Ludwig Ganghofer
Das Schweigen im Walde
Ludwig Ganghofer

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Achtzehntes Kapitel

Einige Stunden früher.

Es dämmerte über dem Tal der Leutasch, und vom Kirchturm tönte der Abendsegen über die stillen Häuser hin und hinaus über die von zartem Nebel behauchten Wiesen. Auf der Straße lag schon die Ruhe des schläfrig gewordenen Tages. Nur ein paar junge Burschen stapften mit ihren qualmenden Pfeifen an den Zäunen entlang, manchmal nach einem Fenster spähend, hinter dem ein Licht brannte.

Da kam ein Jäger hastigen Ganges durch das Dorf herunter. Mazegger. Keuchend ging sein Atem, und in Unruh blickte er über die Straße aus. Sein Schritt verzögerte sich, je näher er dem Hause der Frau Petri kam. Um das Klappen seiner Schuhe verstummen zu machen, trat er in den mit Gras bewachsenen Straßengraben hinunter. Als er den Zaun des Hauses erreichte, das vom Duft seiner Blumen umflossen war, duckte er sich und schlich an der Holunderhecke hin, um eine Lücke zu finden, durch die er in den Garten blicken könnte.

Am Hause waren die Fenster der Wohnstube schon erleuchtet. Man sah durch die hellen Scheiben in den friedlichen Raum mit seinen Bildern und Geräten und sah, wie Frau Petri den Tisch deckte und die Tassen stellte.

Dunkler und dunkler sank die Dämmerung über Haus und Garten. Zwischen den Beeten klang die Stimme Los: »Zwei Kannen noch, dann wird's genug sein.«

Am Brunnen klapperte der Schwengel, das Wasser plätscherte, im Kiese knirschten die Schritte der Magd, und nun ließ sich das leise Brausen des über die Blumen fallenden Sprühregens vernehmen.

Dann war's still im Garten.

Während die Magd das Gerät und die Kannen in der Tenne verwahrte, machte Lo einen Rundgang um die Beete und durch den Obstgarten. In einem Sommerhäuschen, das dicht am Zaun auf einem kleinen Hügel stand, ließ sie sich nieder. Hier konnte sie über die dunklen Wiesen weit hinausblicken bis zur Waldscharte des Geißtals, über dem der Himmel mit seinem letzten Licht noch zwischen den schattenblauen Bergen leuchtete.

Da klang eine gepreßte Stimme über den Zaun: »Guten Abend, Fräulein!«

Lo sah über der gestutzten Holunderhecke das bleiche Gesicht mit den funkelnden Augen. Sie verließ das Sommerhäuschen. »Guten Abend!« sagte sie, wie man einen Fremden grüßt, und ging auf das Haus zu.

Der Pfad führte am Zaun entlang, und so konnte Mazegger über der Hecke draußen gleichen Schritt mit ihr halten.

»Aber eilig haben Sie's heut!« Der Jäger lachte. »Ich bin halt nicht der ander mit'm Krönl im Schnupftuch! Da tät sich's freilich rentieren, daß man stehenbleibt. Da hätt man Zeit eine ganze Nacht lang. Wie draußen beim Sebensee. Gelt, ja?«

Schweigend folgte Lo ihrem Weg.

»Ich komme von Tillfuß. Da sollten Sie doch ein bißl neugierig sein, was los ist bei Ihrem hochgeborenen Courschneider! Könnt sein, daß ich was zu erzählen hätt. Wirklich? Gar nicht neugierig?«

Er wartete auf Antwort. Vergebens.

Nun lachte er wieder, gallig und rauh. »Jetzt kommt er so bald wohl nimmer zum Sebensee! Jetzt hat er keine Zeit mehr – für Sie! Heut hat er Besuch bekommen. Und was für einen! Eine Baronin. Billiger tut er's nicht, wenn's Ernst wird. Ich hab mir allweil gedacht, es gäb nichts Schöneres auf der Welt, als Sie sind. Aber die! Aaah! Was die für ein Lachen hat! Und wie sie ihn frißt mit ihren sündschönen Augen! Da müßt der ägyptische Joseph drüber stolpern. Und Joseph ist der doch keiner! Gelt? Die vornehmen Herren, die halten's gern mit der Abwechslung. Heut Butterbrot und Sebenseeblümln, morgen wieder Salami mit Pfeffer.«

Lo hatte den Pfad verlassen. Quer durch die Wiese schritt sie auf das Haus zu. Was der Jäger ihr nachrief, verstand sie nicht mehr. Nur sein Lachen hörte sie noch. Als sie zur Haustür kam, mußte sie sich an die Mauer stützen. Diese Schwäche währte nicht lang. Ruhigen Schrittes trat sie ins Haus. Lichtschein fiel aus der Küche in den Flur und über die Bilder hin, welche die Mauer bedeckten.

Während Lo zur Stube ging, berührte sie eines der Bilder mit der Hand, als wäre das Trost und Kraft für sie: die Leinwand zu fühlen, auf der ein reiner und schöner Gedanke ihres Vaters Form und Farbe gewonnen.

Nun trat sie in das helle Zimmer, in dem Frau Petri noch mit dem Tisch beschäftigt war.

»Heut kommst du früher als sonst. Bist du draußen schon fertig?«

»Ja, Mutter. Mit allem.«

Beim Klang dieser Stimme blickte Frau Petri betroffen auf. Sie sah das weiße, vom Schmerz berührte Gesicht, die verstörten Augen, und fragte erschrocken: »Kind? Was hast du?«

»Nichts!«

»Das sagst du mir und kannst mich doch nicht ansehen dabei!« Vor Sorge zitterte die Stimme der alten Frau. »Kind?«

»Ich bin erschrocken. Draußen im Garten, dicht vor meinen Füßen, kroch eine Natter über den Weg.«

»Nein! Das hätte mich erschrecken können. Nicht dich! Vor einem Tier zu erschrecken, das nur unschön ist, nicht gefährlich, das ist nicht deine Art. Sag mir, was du hast! Und sieh mich an!«

Ein Lächeln erzwingend, hob Lo die Augen.

»Kind! Ich fühle doch, daß es nur ein Gleichnis war, was du vorhin von der Natter sagtest. Draußen im Garten ist etwas geschehen, was dich kränkte. Das war so abscheulich, daß du es deiner Mutter nicht sagen magst. Ich kann mir's denken! Ein dummer oder böser Mensch wird ein Wort gesprochen haben, das etwas in dir verletzte, was dir lieb und heilig ist.«

»Ja, Mutter! Etwas, an das ich glaube, wie ich an den Vater glaube und an dich!«

»Gelt, ich hab's erraten?« Frau Petri atmete, als läge ihr ein Stein auf der Brust. »Schon die ganze Zeit her – und was mir gestern der Bub erzählte, vom Jagdhaus –, Kind, ich bitt dich, diese Sorge mußt du mir ausreden! Gelt, nein? Es ist nicht so, wie ich fürchte? Wenn ich recht hätte mit meiner Sorge, das wäre ein Unglück für dich und für uns alle! – Kind?«

Lo wollte sprechen und brachte kein Wort über die Lippen. Auf die Holzbank niedersinkend, brach sie in Schluchzen aus.

Schweigend setzte Frau Petri sich an die Seite ihres Kindes, nahm die Weinende in den Arm und streichelte ihr das Haar.

Noch ehe Frau Petri sprechen konnte, hatte Lo ihre Fassung wiedergefunden. Sie trocknete die Augen, und nur noch ein schmerzliches Lächeln irrte um ihren Mund, als sie ruhig sagte: »Mutter! Wir müssen fort von hier.«

»Fort?«

»Ja. Weil ich ihn liebe.«

»Ach Gott!« stammelte die alte Frau. »Was ist über mich schon alles gekommen! Und jetzt auch das noch! Mein Kind muß ich leiden sehen und kann ihm nicht helfen. So ein Unglück!«

»Nein, Mutter!« Lolos Augen leuchteten in stillem Glanz. »Was ich fühle, ist das Herrlichste eines Menschenherzens. Es wird mein Leben erfüllen wie die Sonne einen klaren Tag. Ist Liebe weniger schön und reich, weil sie nicht hoffen darf? Kein Unglück, nein! Was ich fühle, ist Glück. Nur Zeit mußt du mir vergönnen, um mich wiederzufinden, um so stark und mutig zu werden, daß ich ihm ruhig begegnen und verbergen kann, was in mir brennt. Nur deshalb will ich fort. Ein paar Wochen. Ich bitte dich, Mutter, tu mir das zuliebe.«

»Ja, Kind! Alles, was du willst. Und wohin möchtest du?«

»Das war immer eine Sehnsucht von mir: Vaters Heimat kennenzulernen, das Haus zu sehen, in dem er geboren wurde.«

»Ja! Da reisen wir hin.«

»Und dann, Mutter, gehen wir nach München.«

»München?« Vor den Augen der alten Frau erwachte bei diesem Wort das Bild ihrer bittersten Lebensjahre. Wie scheue Abwehr klang es aus ihrer Stimme: »Kind?«

»Das müssen wir, Mutter! Was wir über Vater erfuhren, hat eine Pflicht auf uns gelegt. Die Welt soll die Schätze sehen, die unser Haus umschließt, und soll lieben lernen, was Vater unter diesem Dach geschaffen hat. Deshalb müssen wir nach München.«

»Ich seh es ein. Das sind wir seinem Namen schuldig. Aber – Ach, Lo! Wieder hinein in den alten Kampf und in die neue Sorge! Und es war so friedlich hier! Bei unserem Erinnern und bei seinen Blumen!«

Lo legte den Arm um den Hals der Mutter. »So wird es auch bleiben, immer! Wenn wir heimkehren, werden wir nur reicher sein um eine Freude.«

»Gott soll's geben!« Frau Petri seufzte; ihr Herz wurde nicht leichter. Sie hatte es verlernt, an die Hoffnung zu glauben. Als nach allem Kampf der früheren Jahre die Ruhe gekommen war, hatte sie diesen Frieden nicht recht genießen können, weil sie immer fürchten mußte: er wird nicht dauern. Hatte sie nicht recht gehabt mit dieser Furcht? Noch war die Trauer um ihren Mann nicht still geworden. Und da kam das wieder! Der hoffnungslose Schmerz ihres Kindes! Und was würde dann kommen? Was stand ihr noch alles bevor an Leid und Weh? »Ach ja!« Die Hände fielen ihr schwer in den Schoß. »Wann willst du reisen?«

»Sobald der Bub wieder wohl ist. Und morgen will ich hinausreiten zum See, nur über die Nacht, um da draußen alles in Ordnung zu bringen für den Winter. Auch dürfen wir die Blumen in den heißen Sommerwochen nicht ohne Pflege lassen. Ich will den Sebener Senn ersuchen, daß er die Arbeit übernimmt.«

»Ja, das mußt du tun! Seine Blumen – das war sein letztes Wort – die dürfen nicht leiden.«

Nun schwiegen sie, als wäre alles zu Ende gesprochen.

»Noch eines, Mutter!« Lolos Wangen färbten sich. »Der Fürst –« Ihre Stimme schwankte bei diesem Wort. »Die Freude, die er uns brachte mit dieser Nachricht – das müssen wir ihm danken! Ich meine, wir sollten ihm eins von unseren Bildern schicken. Als Erinnerung an den Vater. Und an alles andere.« Ein mildes Lächeln verschönte ihren Mund. »Meinst du nicht auch?«

»Wenn du willst. Welches meinst du?«

Da rief die Magd in die Stube herein: »Ich bitt, der Gusterl gibt kei' Ruh nimmer: 's Fräuln soll kommen!«

Lo erhob sich, zog die alte Frau zu sich empor und umschlang sie. »Sei ruhig, Mutter! Sorg dich nimmer! Der Vater hat mich erzogen zu seinem starken Kind. Und was ich dir sein kann, das sollst du haben an mir!« Sie verließ die Stube. Erst ordnete sie noch in der Küche die Teeplatte und sagte zu dem Mädchen: »Trag nur alles gleich hinein! Muttl hat schon so lange warten müssen.«

Als sie durch die Schlafstube der Mutter ging, fiel aus dem anstoßenden Zimmer der Lampenschein und erleuchtete eine Bilderwand. Lolos Blick begegnete jener Leinwand mit dem Hermeskopf – mit der weißen Marmorsäule des jugendlichen Gottes, dem eine Natter auf die Schulter kriecht. Ekel und Grauen sprechen aus seinem Gesicht, doch seine Brust ist angewachsen an dem unbeweglichen Stein, und er hat keine Arme, um die giftige Häßlichkeit von sich abzuwehren. » Das soll er haben!« Zitternd, in einem Sturm von Empfindungen, nahm Lo das Bild von der Wand und küßte die Stirn des schönen Gottes.

Da klang die Stimme des Bruders: »Lo? Was machst du da draußen? Komm doch zu mir!«

Sie gab das Bild wieder an die Wand und trat in die kleine Stube.

Das verpflasterte Gesichtchen vorgebeugt, saß Gustl in den Kissen. »Lo, jetzt eben hab ich probiert, ob ich marschieren kann. Es geht schon ganz famos. Morgen darfst du mich aufstehen lassen.«

Sie trat zum Bett. »Morgen? Nein, Bubi, morgen mußt du noch liegenbleiben.«

»Also übermorgen! Darf ich dann auch bald ins Jagdhaus? Er hat mich doch eingeladen. Übrigens, weißt du, ich hab so was wie eine Ahnung. Gib acht, Lo, morgen kommt er.«

Damit der Bruder ihre Erregung nicht sehen möchte, ging sie zum Fenster, das noch offenstand.

Verwundert sah Gustl zu ihr auf. »Aber Lo?«

»Ich will das Fenster schließen, die Nacht wird kühl –«

Ihre Stimme erlosch – draußen über der Hecke sah sie einen Menschen stehen, regungslos in dem trüben Dunkel. Ruhig schloß sie das Fenster und zog die Gardinen vor.

Der auf der Straße draußen lachte leis. Dann schritt er durch das finstere Dorf, dem Geißtal entgegen.

Es ging auf elf Uhr, als Mazegger die Tillfußer Alm erreichte. Zitherklang, Gesang und Lachen tönten aus der Sennhütte. Das Jagdhaus stand noch mit hell erleuchteten Fenstern, nur das Speisezimmer war dunkel. Und im Försterhäuschen wurde just die Lampe ausgeblasen.

Während Mazegger an der Sennhütte vorüberging, warf er einen gleichgültigen Blick in die offene Tür, durch die es herausquoll wie roter Feuerdampf.

Zigarrenrauch und Staub, den die tanzlustigen Paare aufgewirbelt hatten, erfüllten den großen Raum. Ein festes Feuer flackerte auf dem Herd, und über dem dicht besetzten Tisch, in einem Mauerring, brannte eine Kienfackel. Einer der jungen Touristen spielte mit wenig Kunst, aber mit vielem Eifer die Zither, die anderen sangen und tranken, schwatzten und lachten. Nur die Wirtin hielt sich abseits von dem fidelen Spektakel. Mit rotem Gesicht und gerunzelten Brauen stand Burgi neben dem Herd und warf ein Scheit ums andere ins Feuer, als gält es eine Höllenlohe für eine dem Bratspieß verfallene Sünderseele anzuschüren. Sie trat nur zum Tisch, wenn sie ein leer gewordenes Glas wieder zu füllen hatte. Und dann mußte sie in den Keller hinunter, wo das Fäßlein mit dem roten Spezial schon bedenklich hohl klang. Was ihre gallige Laune am meisten zu reizen schien, das war, daß sie den Weg in den Keller besonders häufig für den Praxmaler-Pepperl machen mußte. Der schien den Schwur der Nüchternheit, den er beim Sebensee seinem Jagdherrn geleistet hatte, völlig vergessen zu haben. Zwei Liter hatte er schon hinuntergegossen in seine aufgeregte Seele, und jetzt eben schrie er zum neuntenmal: »He, Sennerin! Noch aber Viertele!«

Abgewandten Gesichtes stellte ihm Burgi den frisch gefüllten Schoppen hin. Während sie zum Herd ging, warf sie einen Wutblick über die Schulter. Nicht auf den Praxmaler-Pepperl. Die Zornglut dieses Blickes galt der kleinen Französin, deren lustiges Lachgezwitscher die Stimmen der anderen übertönte.

Zwischen Pepperl und Mam'zell Fifi hatte sich die ungenierteste Freundschaft im Verlauf einer Stunde so heiß entwickelt wie Dampf aus kochendem Wasser. Als die kleine Französin am Arm des Leibjägers die Sennhütte betreten hatte, war Pepperl mit finster brütenden Augen in einem Winkel gesessen und hatte sich gegen Fifis ersten Annäherungsversuch so unzugänglich verhalten wie ein junges Fohlen, dem man zum erstenmal das Geschirr um den Hals legen will. Aber war des die Wirkung des Weines, den er als reichlichen Seelentrost in sich hineingoß, oder war's ein spöttisches Lächeln der Sennerin, ein bissiges Wort, das Burgi einem der Touristen über die Französin gerade so laut noch zuflüsterte, daß Pepperl es hören mußte – irgend etwas hatte unter seinen Kreuzerschneckerln plötzlich einen psychologischen Wettersturz hervorgerufen. Aus einem griesgrämigen Leimsieder hatte er sich in einen krakeelenden Don Juan verwandelt, dessen Schmeicheleien die kleine Französin in um so größere Begeisterung versetzten, je derber sie ausfielen. Dieser vrai tyrolien, dieser type de race gefiel ihr immer besser mit jeder Minute. Sie ließ es, um ihn in Feuer zu bringen, an Aufmunterung nicht fehlen. Und Pepperl war nicht dumm. Wenn sie ihm einen kleinen Finger reichte, nahm er gleich die ganze Hand, zum Gaudium der Französin und der ganzen lustigen Gesellschaft, die Sennerin ausgenommen. An diesem »Flirt« – wie Jean der Verschnürte die koketten Manöver Fifis mit Weltbildung bezeichnete – beteiligten sich alle Mitglieder der Tafelrunde und spielten mit wie die Zuschauer bei einer Hanswurstiade. Da Fifi kaum ein paar deutsche Worte und Pepperl kein Französisch verstand, mußte bald der Leibjäger, bald einer der jungen Touristen den Dolmetsch abgeben, wobei die drastischen Komplimente, die Pepperl der Französin machte, mit lautem Hallo bei der Übersetzung noch übertrieben wurden. Als Pepperl in seiner schwelenden Weinlaune beteuerte: »Die gfallt mir, die mag ich!« – begnügte sich Fifi nicht mit der Übersetzung.

»Moi, je veux, qu'il me dise cela en français!«

»Was hat's gesagt?« fragte Pepperl.

Einer der Touristen übersetzte: »Sie will, du sollst ihr auf französisch sagen, daß sie dir gefällt!«

»So?« Pepperl studierte eine Weile. »Wie tät's denn heißen auf franzeesisch, wann ich ebba sagen möcht: Du bist sauber, dich hab ich gern?«

Unter Gelächter sagte man's dem Praxmaler-Pepperl ein paarmal vor: »Vous êtes très belle! Je vous aime!«

Und Pepperl plapperte: »Wussed treppel, schö wussem!«

Fifi klatschte vor Wonne in die Hände und zwitscherte ihr höchstes Lachen. Die Bewunderung, die sie für diesen superbe colosse empfand, fing an ins bedenkliche zu wachsen. Alles an ihm gefiel ihr, aber ihr ganz besonderes Entzücken erregten seine Kreuzerschneckerln. »Regardez, Jean, quels jolis cheveux il a! Ils ont l'air de s'amuser beaucoupSehen Sie doch, Jean, was er für hübsche Haare hat! Die sehen aus, als wären sie riesig vergnügt. Als müßte sie dem Wohlgefallen, das sie an diesen »vergnügten« Haaren fand, noch deutlicher Ausdruck geben, sprang sie auf, faßte den Praxmaler-Pepperl über den Tisch hinüber am Kopf und wühlte mit ihren winzigen Spinnenhänden in diesem Wust von blonden Ringeln wie ein Geiziger in seinem Gold.

Alles lachte. Nur drüben am Herd empörte sich die Sennerin. »So an ausgschamts Frauenzimmer!« Ein Scheit flog ins Feuer, daß die Funken aufstoben.

»Comme il me plait! Ah! Ah! Qu'il me plait bien!« zwitscherte Fifi. »Mais! Mais! AttentionDer gefällt mir! Ach, der gefällt mir! Aber! Achtung jetzt! Gestikulierend suchte sie das Gelächter der anderen zu beschwichtigen. »Je veux lui dire ça en allemand! Comment cela se dit-il en allemand! Comment cela se dit-il en tyrolien: tu me plais, tu es un joli garçon, toi?«

»Ruhe! Jetzt will sie deutsch mit ihm reden!« verkündete der Dolmetsch. »Sie will wissen, wie das auf tirolerisch heißt: du bist ein hübscher Junge, ganz nach meinem Geschmack! – Das muß ihr echt gesagt werden, ganz echt!« Unter fideler Spannung der Tafelrunde sprach ihr einer der Touristen im breitesten Tirolerdialekt den Satz vor: »Du gfollscht ma, bischt a liaba Bua!« Fifi versuchte die bleischweren Laute nachzuschwatzen. Was auf ihrem leichten Zünglein daraus wurde, hörte sich so drollig an, daß die ganze Gesellschaft in Gelächter ausbrach. Sogar die Sennerin lachte; aber das war ein Lachen, so grell wie der Klang einer springenden Saite.

Den Praxmaler-Pepperl schien diese Liebeserklärung der Französin – oder etwas anderes – um den letzten Rest seiner Zurückhaltung gebracht zu haben. Er stieß einen gellenden Jauchzer aus, griff mit beiden Armen zu, und wie man einen Knödel aus der Suppe sticht, hob er das kleine Persönchen über den Tisch herüber an seine Saite. »So, jetzt spielen S' ein' auf, an rassigen!« schrie er dem Zitherspieler zu. »Jetzt wird einer tanzt mit meiner Franzeesin! A gsunder!« Wieder jauchzte er und schwang sein Hütl dazu.

Mit schwirrenden Klängen fiel die Zither ein. Zwei der jungen Touristen faßten die beiden als Dirndl kostümierten Mädchen um die Hüfte, und Jean, der nicht leer ausgehen wollte, machte den Versuch, die Sennerin zum Tanz zu holen. Wortlos drehte ihm Burgi den Rücken, während Pepperl dem Verschnürten mit höhnischer Freude zurief: »Sie! Die lassen S' in Ruh! Die is der Rühr-mi-net-an! Die hat an Heimlichen. Wann s' an andern anschaut, wird er wild, der Heimliche, und sie därf ihm die schecketen Jagdküh nimmer melchen. Juhuuu!« Das war ein Jauchzer, dessen scharfer Klang wie ein Dolch in alle Ohren fuhr. Mit einem Luftsprung wie ein Tollgewordener trag Pepperl an der Hand seiner »Franzeesin« zum Schuhplattler an.

Burgi stand bleich am Herd und starrte ins Feuer. Auch Fifis Gezwitscher war verstummt, und einen Augenblick schien es, als bekäme sie Angst vor diesem superbe colosse, der ihre Hand umklammert hielt wie mit eisernem Schraubstock und das kleine Persönchen im Kreise wirbelte, daß die Röcke flogen wie ein sausendes Rad. Dann lachte sie wieder, blitzte ihn mit ihren schwarzen Augen an, und flink hatte sie es den beiden anderen Mädchen abgeguckt, wie sie sich, mit den Händen die Röcke niederhaltend, vor ihrem Tänzer drehen, wiegen und wenden mußte, um den Sinn dieses urwüchsigen Naturtanzes zum Ausdruck zu bringen: das Entfliehen und Sichhaschenlassen, das Versagen und Gewähren einer Gunst, um die der Tänzer wirbt.

Mit einem Jauchzer, daß die Stubendecke dröhnte, umkreiste Pepperl die sich wirbelnde Tänzerin und begann ein Schlagen und Springen, ein Blasen und »Schnackeln« wie ein liebes- und frühlingstrunkener Spielhahn. Er »plattelte«, als wollte er seine Schenkel und Schuhe zu Scherben klopfen, schlug Räder und Purzelbäume, schnellte im Aufsprung die Fußspitze bis zur Stubendecke und schwang, als die Zither schwieg, mit gellendem Juhschrei seine Tänzerin durch die Luft wie eine Feder.

Die beiden anderen Paare, auch Jean und der Zitherspieler, schrien Bravo und applaudierten. Und Fifi, als sie mit den zappelnden Füßen wo zu Boden kam, sah glühend und staunend an ihrem Tänzer hinauf und pisperte mit ihrem atemlosen Stimmchen: »Bigre, tu as de la race, toi Mit beiden Händen haschte sie ihn am Schnurrbart, zog ihn zu sich nieder, hob sich auf die Fußspitzen und drückte ihm einen Kuß auf den Mund. Dann huschte sie kichernd zur Stube hinaus.

Die Touristen machten dazu einen fidelen Spektakel, während Jean der kleinen Französin mit der Bemerkung folgte: »Elle est folle, vraiment Er fand sie draußen, wie sie vor Lachen kaum Atem und Wort hatte. Und als sie sich in seinen Arm einhängte, um sich zum Jagdhaus hinaufführen zu lassen, meinte sie: »C'était la vraie bêtise de campagne, ça

Auch Pepperl lachte. Aber es schien, als wäre ihm dabei nicht besonders wohl zumute. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Er mußte sich abkühlen und schrie der Wirtin zum »Verirrten Lampl« mit heiserer Stimme zu: »He, Sennerin, noch a Viertele!«

Wortlos nahm Burgi das Glas vom Tisch und ging in den Keller. Schwer seufzend öffnete sie den Hahn am Faß, und während das dünne rote Brünnlein niederplätscherte in das Glas, tröpfelten ihr die dicken Zähren über die Wangen – und eine dieser Tränen fiel in den Rotwein. Wie in Wut über sich selbst, fuhr sie mit der Faust über die Augen und biß die Zähne übereinander.

Als sie hinaufkam in die Stube, packte der Zitherspieler sein Instrument in den Rucksack, und die jungen Leute, denen der Wein in den Köpfen wirbelte, schickten sich an, ihr Nachtlager auf dem Heu zu suchen. Unter Späßen, die der späten Stunde entsprachen, sagten sie der schweigsamen Sennerin gute Nacht, stiegen mit Schwatzen und Gekicher über eine Leiter zum Heuboden hinauf und ließen an der Stubendecke die Klappe hinter sich zufallen.

Burgi und Pepperl waren allein.

Über ihren Köpfen pumperte die Decke, und man hörte gedämpft die lachenden Stimmen der Heugäste, die es mit Schlaf und Ruhe nicht eilig hatten.

Unter schwülem Schweigen räumte Burgi den Tisch ab, so daß nur das letzte »Viertele« des Praxmaler-Pepperl noch stehenblieb. Der suchte mit zitternden Händen aus seinem schweinsledernen Ziehbeutel das Geld für die zehn Schoppen heraus und legte die Münzen schön geordnet in Reih und Glied auf den Tisch. »So! Das is mei' Schuldigkeit!« Er packte das Glas und stürzte den Wein hinunter – das ganze »Viertele« mitsamt der bitteren Träne war nur ein einziger Schluck. Dann stülpte er den Hut über die Kreuzerschneckerln, blies die heißen Backen auf, und ohne die Sennerin eines Blickes zu würdigen, wollte er zur Tür.

Wie die strafende Gerechtigkeit den Verbrecher faßt, mit so jähem Sprung verlegte ihm Burgi den Weg.

Pepperl wurde bleich. Während die zwei so voreinander standen, sich messend mit finsterem Blick, schienen sie alle beide zu ahnen, daß es jetzt ein Unglück geben würde.

Vor Aufregung klang die Stimme des Mädels ganz verändert. »Wart a bißl, du Moralischer, du! Mit dir muß ich was reden!«

»Du? Mit mir?«

»Ja! Ich! Mit dir!«

»Haha!« Pepperl versuchte von oben herab einen Ton anzuschlagen, der ihm nicht gelang. »Wir zwei haben ausgredt mitanand! Und wann schon meinst, du mußt mir was sagen, so such dir an anders Stündl aus! Heut weiß ich mir was Bessers.« Stolz machte er einen Schritt zur Tür.

Burgi war flinker und stieß den Riegel vor. »So! Jetzt probier, ob d' aussi kommst!«

Das ging dem Praxmaler-Pepperl über die geduldige Leber. Er bekam ein zornrotes Gesicht. »Du! Solchene Sachen verbitt ich mir!« Auch fand er gleich für diesen Gewaltstreich das richtige Advokatenwort: »Die perseenliche Freiheit laß ich mir net beschränken!«

»Ghören tät's dir, daß man dich einsperrt!« fiel Burgi mit heißer Erregung ein. »So einer, wie du bist, sollt net freilings umanandlaufen därfen. Dir ghöret a Halsbandel, dir!«

»Natürlich, mit eim Schnürl dran! Daß du mich führen könntst! Aber gelt, mich laß in Ruh! Führ du dein Schwarzlackierten spazieren! Den mit die seidenen Höserln!«

»Du! Du!« Sie ballte die Fäuste und brachte nur mühsam die Worte heraus. »Über den sagst mir nix mehr! Du!«

»Dir sag ich noch viel!«

»Meinetwegen, ja! Aber gelt, mit deiner Tugendhäftigkeit kannst mich auslassen, du! Und mit die Gomorringer! Wann die ausrucken, bist du als Korporal dabei!«

»Leicht awanzier ich gar noch zum Leutnant!«

»Da hast recht! Du bringst es noch weit! Heut hab ich dich ausstudiert, du scheinheiligs Brüderl, du! Denn so, wie du heut, hat sich net bald einer aufgführt!«

»Ich hab halt was glernt von dir!« erklärte Pepperl höhnisch. »Schlechte Beispieler verderben gute Sitten!«

»Verderben? So? Verderben?« keuchte Burgi, als hätte ihr dieses Argument einen Stoß ins Leben versetzt. »An dir is viel zum Verderben? Meinst? Du bist ja in der besten Schul, bei der! So eine, freilich, die wachst net bei uns. Die muß extra aus Frankreich kommen! Wie's die versteht! Ah! Pfui Teufi! Net amal Deutsch kann s', die!«

»Ihr Bussel hab ich ganz gut verstanden.«

»So? Hast es verstanden?« höhnte Burgi, während ihr die Tränen in die Augen sprangen. » Gut verstanden? So?«

»Ja! Und sie haben was Extrigs, die franzeesischen Busserln. Da muß ich schauen heut, daß ich noch eins derwisch. Drum geh von der Tür weg, sag ich!«

»So? Tätst aussi mögen?« Sie machte die Ellbogen breit, um den Riegel zu decken. »Fensterln? Bei der? Dös tät dir halt taugen, dir? Gelt?«

»Und wie! Es taugt ja dir auch net schlecht, wann der ander kommt: Main scheenes Gindd!«

»Und du: Schö wussem, schö wussem!«

»Schö wussem, ja!« schrie Pepperl, »schö wussem! Noch tausendmal sag ich's ihr heut!« Er machte einen drohenden Schritt. »Von der Tür weg!«

»Ich mag net! Na!« Und während ihre Augen immer größer wurden, stemmte sie sich mit dem Rücken gegen die Bretter.

»Gehst weg oder net?«

Sie starrte ihn an, regungslos, mit einem Gesicht, das wie versteinert schien.

Je bleicher sie wurde, desto dunkler stieg dem Praxmaler-Pepperl das Blut unter die Kreuzerschneckerln. »Gehst weg oder net? Ich frag zum letztenmal.«

Sie rührte sich nicht.

Da riß ihm die Geduld. Er machte einen Sprung zur Tür und versuchte Burgi mit der Schulter beiseitezuschieben. Sie klammerte sich an den Riegel, als hinge ihre Seligkeit an diesem Stücklein Holz. Pepperl schob und drückte, bis er den Riegel zur Hälfte frei bekam. Nun riß er ihn auf, und schon klaffte die Tür um einen handbreiten Spalt. Als gält es jetzt einen Kampf auf Leben und Tod, so warf sich Burgi dem Feind entgegen, packte ihn mit der einen Hand an der Brust, mit der anderen an der Kehle und versuchte ihn mit verzweifelter Kraft von der Tür wegzureißen. Und wirklich, Pepperl war von diesem jähen Überfall so völlig überrascht, daß er schon bis in die Mitte der Stube gestoßen war, bevor er noch recht an Widerstand denken konnte. Jetzt erwachte die Wut in ihm. Mit Zucken und Zerren versuchte er sich frei zu machen und wurde grob. Doch Burgi hielt ihn mit den Armen umklammert, ihre letzte Kraft erschöpfend, und ließ nicht los. Da begannen sie ein Ringen, wortlos und keuchend. Bei diesem Ringen krümmten und wanden sie sich, Leib an Leib gewachsen, als wären sie nur ein einziger Körper. Dann plötzlich, wie von einem Zauber gelähmt, standen sie regungslos, alle beide. Sie hielten einander mit den Armen noch umschlungen wie im Ringen. Aber sie sahen sich an, erschrocken und bleich, Aug in Auge. Was sie sagen wollten, wurde ein Lallen – und eines schloß dem anderen die Lippen mit dürstendem Kuß.

Die Stubendecke pumperte über ihren Köpfen, und eine Lachsalve nach der anderen prasselte dort oben im Heu.

Die beiden hörten es nicht. Sie waren auf die Herdbank niedergesunken, hielten sich umklammert und wurden nicht satt von ihren Küssen.

Ein schwüles Aufatmen. »Pepperl –«

»Was, Schatzl?«

»Neulich hat er mich busseln wollen. Da hab ich ihm eine runterliniert.«

»Geh? Is wahr?« Dieses Bekenntnis rührte ihr; sie hätte ihm ihre Liebe nicht besser beweisen können als durch das »Zähntweh« des Kammerdieners. »So a guts Madl, wie du bist! So was gibt's nimmer auf der Welt! Und dös einschichtig Busserl von der andern? Gelt, dös tust mir net verübeln?«

»Aber gwiß net! Wir müssen froh sein, daß 's bloß an einzigs war! Und sie hat's ja dir geben. Da kannst ja du nix dafür.«

Dankbar zog er sie auf seinen Schoß, und nun waren sie wieder schweigsam.

Auf dem Heuboden schien der übermütigen Gesellschaft allmählich der Schlaf zu kommen. Nur ein paarmal hörte man noch ein leises Gekicher.

Die beiden auf der Holzbank rührten sich nicht – sie seufzten nur manchmal, heiß und tief.

Kleiner und kleiner wurde das Feuer auf dem Herd. Bevor es in Glut versank, belebte sich knisternd noch eine letzte Flamme und leuchtete rot.

Die Kienfackel an der Wand war schon erloschen; es glostete nur der Stumpf noch ein bißchen, und stille Funken, gleich winzigen Sternchen, fielen von ihm zu Boden.


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