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Sie wanderten hinaus in die Nacht, Pepperl mit der gesenkten Laterne voran und hinter ihm der Fürst, etwas unsicher auf dem holprigen Weg, über den die schwankende Laterne ihren trüben, gaukelnden Schimmer warf. Aber es währte nicht lang, und das Auge des Fürsten hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, sein Schritt an den rauhen Pfad.
»Sie können die Laterne löschen«, sagte er, »das Licht stört mich nur. Ich hab es gerne, in der Nacht zu gehen.«
Pepperl blies die Kerze aus, verbarg die Laterne in einem Busch und ließ seinen Herrn vorangehen auf dem Weg, der sich in dem schütteren Walde mit mattem Grau von dem schwarzen Rasen abhob.
Die Nacht war windstill; bald laut, bald wieder leiser werdend, plauderte der Wildbach wie im Halbschlaf; in tiefer Schwärze stieg der schweigende Wald bergan, und über den grauen Wänden funkelten am stahlblauen Himmel die zahllosen Sterne. Die Milchstraße, die draußen in der dunstigen Ebene auch in hellen Nächten nur matt erkennbar ist, schlängelte sich über den Sternenhimmel hin wie ein lichter Silberstrom, unterbrochen von schwarzen Inseln.
Zuweilen ging ein sanftes Hauchen durch die finsteren Bäume, als hätte die Natur im Schlummer wohlig aufgeatmet. Und wenn es kam, dieses kurze linde Hauchen, trug es von den Almen den Wohlgeruch der Brunellen ins Tal herunter, einen süßen Duft, der an köstliches Gewürz erinnert.
Immer wieder blieb Ettingen stehen, auf den Bergstock gestützt, und träumte hinein in das nächtliche Schweigen des Waldes.
»Wie schön! Und so viel Ruhe!«
Als er leise diese Worte vor sich hin murmelte, zuckte es über die langen Bergwände der Hohen Munde wie ein falbes Leuchten. Das währte nur einen Augenblick, doch alle Farben des Waldes, der Felsen und Almen erwachten in dieser Sekunde, um mit der nächsten wieder in Schlaf und Finsternis zu versinken.
»Was war das? Der Himmel ist klar –«
»Weit draußen im Flachland muß aber Wetter stehn. Da draußen hat's blitzt. Dös war der Widerschein.«
Ettingen lauschte, als müßte er den fernen Donner hören. In den sternfunkelnden Lüften blieb's ruhig und still.
Er lächelte. »Sturm und Wetter da draußen. Hier die Ruhe! Das Schweigen im Wald!«
Sie schritten weiter.
Zwei Stunden waren sie fast gewandert, und über den östlichen Bergen begann sich schon der Himmel zu lichten, als ihnen durch den Wald, in dem der Weg immer steiler wurde, leichte Nebelschleier langsam entgegenschwebten.
»Das Wetter von da draußen schickt seine Vorreiter in die Berge hinein«, sagte Ettingen, »der Tag wird trüb werden.«
»Gott bewahr, Duhrlaucht! An schönern Tag haben S' noch nie net gsehn! Der Nebel da, dös is bloß der Seedampf. Wissen S', zwischen die Felsen droben, da liegt der Firnschnee umanand. Da bleibt auch im heißen Sommer d' Nacht schön frisch. Und in der Fruh, da fangt der Sebensee zum Rauchen an. Dös muß so sein, dös is 's allerfeinste Wetterzeichen.«
Es währte nicht lang, und sie waren völlig eingehüllt von den ziehenden Dämpfen. Man konnte auf zwanzig Schritte kaum noch einen Baum unterscheiden. Daß in den Lüften der Tag erwachte, sah man nur an dem Grau des Nebels, der immer lichter und lichter wurde.
»Wie lange haben wir noch zu steigen?« fragte Ettingen.
»A Viertelstündl. Da is schon der See.«
Aber vom See war keine Spur zu gewahren. Es hoben sich nur ein paar grobe Felsblöcke des Ufers von dem weißlichen Rauch mit verschwommenem Dunkel ab, man hörte das leise Geplätscher, mit dem das Wasser die Steine umspülte, und tief aus dem Ehrwalder Tal herauf summte das Brausen des Wasserfalles, der den Abstrom des Sees hinunterwarf über turmhohe Wände.
Der Pfad stieg immer mehr und verlor sich in ein steiles Latschenfeld. Als die Jäger einmal rasteten, hörten sie auf dem Weg die Steine klirren. Wie ein dunkler Schatten huschte ein großes Tier an ihnen vorüber und verschwand im Rauch.
»War das ein Stück Hochwild?«
»Ja, ja, wird schon so was gwesen sein!« Pepperl schmunzelte. Er brachte es nicht übers Herz, seinem Jagdherrn ins Gesicht zu sagen, daß er im Nebel einen Maulesel für Hochwild angesehen hätte. »Gar weit haben wir nimmer hin bis zum Hirsch, jetzt müssen wir d' Füß a bißl in acht nehmen.«
Lautlos kletterten die beiden Jäger zwischen den Latschen hinauf. Je höher sie kamen, desto häufiger schüttelte Pepperl den Kopf. »Jetzt dürft sich der Nebel bald verziehen! Oder es spuckt in der Fechtschul!«
Minute um Minute verging, und es wurde nicht lichter. Wohl hauchte manchmal ein frischer Windzug von den unsichtbaren Wänden nieder, aber der Nebel lag fest und wollte nicht weichen.
Sie hatten im steilen Latschenfeld einen Rasenbuckel erreicht, als Pepperl flüsternd im Klettern innehielt:
»Jetzt können wir nimmer weiter! Der Hirsch muß in der Nähe sein, auf'n schönsten Schuß. Was machen wir jetzt? Teufi, Teufi, Teufi! Wenn's schief geht, Duhrlaucht, so kann ich nix dafür! So a Hundsnebel, so a miserabliger!«
Ettingen tröstete leise: »Machen Sie sich keine Sorgen, Pepperl! Wenn auch die Pirsche fehlschlägt, der Weg war wunderschön und hat mir Freude gemacht.«
»Der Weg? No ja, a schöner Weg is auch was Schöns. Aber lieber wär mir der Hirsch. Wenn nur der Teufel den Nebel kreuzweis reiten möcht!«
Als wäre der fromme Wunsch des Jägers an die richtige Adresse geraten, so fuhr im gleichen Augenblick ein scharfer Windstoß über das Latschenfeld herunter und riß die wallenden Schleier entzwei.
»Mar und Joseph!« lispelte Pepperl. »Duhrlaucht! Der Hirsch!«
Kaum hundert Schritte von den Jägers entfernt, kam der Hirsch gemächlich durch die Latschen gezogen und gabelte mit dem mächtigen Geweih wie spielend in die Büsche. Doch ehe Praxmaler die Büchse spannen und dem Fürsten reichen konnte, war der Nebel schon wieder zusammengeflossen, alles grau verhüllend.
Pepperl zitterte vor Aufregung an allen Gliedern und flüsterte: »Teufi, Teufi, Teufi, jetzt is gfehlt! Jetzt hat er uns gleich im Wind. Und nacher bhüt dich Gott, Hirscherl!«
Da hörten sie in nächster Nähe das Brechen von Zweigen und den Schritt des Wildes. Wie ein großer, grauer Schemen tauchte dicht vor ihnen der Hirsch im Nebel auf. Nun verhoffte er und wandte sich zur Flucht – aber da krachte auch schon der Schuß. Im Nebel war der Hall der Büchse dumpf und kurz, man hörte kein Echo, nur ein mattes Gepolter im Geröll, über das der Hirsch gegen das Seetal hinunter flüchtete. Dann Stille.
Dem Praxmaler-Pepperl klopfte das Herz, daß man es hören konnte wie dumpfen Hammerschlag. Und die Hände um die Ohren höhlend, lauschte er talwärts.
Scharf blies der Wind von den Felsen. Der Nebel kräuselte sich um die Büsche und flatterte, wurde lichter und lichter, und in der Höhe begann es schon zu schimmern wie mattes Blau und wie ein Rätsel des Sonnenglanzes. Da rissen die Schleier entzwei –wie sich ein Vorhang teilt, der ein heiliges Wunder verhüllte. Leuchtende Matten sah man, ein steiles Latschenfeld in blauem Schatten, hier eine graue Wand und dort eine Reihe scharf geschnittener Spitzen, rosig angeflogen vom Schein der Morgensonne. Nur wenige Minuten, und die Höhe, auf der die Jäger ruhten, war völlig nebelfrei. Groß und schweigend dehnte sich rings um sie her die Felsenwildnis, in mächtigem Halbkreis umzogen von starrendem Gewänd. Ihnen zu Füßen lag der Nebel ausgegossen, flach und weiß wie Milch, und drüben stiegen aus dem Meer dieser silbernen Dünste wie Steinkolosse der Wetterschrofen auf, über deren wild zerrissenen Grat die goldleuchtenden Schneegehänge der Zugspitze herüberblinkten.
Immer rascher zog und streckte sich der Nebel, und während seine tieferen Massen gegen Osten hinausströmten über das Geißtal, lösten seine höheren Ränder und Zungen sich auf in blaue Luft. Allmählich enthüllten sich im Westen die schön gewellten Waldberge von Lermoos und Reutte, das Ehrwalder Tal entschleierte sich mit seinem blitzenden Bach, mit seinen Wiesen und ausgestreuten Häusern. Schon sah man die Ehrwalder Alm, auf der sich mit dem fernen Gebrüll der Rinder die jauchzende Stimme eines Hirtenbuben mischte. Schon stachen die Wipfel des Sebenwaldes schlank und spitz aus dem Nebel heraus. Noch eine kurze Weile, und aus den in Luft und Sonne zerfließenden Dünsten leuchtete ein stilles grünes Wasserauge aus der Tiefe herauf: der Sebensee, ein kreisrundes Felsenbecken, erfüllt mit einer Flut von so kristallener Klarheit, daß man jeden Steinblock und jeden versunkenen Baum auf dem Grunde deutlich unterscheiden konnte. Steinhalden und flache Almfelder umsäumten auf der einen Seite den See, auf der anderen wurde sein Ufer gebildet durch mächtige Felsklötze, durch schroffe Wände und steile Latschenbeete, zwischen deren vereinzelten Zirbenbäumen und Fichten das Schindeldach einer kleinen Hütte leuchtete.
»Solch einen Morgen zu sehen! Ist das nicht schöner als alle Jagd?«
Zum Glück für den weidmännischen Respekt, den ein Jäger vor seinem Jagdherrn haben soll, überhörte Pepperl diese stille, lächelnde Weisheit. Denn ehe der Fürst noch ausgesprochen hatte, war Praxmaler aufgesprungen, als hätte er plötzlich bemerkt, daß er auf glühenden Kohlen säße.
»Mar und Joseph! Duhrlaucht! Der Hirsch! Da drunten liegt der Hirsch!« Die Freude schien den Pepperl in einen Wahnsinnigen verwandelt zu haben. »Jessesmaria! Da liegt der Hirsch! Da liegt er ja! Da liegt er! Da liegt er!« Ein Jauchzer, daß alle Wände widerhallten von diesem jubelnden Schrei. Und in der einen Hand den Bergstock, in der anderen die Büchse, hetzte Pepperl über Büsche und Geröll hinunter, daß es anzusehen war, als müßte er sich bei jedem Sprung überstürzen, um Hals und Bein zu brechen. Jetzt verschwand er in den Latschen. Ein heller Jauchzer kündete an, daß er den Hirsch erreicht hatte.
Nun stieg auch Ettingen hinunter, und als er die Mulde erreichte, zwischen deren Büschen der Hirsch, mit der Kugel im Herzen, verendet niedergebrochen war, kam Pepperl ihm schon entgegen, mit einem Sträußl blühender Almrosen in der zitternden Hand. Die Augen des Jägers blitzten vor Freude, seine Wangen brannten vor Erregung. »Gratalier, Herr Fürst! Gratalier zum ersten Hirsch bei uns! Da kommen S' her! Schauen S' ihn an! Was dös für a Hirsch is! A Gweih hat er droben – Teufi, Teufi, Teufi, is dös aber Gweih! Und den Schuß, den er hat! Im Nebel so an Schuß machen! Wie naufzirkelt aufs Blatt! Gelten S', Duhrlaucht! Gelten S', dös freut Ihnen? Gelten S', ja? Und schauen S', Duhrlaucht – weil S' jetzt die allerschönste Freud haben –, jetzt muß ich gleich was raussagen! Gestern auf d' Nacht, meiner Seel, es is wahr: da hab ich mich schauderhaft aufgführt! An Rausch hab ich ghabt, daß ich mich selber schenier! Und im Rausch, da bin ich mit'm Herrn Kammerdiener zammgwachsen und hab ihm schieche Sachen gesagt. Schieche Sachen, Duhrlaucht, schieche Sachen!«
Er schnaufte wie ein von schwerer Bürde Erlöster. »Jetzt is's heraußen! Gott sei Dank!« In Zerknirschung guckte er an seinem Herrn hinauf: »Ich bitt schön, Duhrlaucht, tun S' mir halt gnädig verzeihen! Gschehen soll's nimmer, da leg ich mei Hand dafür ins Feuer! Tun S' mir halt verzeihen! Gelten S', ja?«
Lächelnd hatte Ettingen diese drollig wirkende Beichte angehört. Nun klopfte er dem Jäger freundlich auf die Schulter. »Ja, Pepperl, die Sünde soll vergeben und vergessen sein! Aber nehmen Sie ein andermal Ihren Durst in festere Zügel! Und nun sagen Sie mir – hat Ihnen Martin Ursache gegeben, daß Sie grob gegen ihn wurden?«
Eine dunkle Blutwelle schoß dem Jäger ins Gesicht, aber er sagte entschieden: »Na, na, Duhrlaucht, gwiß net! Der angfangt hat, der bin schon ich gwesen!« Ein Glück, daß sich Ettingen zu dem erlegten Hirsch wandte, um das Geweih zu betrachten. Länger hätte Pepperl den forschenden Blick seines Herrn kaum ertragen, ohne in Verlegenheit zu geraten. Nun atmete er erleichtert auf, kreuzte die Fäuste über der Brust und tat einen dankbaren Blick zum Himmel, wie einer, der sagen will: »Gott sei Dank, jetzt bin ich wieder gesund!« Dann warf er die Joppe ab und zog das Messer, um an dem erlegten Hirsch das weidmännische Handwerk zu üben.
»Das seh ich nicht gerne«, sagte Ettingen, »bei dieser Arbeit laß ich Sie lieber allein. Ich steige zum See hinunter und warte dort, bis Sie nachkommen.«
Die Büchse zurücklassend, folgte er einem Almsteig, der in Windungen durch das Latschenfeld zum Seeufer hinunterführte. Als er zu den lichter stehenden Bäumen kam, vernahm er den süßen Schlag einer Ringdrossel. Er lächelte. Der zärtliche Vogelruf erweckte in ihm die Erinnerung an jenen ersten Abend, an jene seltsame Begegnung im schweigenden Wald.
In Gedanken versunken folgte er dem Pfad und blickte erst wieder auf, als er den See erreichte. Still und schimmernd lag die grüne Flut zu seinen Füßen, durchsichtig wie Glas. Die glatte Oberfläche war durchzogen von langen Silberstrichen und spiegelte mit reinen Linien und grün behauchten Farben alle Felsblöcke des Ufers, die Bäume und einen sonnbeglänzten Berg. Hunderte von den kleinen Blütenkelchen der Alpenrose waren ausgestreut über den See und schwammen gleich winzigen Blutstropfen im stillen Grün.
Lange stand Ettingen in Schauen vertieft, bevor er dem linken Ufer folgte, auf dem sich zwischen Wasser und steilem Berggehäng ein halb verschütteter Pfad erkennen ließ.
Durch eine tief geschnittene Bergscharte glänzte schon die Sonne herein ins Seetal und durchleuchtete am Ufer einen breiten Streif des Wassers. Große Forellen standen so dicht am Spiegel, daß ihre sacht spielenden Rückenflossen halb aus dem Wasser ragten. Wenn sie den einsamen Wanderer gewahrten, machten sie eine jähe Wendung, schwammen pfeilschnell der grünen Tiefe zu, und wo sie gestanden, blieb eine silberblitzende Linie zurück.
Ettingen hatte den Pfad verloren und konnte nicht mehr weiter. Ein hoher, überhängender Felsblock stieg vor ihm aus dem Wasser auf und sperrten den Weg. Aber die Nische, die der mächtige Steinwall bildete, bot ein freundliches Plätzchen zum Rasten –und das mußte auch schon ein anderer gefunden haben, denn unter dem Fels war eine Bank aus Steinen zusammengetragen und mit Fichtenzweigen und Moos belegt.
Er ließ sich nieder. Hatte der Weg ihm so warm gemacht? Er fühlte ein heißes Brennen auf den Wangen und schöpfte mit der Hand von dem kalten Wasser, um die Glut seines Gesichtes zu kühlen.
Dann saß er, die Arme übers Knie gelegt, und während er träumend in die stille grüne Flut blickte, spann er lächelnd die Gedanken weiter, die ihn begleitet hatten, seit er den Schlag der Drossel vernommen.
Und seltsam! Wie kann nur eine Erinnerung sich so lebhaft vor den Augen gestalten? Als wäre sie aus seiner Seele herausgetreten in die Luft, vor seinen Füßen versunken im See! Zwischen dem Spiegelbild der Alpenrosen, die über den Saum des Felsens niederhingen, sah das schöne »Schweigen im Walde« aus der Flut zu ihm herauf wie ein ernstes Nixengesichtchen mit großen Augen! Die lockig aufgelösten Haare, die das Gesicht umschwankten, schienen im grünen Wasser zu schwimmen und aus der Tiefe heraufzustreben. Jetzt kam eine Hand und strich die Locken zurück – im gleichen Augenblick verschwand das Gesicht, und jäh erweckt aus seiner träumenden Märchenstimmung, fuhr Ettingen betroffen auf. Nicht seine eigenen Gedanken hatte er gesehen, sondern ein Spiegelbild der Wirklichkeit. Und als er hinaufspähte zum Rand des Felsens, hörte er das Rieseln kleiner Steine und einen leichten Schritt, der sich entfernte. Dann wieder Stille. Von den überhängenden Büschen flatterten ein paar Almrosenkelche wie rote Käferchen durch die Luft herunter und fielen in die Flut.
»Das schöne Wunder geht um! Auf jedem meiner Wege!« murmelte Ettingen lächelnd vor sich hin und wanderte am Ufer zurück, um den verlorenen Weg zu suchen.
Da fühlte er wieder jenes Brennen im Gesicht, und wieder schöpfte er Wasser mit der Hand, um die schmerzenden Wangen zu kühlen.
Er fand den Pfad, der steil durch die Latschen hinaufkletterte und zur Höhe des überhängenden Felsens führte. Und da versperrte ihm ein lebendiger Riegel den Weg – ein Esel, der von den dürren Ästen einer altersmüden Fichte die zarten Fäden der Bartflechte herunterschmauste.
»So? Bist du auch da? Guten Morgen!«
Ettingen streckte die Hand, um das Grautier zu locken. Aber der Esel machte scheue Augen, schüttelte trotzig die langen Ohren, schlug mit den Hinterfüßen aus und sauste durch die Latschen gegen den See hinunter.
Lachend sah ihm Ettingen nach: »Wenn deine märchenhafte Herrin nicht freundlicher ist –«
Über den Zweigen einer Erlenstaude sah er ein dunkelblaues, noch feuchtes Schwimmkleid und einen weißen Bademantel zum Trocknen ausgebreitet.
Besonders empfindlich und verzärtelt schien sie nicht zu sein, die schweigsame Waldfee! An solch einem frischen Bergmorgen in 1600 Meter Höhe ein Seebad mit 10 Grad Reaumur? Das war ein etwas gruseliges Vergnügen, gegen das sich unter Umständen auch eine gesunde Männerhaut energisch wehren konnte Und solch ein knospenhaftes, zierlich schlankes Ding, das die Zwanzig kaum überschritten haben konnte. Schon überschritten? Nein! Aus den großen ruhigen Augen blickte wohl ein klarer Lebensverstand, wie ihn frühe Jugend nicht besitzt. Doch die schmalen Wangen hatten noch etwas Kindhaftes, und der schöne Mund erzählte von der unberührten Reinheit einer Mädchenseele, die nur Sonne erlebt haben konnte, keinen Sturm und Schmerz.
Wer sie sein mochte? Und was suchte und trieb sie hier? Daß sie die Natur liebte, sich selbst genug war und sich wohl fühlte in der Einsamkeit, das war ein gutes Zeugnis für ihr Wesen und ihre Geistesbildung. Wer die Welt nicht nötig hat, ist immer reicher als die Welt. Und die Einsamkeit verträgt nur jener, der sich selbst in jeder Stunde etwas zu sagen hat.
Wer war sie? Vielleicht die Tochter stadtmüder Leute, die dort unten im Ehrwalder Tal ihre Sommerfrische genossen? Nein! Wenn sie noch Eltern hätte? Die würden ihrem Kinde solche Freizügigkeit nicht gestatten, auch nicht einem Kinde, das neben eigenen Gedanken auch Mut und eigenen Willen hat. Denn Mut gehört dazu, wenigstens für ein Mädchen, so einsam in menschenferner Bergwildnis zu hausen.
Aus dem dichten Latschenfeld war Ettingen auf eine von wenigen alten Wetterfichten überschattete Lichtung getreten, die einen freien, herrlichen Ausblick bot über den See und gegen das Geißtal hinaus, über den Sebenforst und das Ehrwalder Tal. Inmitten des Platzes erhob sich ein kleines Blockhaus, aus dessen eisernem Kaminrohr sich milchblaue Rauchwölklein emporkräuselten in die sonnige Morgenluft. Überall an den Balken der Hütte schlangen sich Efeuranken bis unter das vorspringende Dach, bildeten über der halb offenen Tür eine kleine Laube und ließen von den Holzwänden nicht viel mehr gewahren als zwei kleine, mit grünen Läden versehene Fenster, hinter deren blanken Scheiben rote Vorhänge schimmerten. Neben der Tür zog sich eine Holzbank hin, auf der eine Messingpfanne zwischen hölzernen Tellern und weißem Teegeschirr zum Trocknen in der Sonne stand. Ein Stangenzaun, an dem eine Zeile junger Fichtenbäumchen angepflanzt war, zog sich im Geviert um die Hütte und umschloß einen sorgsam gepflegten Garten, der sich mit seinen leuchtenden Blumenbeeten und seinen weißen, kiesbestreuten Wegen gleich einer lieblichen Oase von der wilden Unkultur der Umgebung abhob.
Auf diesen Beeten blühten keine Zierblumen, wie sie in den Gärten des Tales heimisch sind. Eine kundige Gärtnerhand hatte hier gesammelt und durch Pflege veredelt, was zwischen der Waldgrenze und den Schneefeldern der Berge an Blumen gedeiht. Neben feurigen Alpenrosen schimmerten die blauen Glocken des Enzians; Speik und Edelraute blühten neben dem Almrausch, dessen zarte, rosige Dolden schon zu verwelken begannen, Mardaun und Brunellen neben Arnika und zierlichen Orchisarten, und ein aus Felsen aufgebauter Hügel trug in seinem mit Erde ausgefüllten Spalten die kleinen blaßgrünen Stauden des Edelweiß, dessen Stöcke, nach den frischen saftigen Blättern zu schließen, hier gut zu gedeihen schienen, obwohl sie ohne Blüten waren. Die Farben dieser Bergblumen, die hier in reicher Fülle gesammelt waren, hatten etwas Ungewöhnliches und Seltsames, und zu dem überraschenden Anblick gesellte sich der fremdartige, süße Duft, den die blühenden Beete in den reinen Morgen hauchten.
Ein einziger Baum stand im Garten, in einer Ecke des Zaunes. Und der wunderliche Wuchs dieses Baumes stimmte zu allem übrigen, als hätte ihn die romantische Laune eines Künstlers unter Tausenden ausgewählt und hierhergestellt, um den ungewöhnlichen Eindruck dieses Gartenbildes noch zu erhöhen. Es war kein Baum – es waren sieben Bäume in einem: eine uralte riesige Zirbe, auf deren harfenförmig ausgebogenem Hauptstamm sieben senkrecht nebeneinander aufsteigende Äste sich zu starken Stämmen ausgewachsen hatten. Der Baum war anzusehen wie eine gewaltige grüne Leier. Und diese Leier klang auch! Wenn der sachte Wind die Äste bewegte, ging ein lindes Rauschen durch die zottigen Nadelbuschen, und mit diesem Grundton klangen feine Glockenstimmchen zu einem weichen, traumhaften Akkord zusammen.
Verwundert – recht wie einer, der im Märchen die Pforte einer bezauberten Stätte betritt –, zur Neugier gereizt und doch von einer seltsamen Scheu zurückgehalten, stand Ettingen vor der Umfriedung des Gartens. Bald glitt sein Blick über die Blumen hin, bald suchten seine Augen in den Wipfeln des Harfenbaumes die tönenden Glöckchen, bald wieder musterte er die Hütte und spähte nach Tür und Fenstern.
Er lächelte. »Hier muß es wohnen – mein Märchen!«
Da kam es auch schon gegangen, auf der anderen Seite des Gartens, vom See herauf, nicht schwebenden Schrittes, nicht mit dem Lilienstab, gar nicht märchenhaft, sondern festen Ganges, gut ausholend bei jedem Schritt. Und während sie den linken Arm, um das Gleichgewicht zu halten, seitwärts streckte, trug sie in der rechten Hand eine große, wassergefüllte Gießkanne, deren schwere Last jede Linie des geschmeidigen Mädchenkörpers straffer spannte – ein Bild gesunden, jungen Lebens, kraftvoll und schön zugleich.
Auch anders gekleidet war sie als an jenem Abend im schweigenden Wald. Sie trug eine helle Bluse aus leichtem Flanell und dazu einen braunen Lodenrock, unter dessen Saum noch ein Stücklein jener grauen Wollstutzen zu sehen war, wie die Sennerinnen sie zu tragen pflegen. Das reiche Haar, nach dem Bade noch nicht völlig getrocknet, fiel ihr mit wirrem Geringel über Nacken und Schultern bis auf die Hüften nieder, und die um Stirn und Schläfen sich kräuselnden Härchen leuchteten in der Sonne so goldig, daß der schöne Mädchenkopf wie von einem zitternden Schimmerkranz umgeben war.
Als sie mit dem Knie das Gartentürchen vor sich aufstieß, gewahrte sie drüben am Zaun den stillen, lächelnden Gast. Kaum merklich zuckte es um ihren Mund, als hätte sie in Gedanken zu sich gewagt: Das ist er wieder, der von neulich, aus dem Geißtaler Wald!
Ettingen lüftete das Hütchen. »Guten Morgen, mein Fräulein!«
Schweigend dankte sie, wohl freundlich, aber doch nicht anders, als man auf der Straße den höflichen Gruß eines Fremden erwidert.
»Wollen Sie einem müden Sterblichen erlauben, daß er Ihren blühenden Zaubergarten betritt, um eine Minute zu rasten? Dort, unter Ihrem singenden Baum?«
Eine Furche lag zwischen ihren Brauen. Hatte ihr seine Frage wie Spott geklungen? Oder wie die Redensart eines Zudringlichen? Doch als ihr Auge dem seinen begegnete, lächelte sie und sagte ruhig: »Treten Sie nur ein! Das Türchen hat keinen Riegel. Man sieht Ihnen an, daß Sie heute schon einen Weg hinter sich haben, der Ihnen warm gemacht hat. Dort bei der Zirbe finden Sie eine Bank. Die hat Schatten.«
Während sie das sagte, ging sie auf die Hütte zu. Nun stellte sie die Kanne nieder und verschwand in der Tür.
Welch einen linden Klang ihre Stimme hatte!
Ettingen umschritt die Fichtenhecke und betrat den Garten. Gerne hätte er einen Blick in das Innere der Hütte geworfen, aber die Tür war zugelehnt. Einem der weißen Kieswege folgend, ging er auf die Zirbe zu, in deren Schatten er einen schwer gezimmerten Holztisch fand und eine aus bizarr gewachsenen Latschenzweigen geformte Bank, deren Holz unter dem Schnee vieler Winter schon völlig schwarz geworden war.
An diesem Tische mußte schon manch ein müder Wanderer gerastet haben; zahlreiche Buchstaben, ganze und halbe Namen, Jahreszahlen und absonderliche Zeichen waren in die morsche Tischplatte eingeschnitten. Auch der Stamm des Harfenbaumes war bedeckt mit solchen Zeichen, alten und neuen, unter denen eine Reihe von Einschnitten, die in der Mitte des Baumes regelmäßig übereinander angebracht waren, eine Art von Hausherrnrecht in dieser Rinde zu beanspruchen schien. Da stand zuoberst in der Reihe: » Lolo, aetatis suae XIV – Papa, aetatis suae XLV« – dabei eine Jahreszahl, und diese Zeichen waren umzogen von einer tief eingeschnittenen Herzlinie mit einer Flamme. Diese Inschrift war sieben Jahre alt, die Schnitte begannen schon in der Rinde zu vernarben. Darunter standen noch, ersichtlich von der gleichen Hand geschnitten, die Zahlen von fünf aufeinanderfolgenden Jahren, und die letzte dieser Zeilen – sie schimmerte noch weiß im Holz und hatte erst einen einzigen Winter überstanden – war umgeben von einem Kränzlein frischer Alpenrosen. Das berührte, als hätte die Spenderin dieser Blumen sagen wollen: »Du letztes Jahr! Wie warst du schön! Ich werde dich nie vergessen! Nie!«
Von seltsamer Stimmung umfangen, betrachtete Ettingen die Zeichen und Blumen, während der Wind durch die buschigen Zweige der Zirbe strich und leis die melodischen Glockenstimmchen tönen machte.
»Lolo? Ob das ihr Name ist?« Dann hatte ihr Vater dieses kleine Paradies geschaffen, hier in der einsamen, friedlichen Wildnis der Berge? Und mit ihrem Vater lebte sie hier? Sieben Sommer? Sieben schöne Sommer, so schön und reich, daß ihre Freude sich in die Rinde dieses Baumes grub, um ein Zeichen der Dauer zu haben? Und weshalb war dieses jüngste Jahr noch nicht eingeschnitten? Zählte es nicht mehr? War die Hand erkaltet, welche die anderen Zeichen eingegraben? Hatte sie den Vater verloren im vergangenen Jahr? Deshalb diese Blumen um die letzte Zahl?
Da weckte ihn ein leises Klirren aus seinen Gedanken.
Drüben, beim Blockhaus, ging das Mädchen langsam an der Holzwand entlang, um den Efeu zu begießen.
Ettingen hatte überhört, daß sie aus der Hütte getreten war. Nun trug sie die Haare aufgesteckt, nur lose über dem Scheitel zu einem Knoten geschlungen. Das stand ihr noch besser zu Gesicht als das offene ungezügelte Gelock. Wie der Knoten die Fülle des Haares nicht bändigen wollte, wie die kleinen widerspenstigen Ringel sich lösten und bei jedem Schritt um Stirn und Schläfen zitterten gleich zartem Goldgespinst, wie fein das anzusehen war!
Sie hatte die letzten Wassertropfen über den Efeu gesprengt und stellte die Kanne nieder, um einige der langen Grasschmelen zu brechen, die bei der Hecke wuchsen. Achtsam zog sie die zarten Halme durch die Finger, um sie geschmeidig zu machen, und begann mit ihnen die herabhängenden Efeuranken an der Hüttenwand anzubinden.
»Wie gut sie das verstehen!« sagte Ettingen. »Als ob Sie eine gelernte Gärtnerin wären!«
»Ach nein! Meine Gärtnerkünste sind recht bescheiden. Daheim, in unserem Gemüsegärtchen, ist mir die Mutter über. Aber hier, was der kleine Garten da verlangt, das hab ich gelernt in sieben Jahren. Das versteh ich.« So plauderte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Sehr viel Mühe verlangen diese Beete nicht. Das sind keine verzärtelten Gartenpflänzchen. Das sind kräftige, dauerhafte Bergblumen. Nur der Efeu – den haben wir aus dem tieferen Walde heraufgebracht, und drum hält er im Hochsommer die Hitze nicht gut aus und will immer Wasser haben. Anfangs glaubten wir nicht, daß er durchzubringen wäre. Erst sei drei Jahren ist er so kräftig in die Höhe gegangen und hat die großen vollen Blätter bekommen, deren saftiges Grün mit dem rötlichen Holzton der Balken so warm zusammenstimmt.«
Sie trat ein paar Schritte zurück, wie um die Harmonie dieser leuchtenden Farben besser genießen zu können.
»Sie sind Künstlerin, Fräulein?«
»Ich Künstlerin?« sagte sie fast erschrocken. Sie schüttelte den Kopf. Und schweigend nahm sie die Arbeit wieder auf.
Ettingen saß zu entfernt, um sehen zu können, daß ihre Hände zitterten. »Verzeihen Sie meine Frage! Sie kam mir so, weil Ihre letzten Worte mich an die Sprache erinnerten, die ich manchmal von Malern habe reden hören. Und weil mit der erste Eindruck, den dieser entzückende Fleck Erde mit seiner blühenden Schönheit auf mich macht, den Gedanken eingab: das kann nur ein Künstler geschaffen haben!«
Der Ernst ihrer Züge wandelte sich in ein stilles Lächeln. Und so leise, daß Ettingen es kaum noch hören konnte, fragte sie: »Weshalb glauben Sie das?«
»Der wunderbare Baum! Steht er nicht schon ein paar hundert Jahre hier? Und der schöne Bergsee da drunten hat wohl im Laufe der Zeiten schon viele Besucher aus dem Tale heraufgelockt. Mancher von ihnen mag diesen Baum gefunden haben. Und blieb eine Minute stehen, betrachtete den Baum und schüttelte den Kopf und dachte: Merkwürdig, was für sonderbare Bäume wachsen! Aber dann kam einmal ein anderer, keiner mit Alltagsgedanken unter der Stirn, einer mit träumerischer Künstlerseele, die sich von der Natur um so inniger angezogen fühlt, je unbehaglicher ihr der Lärm des Marktes ist. Der sah den Baum. Und da muß er in seiner bilderschauenden Art doch gleich gedacht haben: Wie eine Harfe! Und diesen Gedanken spann er fort: Eine Harfe soll tönen, ich will ihr Stimme geben! Vielleicht war es zuerst nur eine heitere, naive Künstlerlaune, welche die sieben Glocken dort hinaufhängte in die Wipfel. Dann aber, als er hier im Schatten saß, an einem Tag wie heute, als über ihm die Zweige der grünen Harfe rauschten und die Glocken klangen – wieviel schöne, reine Künstlerträume mögen da in seinem Herzen erwacht sein, schnell reifend in der Stille, die ihn umgab, ins Große wachsend beim Anblick der Steinriesen dort oben, beim Anblick dieser herrlichen Natur. Wie selbstverständlich, daß er denken mußte: Hier möchte ich bleiben, hier träumen und schaffen, hier wohnen, nur mir gehören und die Welt vergessen! So baute er sich diese Hütte. Und da gefiel ihm der kahle Grund nicht mehr, auf dem sie stand. Er hatte Augen, die nach Farbe dürsteten, und muß wohl ein Freund der wilden Bergblumen gewesen sein. So begann er den Schmuck dieser Beete zu sammeln...«
»Nein, das kann man nicht so erraten!« unterbrach sie ihn plötzlich. Mit der einen Hand sich an die Hüttenwand stützend, stand sie in der leuchtenden Sonne und sah zu ihm hinüber mit einem Blick, dessen Glanz ihm verriet, daß seine Worte ihr Freude bereitet hatten. »Jemand muß Ihnen das erzählt haben! Draußen in der Leutasch? Oder einer von den Jägern? Die haben meinen Vater gekannt. Sagen Sie mir, wer hat Ihnen das erzählt?«
»Niemand, Fräulein! Das hab ich mir so gedacht, vorhin, als ich da draußen stand und über den Zaun hereinschaute in dieses blühende Idyll. Und wirklich? Ich habe erraten, wie es war?«
»Ja! So war es!« Langsam kam sie einige Schritte näher. Ihre Augen glitten über die Wände der Hütte, über die Blumen hin und hinauf zu den Wipfeln des klingenden Baumes. »So war es! So hat mein Vater den Baum gefunden. So hat er die Hütte gebaut. Aber das mit den Glocken, nein, das haben Sie nicht erraten. Das war keine Spielerei, keine Künstlerlaune. Das war eine Freude, die seine Liebe sich ausdachte – für mich. Ich war damals noch ein Kind. Aber der Baum ist mir heute noch lieber als damals. Wenn er so klingt wie jetzt – das erzählt mir.«
Sie verstummte. Wie schön sie war! Und wieviel rührend Kindliches redete aus der still versunkenen Art, mit der sie regungslos zwischen den blühenden Blumen stand und verträumt hinaufblickte zu den leis klingenden Wipfeln.
Langsam strich sie mit der Hand über die Stirn. Dann nickte sie. »Aber alles andere? Ja! Wie gut Sie das erraten haben! Daß dieser Platz ihm lieb war wie kein anderer auf der Welt – weil es hier so schön ist, so weit von den Menschen. Und wie gerne er hier immer saß und träumte! Das Beste, was er schuf, hat er hier gefunden. Und er war ein Künstler. Wenn das auch nur wenige gewußt haben. Er war ein Künstler.«
Wie sie das sagte! Ein Frommer, in dessen Seele der Gottesglaube eingewachsen ist mit tausend Wurzeln, kann nicht anders sagen: »Ich glaube an Gott, und daß er gut ist und groß!«
Sie hatte sich gebückt und eine der süß duftenden Brunellen gebrochen, die sie wie küssend mit den Lippen streifte.
»Wie gut erst müßten Sie von ihm denken, wenn Sie sehen könnten, was er geschaffen hat. Ich glaube, Sie hätten ihn verstanden. Sein Bestes war seine Liebe zur Natur, und wie er sie kannte, wie er sie zu deuten wußte. Das hätten Sie ihm nachempfunden. Sie lieben die Natur und verstehen sie. Das habe ich Ihnen angesehen, schon neulich, als ich Sie da draußen traf, im Tillfußer Wald. Da hab ich mir gleich gedacht: Der weiß was es da zu sehen und zu hören gibt. Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern, ich bin nur so an Ihnen vorbeigeritten. Aber ich –« Sie lächelte und schob die Blume in ihr Haar. »Ich habe Sie gleich wiedererkannt, als ich Sie heute dort unten sitzen sah, am See – auch wieder an einem Platz, der nicht jedem gefällt, nur einem, der das Schauen liebhat und das stille Vorsichhindenken. Nicht war, es ist schön da drunten? Diese Farben im Wasser! Wenn es manchmal so glitzert auf dem Grund, man weiß nicht, war es ein Widerschein der Sonne oder ein weißes Steinchen, das sich bewegte, oder ein spielender Fisch – da denkt man so mancherlei, oft etwas Törichtes, ganz Unmögliches, aber es ist doch schön! Wer nur das Wirkliche gelten läßt, an der Sehnsucht nach dem Unmöglichen keine Freude findet und nie eine Minute übrig hat, um sie an einen schönen Traum zu verschwenden – wie arm ist ein solcher Mensch in seiner Seele!«
Ettingen nickte nur. Er schien sich anders nicht zu wünschen, als sie immer anzusehen, wie sie so ruhig in der Sonne stand, und ihr immer zu lauschen, wie sie so still und lächelnd vor sich hinplauderte, als spräche sie gar nicht mit ihm, nur mit sich selbst.
»Mir geht es immer so!« plauderte sie weiter. »Wenn ich in einer nachdenklichen Stunde vergessen kann, daß meine Füße auf Stein und Rasen stehen, wenn ich meine Träume lebendig werden sehe, als hätten sie Fleisch und Blut, und wenn ich beinahe körperlich empfinde, daß meine Gedanken mich emporheben über die Erde, dann bin ich immer am glücklichsten und fühle am tiefsten, daß ich lebe.«
Da klang vom Gehänge des nahen Latschenfeldes herauf der helle Jauchzer einer Knabenstimme.
Sie antwortete mit einem Jodelruf und wandte sich lächelnd zu Ettingen: »Da kommt mein kleiner Küchenbote, der für mich sorgt wie der biblische Rabe für den Elias.« Während sie auf das Gartentürchen zuschritt, blickte sie über die sonnigen Berge hin. »Ein Tag ist das heute! Ein Tag!«
Ettingen nickte.
»Er könnte nicht schöner sein!«