So pechschwarz kann doch kein Wetter net aufziehen?«

Ehe der Blick des Fürsten die Höhe fand, nach welcher der Jäger deutete, hatte der jagende Nebel die Bergspitze mit ihrer finsteren Haube schon wieder verhüllt.

Sie schritten aufwärts durch den steigenden Wald. Da hörten sie wieder von der Sebenalm die schreienden Stimmen. Jetzt blieb auch Ettingen stehen, wie von einer Sorge befallen. »Praxmaler! Was können die Leute nur haben?«

»Ich kann mir's net denken! Und da müssen mehr Leut beinand sein als wie d' Sennleut und der Hüter! Und wie's in der Luft liegt! Als ob's wo brennen tät! Es wird doch ums Herrgotts willen in der Almhütten kein Feuer net ausbrochen sein!«

Da hörten sie das Keuchen eines Menschen und ein Gerappel von Steinen, als käme einer in wahnsinnigem Lauf über den Steig hinuntergerannt.

»Um Christi willen«, stammelte der Jäger, »was is denn?«

Ein Mensch tauchte im Nebel auf. Es war der Sebener Senn. Jetzt stand er vor den beiden, nach Atem ringend, das fahle Gesicht wie mit Ruß bestrichen. Die Augen waren rot verquollen und die Ärmel seiner Joppe von kleinen Brandlöchern durchsiebt, als wäre er durch einen Regen glühender Funken gelaufen. Mit beiden Fäusten packte er den Jäger an der Brust: »Der Förstner? Wo ist der Förstner? Ich muß den Förstner haben und d' Holzerleut.«

Ettingen rüttelte ihn am Arm. »Aber Mensch, so sagen Sie doch, was ist denn geschehen?«

»Der Sebenwald brennt. Der ganze Wald bis übern See auffi, alles an einzigs Fuier! 's ganze Jungvieh droben, alles muß hin sein, alles! D' Höll kann net ärger sein! Und 's Fräuln is droben seit gestern! Jesus! Jesus! Sag mir doch, Jäger, wo is denn der Förstner?«

»Mar und Joseph! Draußen im Tillfuß is er! Lauf Senn, lauf um Himmels willen, was d' laufen kannst!«

Der Senn wollte rennen, doch Ettingen hielt den Arm des Mannes umkrampft.

»So lassen S' doch aus, Herr!« keuchte der Senn. »Ich muß ja um d' Leut!«

Ettingen rang nach Worten. »Gibt es noch einen Weg –«, die Stimme brach ihm, »einen Weg durch das Feuer zum See hinauf?«

»Kein' nimmer! 's ganze Seetal is zu mit Fuier! So lassen S' doch aus!« Gewaltsam befreite der Senn seinen Arm und rannte, mit keuchender Stimme betend: »Vater, Vater unser, der du bist im Himmel –« Er verschwand im Nebel. Und Ettingen umklammerte den Ast einer Fichte, als müßte er eine Stütze haben, um sich aufrecht zu erhalten. Dem Jäger schossen die Tränen in die Augen, als er dieses verstörte Gesicht sah, diesen verzweifelten Blick.

»Jesus! Herr Fürst!«

Ettingen erwiderte keinen Laut. Seine Glieder streckten sich, als wären sie Stahl geworden. »Komm!«

Wortlos eilten sie durch den Wald hinauf und erreichten das Almfeld. Hier lag der Nebel nicht mehr so dicht wie im tieferen Tal. Man sah die Leute, die mit Geschrei umherrannten, um die scheu gewordenen Kühe einzufangen – man sah den Wald und über seinen Wipfeln den schwarzen, von trübem Feuerschein durchflackerten Qualm, der von Wand zu Wand die ganze Breite des Seetals füllte.

Mit brennenden Augen spähte Ettingen durch die Schleier des Nebels. »Nein! Da gibt es keinen Weg mehr! Nicht durch den Wald hinauf!« sagte er mit erloschener Stimme. »Aber einen anderen gibt es! Sie muß sich vor dem Feuer geflüchtet haben, in die Felsen hinauf! Dort müssen wir sie finden! Wir müssen!« Er eilte den steilsten Latschengehängen zu, gegen den Tejakopf, dessen gewaltige Felsenmauer zwischen dem Prantlkar und dem brennenden Seetal aufstieg und in schwarzem Rauchgewölk verschwand.

Erschrocken lief der Jäger seinem Herrn nach. »Mar und Joseph! Duhrlaucht! Wo wollen S' denn hin?«

»Hinauf! Dort hinauf! Durch das Prantlkar und über den Paß – den Weg, den wir neulich gingen, als das Gewitter kam – und die schöne Nacht!«

»Da müssen wir links durch'n Wald und von drunt her auffi!«

»Nein! Ich sehe einen Weg ins Kar, der näher ist. Dort hinauf!« Ettingen deutete nach den Latschenbändern, die schräg über die Felswand emporkletterten gegen die Höhe des Kars. »Da sparen wir eine Stunde!«

Praxmaler wischte sich den Schweiß von der Stirn und stammelte: »Um Gotts willen, Duhrlaucht! Da steig ja ich kaum durch. Sie kommen net auffi!«

»Ich muß hinauf!« Ettingen hatte schon den Latschenhang erreicht und begann zu klimmen.

Ohne Widerrede legte der Jäger alles ab, was er trug, die Büchse, den Rucksack, die beiden Wettermäntel – jetzt brauchte er freie Arme, denn er wußte, daß es um das Leben seines Herrn ging.

Sie kamen zum Fuß der Felswand und begannen zu klettern, wortlos, Ettingen immer voran. Mit Sausen stürzten unter seinen Tritten die Steine in die Tiefe – er hatte keinen Blick für sie, seine Augen suchten immer die Höhe. Nie bedurfte er der Hilfe des Jägers, und wenn Praxmaler ratlos innehielt, fand Ettingen immer wieder eine Schrunde im Gestein, einen Tritt, der ihn höher brachte, so rasch, daß der Jäger Mühe hatte, sich dicht hinter seinem Herrn zu halten.

Als sie die Kuppe der Wand erreichten, sah Praxmaler in die schwindelnde Tiefe, die hinter ihnen lag, und bekreuzte sein Gesicht.

Nur eine kurze Strecke hatten sie noch zu steigen, weniger mühsam, und dann kam über Griesfelder und Latschenrücken ein ungefährlicher Weg in das Kar.

Der Nebel begann sich langsam zu heben. Von der Höhe, auf der die beiden waren, konnten sie den Eingang des brennenden Tales überblicken. Zwischen Qualm und Dämpfen sah man die flammenden Bäume. Auf weite Strecken war der Grund schon kahl gebrannt; bald erschienen diese Stellen grau, bald wieder, wenn der Wind die Asche verwehte, waren sie verwandelt in rote Glut. Und die Flammen der Bäume, Rauch und Qualm, die Aschenwolken, alles strebte in jagendem Winde hinauf, dem See entgegen.

Ettingen bedeckte mit den Händen das Gesicht, als könnte er den grauenvollen Anblick nicht ertragen und müßte mit Gewalt die martervollen Bilder ersticken, welche die Angst seines Herzens ihm vor Augen stellte. Noch atemlos, begann er den Weg ins Kar.

»Ich bitt Ihnen«, bettelte der Jäger, »tun S' doch a bißl rasten!«

Ettingen schüttelte den Kopf.

Sie stiegen eine Stunde. Je näher sie im Kar der letzten Grießzunge kamen, von deren Ende der Steig über brüchige Wände hinaufkletterte zum Paß, desto ungeduldiger wurden die Schritte des Fürsten, obwohl ihm Atem und Kräfte schon fast zu Ende gingen. Auch der Jäger war so erschöpft, daß er die letzte Kraft seiner Glieder geben mußte, um sich an der Seite seines Herrn zu halten.

Einer steilen Felswand nahe, ging der Weg zwischen mächtigen Felsblöcken, die ein Bergsturz über das Grießfeld geworfen hatte. Wohl war der Nebel gestiegen und hatte sich schon über Tal und Berg zu einer regungslosen Decke gesammelt, aber das ganze Kar lag verschleiert vom dünnen Geriesel der Asche, die aus den Lüften fiel, und vom Rauch, der drüben aus dem brennenden Seetal aufstieg und im Kar sich wieder niedersenkte über die Wände.

Nur einen Weg von wenigen Minuten hatten sie noch bis zu der Stelle, wo der Paßweg beginnen mußte, und Ettingen suchte ihn schon mit brennenden Blicken. Da rollten Steine aus der Wand herunter, an der sie vorüberschritten. Im gleichen Augenblick riß der Jäger seinen Herrn hinter einen Feldblock und stammelte: »Mar und Joseph! Nur um Gotts willen kein' Laut nimmer! Da schauen S' auffi!«

Hoch über dem Grießfeld, in der steilen Felswand, die pfadlos schien, bewegte sich unter dem Schleier des Rauches langsam eine Gestalt.

»Lo!« glitt es mit ersticktem Klang über Ettingens Lippen. Sein erstes Gefühl war ein Sturm von Freude. Sie nur wiederzusehen! Lebend! Doch dieser Rausch der Freude ging ihm unter in einem Grauen, das ihn fast um die Sinne brachte. Jeder Schritt an dieser Wand war ein Schritt in den Tod. Ettingen streckte die Arme. Nur helfen, helfen, dieses stürzende Leben schützen! Kein anderer Gedanke war in ihm. Er wollte schreien: Ich komme, Lo! –doch seine Stimme war nur ein Lallen. Und da preßte ihm der Jäger die Hand auf den Mund und riß ihn zurück und flüsterte: »A Laut, Herr Fürst, und Sie bringen dös Fräuln um! Da gibt's kein Helfen, wir stehen da mit leere Händ, ohne Seil und Eisen, ohne alles! Sie muß allein da runter. Da hilft ihr keiner, bloß die eigne Kraft. Und schauen S' auffi, wie's jeden Schritt probiert in aller Ruh! Sie derzwingt's! Passen S' auf, sie derzwingt's! Aber a Laut von Ihnen – a Merk von ihr, daß wer da herunten steht, und Sie grad, Sie, Herr Fürst –, und sie hat ihr Ruh verloren und –« Der Jäger sprach das Wort nicht aus, das ihm schon auf den Zunge lag. »In Rauch und Nebel hat s' den Steig verfehlt und hat sich in der Wand verstiegen. Jesus, Jesus, was muß dös Fräuln für an Weg gmacht haben in der Nacht!«

Nun standen sie regungslos hinter dem Felsblock und spähten durch den ziehenden Rauch in die Wand hinauf. Sie sprachen kein Wort mehr, aber es hämmerte unter ihren Rippen, daß einer den Herzschlag des anderen hören konnte. Mit beiden Händen klammerte Ettingen sich an den Fels und biß die Zähne übereinander, um auch den Ton seines Atems noch zu ersticken. Immer wieder schloß er die Augen, als ginge die Marter dieses Anblicks über seine Kräfte, und immer wieder spähte er hinauf mit einem Blick, in dem seine Seele war, seine Angst und sein Hoffen. Fielen Steine aus der Wand, dann zuckte er zusammen, als träfe ihn jeder Steinschlag ins Leben. Sie schwirrten und sausten, diese stürzenden Steine, und wenn sie das Grießfeld erreichte, machten sie weite Sprünge. Der Staub, den sie aufwirbelten, dampfte an der Felswand empor und mischte sich mit den Schleiern des braunen Qualmes. Der umhüllte bald die Verirrte in der Wand, bald gab er sie wieder frei. Mit ausgebreiteten Armen, die Brust an die Felsen schmiegend, suchte sie Tritt um Tritt.

Manchmal blickte sie über die Schulter in den Abgrund, wie um den Weg zu messen, den sie noch finden mußte. Tiefer und tiefer kam sie, und eine glattgeschwemmte Wasserfurche überspringend – Ettingen zitterte, als sie sprang –, erreichte sie ein Steinband, das ihr sicheren Grund für die Tritte gab. Sie ging, bis das Band zu Ende war. Dann rastete sie, lange, lange, um ihre Kraft für dieses letzte und schwerste Stück des Weges zu sammeln. Schräg nach abwärts hatte sie eine Felsplatte zu überqueren, die nur von wenigen Rissen durchzogen war und so kahl erschien, daß der Blick, der aus der Tiefe hinaufspähte, kaum einen Vorsprung fand, auf dem ein Fuß hätte ruhen können.

»Unmöglich! Das ist unmöglich!« hauchte Ettingen. Sein Gesicht war weiß.

»Nur Ruh, Herr Fürst, nur Ruh ums Himmels willen!« flüsterte der Jäger. »Von droben schaut's besser aus als wie von unt auf! Und sie derzwingt's, und alles is gut!«

War dieses Schwere überwunden, dann war's gewonnen. Unter der Felsplatte winkte ein Rasenfleck, auf dem sie sicher stehen konnte. Wohl war dann das letzte Stück des Weges bis auf den Sand hinunter noch immer gefährlich, aber die Felsen boten hier feste Kanten für den Fuß und Schrunden für die greifenden Hände.

Noch immer rastete Lo. Während sie die Arme um einen Felszacken geschlungen hielt, prüfte sie vorgebeugten Kopfes schon den Weg, den sie nehmen mußte. Nun wollte sie beginnen. Man sah, wie ihre Gestalt sich streckte und ihr Arm sich zögernd von dem stützenden Schrofen löste.

Praxmaler umklammerte die Hand seines Herrn, als hätte er Sorge, daß die Seelenangst, die ihm aus Blick und Zügen redete, in diesen entscheidenden Minuten durch einen Ruf, durch eine unvorsichtige Bewegung sich verraten könnte. Doch Ettingen stand regungslos und stumm, wie zu Stein verwandelt. Auch sein Atem schien erloschen. Nur seine Augen lebten noch und griffen hinauf mit ihrem Blick, wie die Angst mit Armen und Händen greift.

Dicht angeschmiegt an den Fels, machte Lo mit ruhiger Vorsicht den ersten Schritt in die Platte, einen zweiten und dritten. Während sie mit der einen Hand immer angeklammert hing an einer Schrunde, fühlte sie mit der anderen gleitend am Gestein hin, um einen neuen Halt zu finden. Zwei Schritte noch. Dann hielt sie rastend inne, mit ausgebreiteten Armen, wie an den Fels gekreuzigt. Wieder begann ihr Fuß zu tasten, ihre Hand zu suchen, denn sehen konnte sie nicht, da sie mit Körper und Wange sich an die steile Mauer pressen mußte, um das Gleichgewicht zu halten. So erkämpfte sie Schritt um Schritt, immer rastend und wieder klimmend.

Oft tastete sie mit Hand und Fuß eine lange Weile am Felsen hin, bis sie einen Tritt und einen Griff zu finden vermochte. Schon hatte sie die Hälfte der Platte überquert, und immer näher kam sie dem Rasenfleck, der sich mit festem Sockel aus der Wand herausbaute. Doch immer kürzer wurden ihre Schritte, immer langsamer und müder suchte ihr Fuß, und immer länger währte ihre Rast, als gingen ihre Kräfte zu Ende.

»Sie zittert!« hauchte Ettingen und krampfte die Hände um die Kante des Felsblockes.

Beängstigend lange hing Lo in der Felswand an eine aus der Tiefe kaum erkennbare Rinne geklammert. Dann machte sie ein paar hastige Schritte, und nun war sie nur noch durch einen schmalen Felspfeiler von dem Rasen getrennt.

»Nur Ruh, Herr Fürst! Sie gwinnt!« stammelte der Jäger. Die Hoffnung, die er seinem Herrn einredete, schien ihm selbst zu fehlen. Er betete flüsternd: »Lieber Herrgott, hilf ihr die paar Schritteln, nur die paar Schritteln noch!«

Unruhig tastete Lo mit dem Fuß. Immer schwerer schien ihr Körper an den Armen zu hängen. Nun fand ihr Fuß den gesuchten Tritt. Als sie sich vorschob und ausgriff mit der Hand, wich der Stein, auf den sie getreten war – ein leiser Schrei – und während sie schon taumelte, wagte sie den rettenden Sprung –

Mit stöhnendem Laut stürzte Ettingen der Felswand zu. Da klang hinter ihm ein Jubelschrei des Jägers.

Sausend flog der gelöste Stein aus der Wand herunter, doch Lo hatte im Sprung den Rasen gewonnen. Sie sank in die Knie und wollte sich an den Fels lehnen. Hatte sie den Schrei dort unten gehört und den Menschen erkannt, der mit erhobenen Armen über das Schuttfeld emporstürmte? Oder löste sich, da sie an die Rettung glauben durfte, die gewaltsame Spannung ihrer erschöpften Kräfte zu einem Anfall jäher Schwäche?

Ihr Kopf glitt am Felsen hin. Lautlos sank sie auf den Rasen nieder und regte sich nimmer.

»Sie ist ohnmächtig! Hinauf!« schrie Ettingen wie von Sinnen. »Praxmaler! Hinauf! Hinauf!«

Ehe der Jäger den Fuß der Wand erreichen konnte, war Ettingen über das zerklüftete Gestein schon halb bis zum Rasen emporgeklettert. Er hörte die erschrockenen Worte nicht, die Praxmaler ihm zuschrie – er stieg und stieg. Jetzt erreichte er die Bewußtlose. »Lo! Lo! Meine Lo!« Der Rausch von Freude, der ihn erfüllte, als er ihre Hand erfassen konnte, verwandelte sich in neue Sorge. Wie schmal dieser Rasen war! Eine Bewegung im Erwachen, und sie mußte stürzen. Aus Angst und Liebe wuchs ihm die Kraft, daß er das fast Unmögliche versuchte: die Ohnmächtige über die steilen Felsen hinunterzutragen. Den einen Arm um einen Schrofen klammernd, zog er mit dem anderen die Bewußtlose an sich. Sie fiel ihm schwer entgegen. Wie leblos lag ihm ihr Kopf auf der Schulter.

Da stand schon der Jäger dicht unter ihm und stemmte den Arm an eine Kante der Felsen. »Da können S' drauftreten, Duhrlaucht! Meine Knochen halten aus.«

So stiegen sie langsam hinunter. Für jeden Schritt des Fürsten suchte der Jäger eine feste Kante am Gestein, stützte ihn mit der Schulter oder hielt ihm bald den Arm, bald wieder die Fäuste oder das Knie als Staffel hin.

Als sie den sicheren Grund erreichten, taumelte Ettingen und ließ sich niederfallen auf den Sand. Aber er fühlte die eigene Schwäche nicht, nur den Jubel, die Geliebte gerettet zu wissen, sie so zu halten, in seinen Armen, an seiner Brust. »Meine Lo!« Ein anderes Wort fand er nicht, während er wie ein Irrsinniger ihre geschlossenen Augen küßte, ihr Haar und ihre Stirne.

Der Jäger stand vor den beiden, erschöpft, verlegen lächelnd. Dabei leckte er mit der Zunge von seiner Hand das Blut fort, das ihm über die Finger tropfte. Und dann sprang er zu den Felsblöcken hinunter, um mit dem Hut von dem Wasser zu schöpfen, das zwischen den Steinen rann. Vorsichtig brachte er den vollen Hut getragen. »Da haben S' Wasser, Herr Fürst! Sie müssen 's Fräulein a bißl derfrischen!«

Als Ettingen aufblickte, sah er das Blut an den Händen des Jägers.

»Praxmaler! Ihre Hände!«

»No ja, natürlich, Sie haben halt a bißl scharfe Nägel an die Schuh. Macht nix! Ich hab eh a wengerl z'viel Blut im Leib. So a kleiner Schröpfer is mir gsund. Aber jetzt denken S' net an mich –«

»Wie soll ich Ihnen diese Stunde danken!«

»Was? Danken? Dös wär mir 's Richtige: auf die Fünfhundert und auf'n Oberjager auffi! Aber da hab ich 's Wasser! Brauchen S' a Tüchl? Na, um Gotts willen, wie 's Fräuln ausschaut!«

Erst bei diesem Wort des Jägers bekam Ettingen Augen, um zu sehen. »Ach!« Das war ein Laut, als würde ihm das Herz zerdrückt. Mit zitternden Armen preßte er die Ohnmächtige an sich, schmiegte ihren Kopf an seine Brust und streichelte ihr das Haar und die Wange. Wie müd und erschöpft ihr schönes Antlitz war, wie entstellt von Rußflecken und vom Staub der Asche! »Und ihre lieben Hände!« Sie waren grau vom Steinsand, wund von Rissen, fast alle Nägel gebrochen und mit Blut unterlaufen.

Wie ein Schwindel überkam es ihn, als er sein Tuch in das Wasser tauchte, das ihm der Jäger hinbot. In scheuer Zärtlichkeit blies er die Asche aus Lolos Haar, wusch ihr den Ruß vom Gesicht und streifte immer wieder das nasse Tuch über Stirn und Augen. Sie erwachte nicht, doch ihr Atem begann sich zu beleben. Er wusch ihr die Hände, küßte jede Wunde. Und während der Jäger fortlief, um frisches Wasser zu holen, nahm er sie wieder in seine Arme.

Ein stockender Atemzug erschütterte ihre Brust. Sie schlug die Lider auf.

»Lo!«

Sie sah das Gesicht, das sich in Glück und Sorge über das ihre beugte, fühlte schauernd den Druck seiner Arme, die sie umschlungen hielten, und trank den Blick der Liebe, der auf ihr ruhte. Dann lächelte sie müd und schloß die Augen wieder, als wüßte sie: das ist ein Traum, der verschwinden muß, wenn ich wach und mit offenen Augen sehe!

»Lo! Kennst du mich nicht? So sieh mich doch an!«

Sie öffnete die Lider.

»Lo! Meine liebe, gute, kleine Lo!«

Da hörte sie es wieder: das Wort ihres Vaters! Mit dem gleichen Ton der Liebe! Nur süßer, zärtlicher noch, durchweht von einer Glut, die hinüberschlug in ihr Herz und ihr das Blut in die bleichen Wangen trieb. Als sähe sie ein Wunder, dessen Wahrheit sie fühlte und an das sie doch nicht glauben konnte, so hob sie zögernd die Arme und faßte scheu mit beiden Händen die Wangen des geliebten Mannes. Ein Zittern rann durch ihren Körper. »Du!« Und nun schlang sie die Arme um seinen Hals, stark und heiß, und hing an seinen Lippen, als tränke sie neues Leben aus seinem Kuß. Dann schloß sie mit leisem Lächeln die Augen und sank an seine Schulter hin, als wollte sie schlummern.

Er streichelte ihr Haar. »Du Starke, du Mutige, du! Was hast du überkämpft in diesen grauenvollen Stunden! Was mußt du erlebt haben in dieser entsetzlichen Nacht!«

Ohne die Augen zu öffnen, flüsterte sie: »Ich weiß es nimmer – ich weiß nur, was jetzt ist – und das ist schön!«

»Und ich schlief in dieser Nacht und träumte von meinem Glück, während du –« Er konnte nicht weitersprechen. Der Gedanke an alle Gefahr, die in dieser Nacht auf jedem Schritt mit ihr gegangen, machte ihn zittern bis ins Herz. »Ich habe nur dieses Letzte gesehen. Und nicht einmal helfen hab ich dir können! Das sehen zu müssen, so hilflos! Jeder Blick war wie ein Tod für mich. Am Morgen, als ich mein Haus verließ, um dich zu suchen, da wußte ich, daß ich dich liebe. Aber erst in diesen Stunden der Angst und Verzweiflung hab ich's empfunden, wieviel du mir bist, und daß ich nicht leben könnte ohne dich!«

Sie lauschte seinen Worten wie der Dürstende dem Quell, den er rauschen hört.

Daß sie so stumm war, das weckte seine Sorge wieder. »Lo? Wie fühlst du dich? Ist dir wohl?«

Sie lächelte und atmete tief.

»Warum siehst du mich nicht an?«

Da schlug sie die leuchtenden Augen zu ihm auf.

»Sag es mir, Lo! Bist du mir gut?«

»Ach, du!« Sie hob die Arme.

»Ich weiß es. Aber ich möcht es hören mit deinen Worten. Sag es mir, Lo!«

»Du!« Ein anderes Wort fand sie nicht; doch sie schmiegte sich an seine Brust, daß er das Beben ihres Körpers und ihren Herzschlag fühlte.

So hielten sie sich schweigend umschlungen, bis ein Schritt sie weckte.

Der Jäger brachte frisches Wasser.

Ettingen richtete die Geliebte in seinen Armen auf. »Willst du nicht trinken, Lo?«

»Ja, Heinz, mich dürstet. Gib du mir einen Trunk!«

Er schöpfte das Wasser, und das schlürfte sie ihm aus der hohlen Hand.

»Wie das erquickt! Ich danke dir, Heinz!«

Lächelnd strich er das feuchte Haar von ihrer Stirn zurück. Dann nahm er den Hut des Jägers, tat einen gierigen Trunk und hob sich auf die Knie. »Komm, Lo! Ich muß dich heimbringen, damit du ruhen kannst. Und sieh nur, deine armen Hände! Wir müssen heim.«

»Heim!« Sie nickte ernst, und ein Schatten dämpfte den Glanz ihrer Augen. »Die Mutter! Kann es meine Mutter schon wissen?«

»Daß der Wald brennt? Nein, Lo!« Wohl mußte er fürchten, daß die Nachricht schon hinausgeflogen wäre bis ins Dorf; doch er wollte ihr diese Sorge von der Seele nehmen. »Sie kann es unmöglich wissen, sie wird es hören mit der Nachricht, daß dein Mut dich rettete.«

Lo atmete auf.

»Fühlst du dich stark genug, um gehen zu können?«

»Sage mir: Geh! Und ich kann es.«

»So komm!«


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